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30.4.2024
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BGH: Zu spät ist zu spät (Anschlussberufung)

1. Weder Verfahrensfehler in erster Instanz noch die Wahrung von Verfahrensgrundrechten eröffnen die Möglichkeit zur Einlegung einer Anschlussberufung nach Ablauf der Anschlussberufungsfrist gemäß § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO.

2. Die Umstellung von einem Grenzscheidungsantrag (§ 920 BGB) auf einen Grenzfeststellungsantrag stellt keine Klageerweiterung (§ 264 Nr. 2 ZPO) dar, wenn der Kläger seinen Anträgen jeweils denselben Grenzverlauf zugrunde legt. Für eine solche Änderung des Klageantrags in der Berufungsinstanz bedarf es weder der Einlegung einer Anschlussberufung nach § 524 ZPO noch der Einhaltung der Voraussetzungen des § 533 ZPO.

BGH, Urteil vom 23. Februar 2024 – V ZR 111/23

1. Problemstellung

Der V. Zivilsenat hatte die bisher von ihm offengelassene Frage (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2007 – V ZR 210/06 –, Rn. 27) zu entscheiden, ob die Zulassung einer verspäteten Anschlussberufung zur Wahrung des Verfahrensgrundrechts nach Art. 103 Abs. 1 GG dann geboten sein kann, wenn nach dem bisherigen Prozessverlauf bis zum Ablauf der Frist für die Berufungserwiderung auch ein kundiger und gewissenhafter Berufungsbeklagter nicht damit rechnen konnte, dass das ihm günstige erstinstanzliche Urteil keinen Bestand haben wird und er den Verlust des Rechtsstreits nur durch eine Anschlussberufung vermeiden kann.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Parteien sind Eigentümer mehrerer aneinandergrenzender und von ihnen jeweils bewirtschafteter Grundstücke, deren Grenzen nicht durch verbindliche Grenzzeichen markiert sind. Im Jahr 2018 führte das Vermessungsamt eine Vermessung der Grenzverläufe durch. Die ermittelten Grenzpunkte werden von den Beklagten nicht anerkannt, weil sie von den Bewirtschaftungsgrenzen abweichen. Mit der Klage hat der Kläger erstinstanzlich zunächst die Feststellung des Grenzverlaufs entsprechend den Feststellungen des Vermessungsamtes beantragt. Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Erholung eines Gutachtens durch eine Vermessungssachverständige. Auf den Hinweis des Landgerichts, dass sich auf Grundlage des Sachverständigengutachtens kein exakter Grenzverlauf feststellen lasse und daher die Grenzscheidung (§ 920 BGB) beantragt werden müsse, hat der Kläger seine Klage geändert. Dem zuletzt gestellten Antrag auf Grenzscheidung entlang der im Sachverständigengutachten festgestellten Grenzpunkte hat das Landgericht stattgegeben. Hiergegen haben die Beklagten Berufung eingelegt. Nach Ablauf der Berufungserwiderungsfrist hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass der Hinweis des Landgerichts nicht zutreffend gewesen sei und das Klageziel nur mit einer Grenzfeststellungsklage (Feststellung des Eigentums an dem Grundstück in näher bezeichneten Grenzen) erreicht werden könne. Daraufhin hat der Kläger erneut seinen ursprünglichen Klageantrag auf Feststellung des Grenzverlaufs entsprechend den Ermittlungen der Sachverständigen gestellt. Das Berufungsgericht hat unter Änderung des Tenors des landgerichtlichen Urteils nach Maßgabe dieses Klageantrags die Berufung zurückgewiesen (OLG Nürnberg, Urteil vom 9. Mai 2023 – 6 U 1035/22). Es ging davon aus, dass in der Berufungsinstanz eine Klageänderung erklärt worden sei. Zwar sei die Berufungserwiderungsfrist, bis zu deren Ablauf der Kläger Anschlussberufung hätte einlegen können, zum Zeitpunkt der Klageänderung bereits abgelaufen gewesen. Eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist in direkter oder analoger Anwendung der §§ 233 ff. ZPO komme nicht in Betracht. Die Klageänderung sei aber wegen des Verstoßes gegen die Prozessleitungspflicht aus § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO durch das Landgericht nach § 533 ZPO zulässig. Der Verstoß liege darin, dass der Kläger seinen ursprünglich gestellten Grenzfeststellungsantrag erst auf den Hinweis des Landgerichts in einen Grenzscheidungsantrag abgeändert, diesen auf Bitten des Landgerichts nicht als Hilfsantrag aufrechterhalten und erst auf den Hinweis des Berufungsgerichts wieder gestellt habe. Im Übrigen sei die Zulassung der mit dem Klageänderungsschriftsatz konkludent eingelegten Anschlussberufung zur Wahrung des Verfahrensgrundrechts nach Art. 103 Abs. 1 GG geboten. Dem Kläger könne nicht vorgeworfen werden, dass er nicht entgegen dem Hinweis des Landgerichts hilfsweise an seinem Grenzfeststellungsantrag festgehalten oder fristgerecht Anschlussberufung eingelegt habe. Dem kundigen, anwaltlich vertretenen und gewissenhaften Rechtsuchenden könne nicht abverlangt werden, das Recht besser zu kennen als das Gericht. Zudem müsse er das mit einem Hilfsantrag verbundene Kostenrisiko nicht eingehen. Der Feststellungsantrag sei begründet. Der Kläger habe den Grenzverlauf durch das Sachverständigengutachten bewiesen.

