BGH: Nichtberücksichtigung erheblichen Beweisangebots

13.12.2023
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1.   Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

2.   Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten.

BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Problemstellung

Wieder einmal musste sich der VI. Zivilsenat mit der Frage befassen, ob ein Gericht einen Beweisantrag ablehnen darf, weil es dem unter Beweis gestellten Vorbringen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger begehrt von den Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz im Zusammenhang mit der Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt. Die Beklagte zu 1 ist Trägerin des Klinikums; die Beklagte zu 2 dort angestellte Hebamme, die die Mutter des Klägers vor dessen Geburt betreut hat. Die Mutter des Klägers, die sich in der 40. Schwangerschaftswoche befand, traf um 2.55 Uhr im Klinikum der Beklagten zu 1 ein. Sie klagte weder über Wehen noch Schmerzen, äußerte aber die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Mutter zum Aufnahmezeitpunkt gegenüber der Beklagten zu 2 sind streitig. Um 2.57 Uhr legte die beklagte Hebamme der Mutter ein CTG-Gerät an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor. Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle und nach vergeblichen Weckversuchen rief die Hebamme um 3.15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3.18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Mutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine "Blutung > Regelstärke". Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3.26 Uhr den Alarm für eine Notsectio aus, um 3.34 Uhr wurde der Kläger entbunden. Er litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde der Kläger in eine Universitätsklinik verlegt. Der Umfang seiner Gesundheitsschäden ist streitig. Der Kläger hat geltend gemacht, beim Eintreffen im Klinikum habe seine Mutter auf starke Blutungen hingewiesen und auch darauf, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Aufgrund dieser Mitteilungen habe von einem geburtshilflichen Notfall ausgegangen werden müssen. Die Beklagten haben vorgetragen, die Mutter habe gegenüber der Beklagten zu 2 von Blutungen nichts berichtet. Das Anlegen des CTG-Gerätes sei als Erstmaßnahme zur Sicherung der Vitalität des Kindes richtig gewesen. Typische Leitsymptome einer vorzeitigen Plazentaablösung seien nicht vorhanden gewesen. Eine vaginale Untersuchung sei nicht vorrangig gewesen. Selbst wenn die Blutungen bei der Mutter bereits zu Hause eingesetzt hätten, hätte sich kein anderer Verlauf ergeben.  

Das Landgericht hat die Klage mangels Nachweises eines Behandlungsfehlers der Beklagten abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 300.000 € verurteilt und ihre Verpflichtung zum Ersatz sämtlichen weiteren materiellen und immateriellen Schadens festgestellt. Die Schadensersatzverpflichtung beruhe auf einem behandlungsfehlerhaften Vorgehen der Beklagten zu 2 bei der Betreuung der Mutter des Klägers. Nach Anhörung der Eltern und der Beklagten zu 2 sei der Senat überzeugt, dass die Eltern des Klägers bei Aufnahme der Mutter im Kreißsaal der Beklagten zu 2 über zu Hause einsetzende Blutungen berichtet hätten (OLG Rostock, Urteil vom 5. November 2021 – 5 U 119/13).      

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Beklagten rügen zu Recht, dass das Berufungsgericht die von ihnen benannten Zeugen Dr. G., Dr. F. und Dr. K. nicht vernommen und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nach Anhörung lediglich der Eltern und der Beklagten zu 2 aufgrund der Angaben der Eltern zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Mutter des Klägers der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme über Blutungen berichtet habe. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. So liegt es im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht bei seiner Annahme, die Eltern des Klägers hätten der Beklagten zu 2 bereits bei der Aufnahme im Kreißsaal über zu Hause einsetzende Blutungen der Mutter berichtet, beweisbewehrtes Sachvorbringen der Beklagten übergangen hat und einem erheblichen Beweisangebot nicht nachgegangen ist. Die Beklagten haben in den Instanzen vorgetragen, dass die Mutter gegenüber der Beklagten zu 2 nichts über eine Blutung berichtet habe, sondern erstmals bei Eintreffen der Zeugin Dr. G. über das Auftreten einer vaginalen Blutung gesprochen habe, so wie es in dem vorgelegten und unmittelbar nach der Sectio erstellten Gedächtnisprotokoll der Zeugen Dres. G., F. und K. und der Beklagten zu 2 festgehalten worden sei. Der nach der Sectio nochmals zur anamnestischen Situation befragte Vater habe erst dann zum ersten Mal erwähnt, dass die Kindsmutter bereits zu Hause eine vaginale Blutung gehabt habe. Hierzu hätten die Beklagten schon in ihrer Klagerwiderung Beweis durch Benennung der Zeuginnen Dres G., F. und K. angetreten und im Berufungsverfahren an die unerledigten Beweisantritte erinnert. Dieser Beweisantritt ist weder unzulässig noch fehlt dem Beweisangebot die Eignung zum Beweismittel. Das Berufungsgericht hat zur Frage der Mitteilung häuslicher Blutungen gegenüber der Beklagten zu 2 dennoch lediglich die Eltern des Klägers und die Beklagte zu 2 angehört.    