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Allerdings rügt die Revision zu Recht, dass ausgehend vom prozessualen Standpunkt des Berufungsgerichts der in der Berufungsinstanz geänderte Klageantrag hätte abgewiesen werden müssen. Wäre für die Änderung des Klageantrags eine Anschlussberufung erforderlich gewesen, wäre diese wegen Versäumung der Anschlussberufungsfrist unzulässig gewesen. Die Berufungserwiderungsfrist lief bis zum 28. Juli 2022; der den geänderten Klageantrag enthaltende Schriftsatz ist am 19. Oktober 2022 bei Gericht eingegangen. Richtig ist weiter, dass eine Wiedereinsetzung in die Anschlussberufungsfrist in direkter oder analoger Anwendung der §§ 233 ff. ZPO von vornherein nicht in Betracht kommt. Selbst wenn der den Klageantrag ändernde Schriftsatz vom 19. Oktober 2022 als konkludent eingelegte Anschlussberufung verbunden mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auszulegen sein sollte, wäre eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Einlegung der Anschlussberufung nicht möglich.

Rechtsfehlerhaft sind aber beide Begründungen, mit denen das Berufungsgericht die nach seiner Ansicht erklärte Klageänderung trotz Ablaufs der Anschlussberufungsfrist (§ 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO) als zulässig erachtet. Weder Verfahrensfehler in erster Instanz noch die Wahrung von Verfahrensgrundrechten eröffnen die Möglichkeit zur Einlegung einer Anschlussberufung nach Ablauf der Anschlussberufungsfrist. Selbst dann, wenn das Landgericht gegen die Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO verstoßen hätte, was auf der insoweit maßgeblichen Grundlage seiner materiell-rechtlichen Würdigung nicht der Fall war, so ergäbe sich hieraus kein Grund, die Wahrung der Anschlussberufungsfrist als entbehrlich anzusehen. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ergibt sich auch nicht unmittelbar aus den Verfahrensgrundrechten (z.B. Art. 103 Abs. 1 GG) eine Grundlage dafür, nach Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist eine Anschlussberufung einzulegen. Der Senat hatte bisher zwar offengelassen, ob die Zulassung einer verspäteten Anschlussberufung zur Wahrung des Verfahrensgrundrechts nach Art. 103 Abs. 1 GG dann geboten sein könnte, wenn nach dem bisherigen Prozessverlauf bis zum Ablauf der Frist für die Berufungserwiderung auch ein kundiger und gewissenhafter Berufungsbeklagter - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht damit rechnen konnte, dass das ihm günstige erstinstanzliche Urteil keinen Bestand haben wird und er den Verlust des Rechtsstreits nur durch eine Anschlussberufung vermeiden kann (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2007 – V ZR 210/06 –, Rn. 27). Diese Erwägung ist aber überholt, weil der Bundesgerichtshof zwischenzeitlich entschieden hat, dass der von § 233 ZPO nicht erfasste Fall der versäumten Frist zur Einlegung der Anschlussberufung auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen in den Anwendungsbereich der Vorschrift einzubeziehen ist (BGH, Beschluss vom 25. Januar 2022 - VIII ZR 359/20, Rn. 37 ff.). Da die verfassungskonforme Auslegung der prozessualen Fristvorschriften nicht zur Zulassung einer (unverschuldet) verspätet eingelegten Anschlussberufung führt, kann sich eine Zulassung erst recht nicht unmittelbar aus den Verfahrensgrundrechten ergeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Denn