Der Antritt eines Zeugenbeweises erfordert - außer bei inneren Tatsachen - grundsätzlich keine Angaben dazu, wie der Zeuge die unter Beweis gestellte Tatsache erfahren haben soll. Ein Beweisantrag ist nur unter sehr engen Voraussetzungen als rechtsmissbräuchlich und daher als unzulässig zu bewerten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Partei ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufstellt; bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. Denn eine Partei ist in einem Zivilprozess häufig darauf angewiesen, Tatsachen zu behaupten, über die sie zwar keine genauen Kenntnisse besitzt, die sie nach Lage der Dinge aber für wahrscheinlich hält. Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten. Darüber hinaus scheidet die Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet aus, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt. Eine Begründung für einen solchen Ausnahmefall kann den Gründen des Berufungsurteils nicht entnommen werden. Das Berufungsgericht hat dazu nur ausgeführt, dass es die Angaben der Eltern für glaubhaft halte. Da bei der vaginalen Untersuchung der Mutter durch die Ärztin eine Blutung > Regelstärke festgestellt worden sei, sei es für den Senat nachvollziehbar, dass die Eltern, die wegen dieser Blutung die Klinik aufgesucht hätten, gegenüber der Beklagten zu 2 nicht nur den Verdacht eines Blasensprungs geäußert hätten, sondern ihr auch über die Blutung berichtet hätten. Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Eltern des Klägers begründen könnten, seien nicht ersichtlich und hätten auch die Beklagten nicht aufgezeigt. Es spreche auch sonst nichts dafür, dass die Eltern des Klägers die vorhandene Blutung erst der später herbeigerufenen Ärztin mitgeteilt hätten. Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Die Begründung eines Befunderhebungsfehlers der Beklagten zu 2 durch das Berufungsgericht steht und fällt mit der Annahme, dass der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme eine häusliche Blutung der Mutter mitgeteilt worden ist, die Veranlassung gegeben hätte, deren Vorlage zur Prüfung und Feststellung des Umfangs der Blutung zu kontrollieren.

Kontext der Entscheidung

Im Interesse der Wahrung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG darf das Gericht keine überspannten Anforderungen an die Darlegung stellen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung aller Zivilsenate des BGH, dass die offenkundig unrichtige Nichtberücksichtigung eines Bestreitens wegen mangelnder Substantiierung Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (BGH, Beschluss vom 28. Juli 2020 – VI ZR 300/18 –, mwN.) Vermag sich eine Partei an ein Geschehen nicht zu erinnern, kann sie dazu gleichwohl eine ihr günstige Behauptung unter Zeugenbeweis stellen, wenn sie hinreichende Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass der Zeuge das notwendige Wissen hat. Ob und inwieweit der Zeuge in der Lage ist, sich zu erinnern, ist erst durch die Vernehmung des Zeugen und die daran anschließende Würdigung seiner Aussage zu klären. Der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung der Partei ist ohne Bedeutung. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, muss das Gericht in die Beweisaufnahme eintreten und dabei ggf. die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen unterbreiten. Die Ablehnung eines für eine beweiserhebliche Tatsache angetretenen Zeugenbeweises ist nur dann zulässig, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann, oder wenn sie zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet, aber aufs Geratewohl gemacht, gleichsam „ins Blaue hinein“ aufgestellt, mit anderen Worten, aus der Luft gegriffen sind und sich deshalb als Rechtsmissbrauch darstellen (BGH, Beschl. v. 01.06.2005 - XII ZR 275/02 Rn. 7). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält (BGH, Urt. v. 08.05.2012 - XI ZR 262/10 Rn. 40). Die Zurückweisung einer beantragten Zeugenvernehmung wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass diese Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann; weder die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache noch die Unwahrscheinlichkeit der Wahrnehmung der Tatsache durch den benannten Zeugen berechtigen den Tatrichter schon dazu, von der Beweisaufnahme abzusehen (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2018 – XII ZR 99/17). Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Hiervon ist unter anderem dann auszugehen, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots auf einer vorweggenommenen Beweiswürdigung beruht. Eine unzulässige Beweisantizipation liegt vor, wenn der von einer Partei angebotene Beweis nicht erhoben wird, weil das Gericht dem unter Beweis gestellten Vorbringen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst (BGH, Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20 –, Rn. 10, mwN.).  

Auswirkungen für die Praxis

Besondere Anforderungen stellt die Rechtsprechung an den Vortrag der beweisbelasteten Partei in der Berufungsinstanz, wenn das Gericht verfahrensrechtswidrig eine Beweisaufnahme ablehnt. Hält das Berufungsgericht den Vortrag der beweisbelasteten Partei für „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt und lehnt es deshalb die beantragte Beweiserhebung als Ausforschungsbeweis ab, muss die betroffene Partei das Gericht auf von ihm bislang nicht beachteten höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätze zur Substantiierung von Beweisbehauptungen hinweisen. Unterlässt die betroffene Partei diese „Aufklärung“ des Gerichts, kommt eine Zulassung der Revision wegen des dem Berufungsgericht unterlaufenen Gehörsverstoßes nicht in Betracht, wenn es die Partei versäumt hat, im Rahmen der ihr eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken. Eine Partei ist in der Revisionsinstanz dann wegen des allgemeinen Grundsatzes der Subsidiarität daran gehindert, die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung geltend zu machen (BGH, Beschl. v. 28.01.2020 - VIII ZR 57/19; kritisch dazu: L. Jaeger, jM 2020, 280).

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