das Berufungsgericht hat verkannt, dass die Einlegung einer Anschlussberufung ohnehin nicht erforderlich ist. Ein Anschluss an die fremde Berufung ist erforderlich, wenn der Kläger das erstinstanzliche Urteil nicht nur verteidigen, sondern die von ihm im ersten Rechtszug gestellten Anträge erweitern oder einen neuen, in erster Instanz nicht vorgebrachten Anspruch geltend machen will. Der Kläger muss also eine Anschlussberufung einlegen, wenn er die vor dem erstinstanzlichen Gericht erfolgreiche Klage in der Berufungsinstanz - durch Änderung des Klageantrags und/oder Lebenssachverhalts - gemäß § 263 ZPO ändern oder gemäß § 264 Nr. 2 ZPO erweitern will, indem er z.B. zusätzlich einen Hilfsantrag stellt, der in dem ursprünglichen Antrag nicht bereits als Minus enthalten ist oder mit dem er ein anderes Klageziel als mit dem Hauptantrag verfolgt. Eine Anschlussberufung ist andererseits aber nur zulässig, wenn das Begehren des Anschlussberufungsklägers auf mehr gerichtet ist, als ihm das angefochtene Urteil zugesprochen hat, damit also mehr erreicht werden soll als die Zurückweisung der Berufung. Unzulässig ist daher die Anschließung mit einem Antrag, der dem bereits in erster Instanz zuerkannten Klageantrag entspricht. Sie kommt nicht in Betracht für die mit einem Übergang von einem Leistungs- zu einem Feststellungsantrag verbundene Antragsbeschränkung iSv. § 264 Nr. 2 ZPO, eine Antragsanpassung gemäß § 264 Nr. 3 ZPO, eine Antragsumstellung auf Zahlung an den Zessionar oder eine Erweiterung um einen Hilfsantrag, mit dem der Kläger in anderen Worten dasselbe Klageziel wie mit dem Hauptantrag verfolgt (Nachweise in Rn. 12). Bei Anwendung dieser Maßstäbe musste der Kläger keine Anschlussberufung einlegen. Denn mit dem im Berufungsverfahren gestellten Grenzfeststellungsantrag wollte der Kläger nichts erreichen, was über seinen Antrag auf Zurückweisung der Berufung hinausgeht. Die Umstellung von einem Grenzscheidungsantrag (§ 920 BGB) auf einen Grenzfeststellungsantrag stellt keine Klageerweiterung (§ 264 Nr. 2 ZPO) dar, wenn der Kläger seinen Anträgen - wie hier - jeweils denselben Grenzverlauf zugrunde legt. Zwar hat der Kläger seine Klage von einer Gestaltungsklage auf eine Feststellungsklage umgestellt. Während die Grenzfeststellungsklage auf die (deklaratorische) Feststellung des Eigentums an der streitigen Grundstücksfläche gerichtet ist, handelt es sich bei der auf eine (konstitutive) Begründung originären Eigentums gerichteten Grenzscheidungsklage um eine auf den Erlass eines Gestaltungsurteils gerichtete Klage. Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung hat der Kläger nicht nur verschiedene Feststellungsanträge „angepasst“. Er hat zwar auch seinen auf § 920 BGB gestützten Grenzscheidungsantrag unter Verwendung des Begriffs „Feststellung“ formuliert; dies macht den Antrag aber nicht zu einem Feststellungsantrag.      

Anders als die Beklagten meinen, führt jedoch allein die Änderung des Klageantrags nicht zu einer Klageerweiterung iSv. § 264 Nr. 2 ZPO. Es stellt eine bloße Abwandlung des Klageantrages dar, wenn der neue Antrag sich auf dasselbe Rechtsverhältnis bezieht, d.h. bei gleichbleibendem Klagegrund nur weitergehende Rechtsfolgen aus diesem hergeleitet werden. Nach diesem Maßstab begehrt der Kläger mit dem im Berufungsverfahren gestellten Grenzfeststellungsantrag nicht mehr als mit der erstinstanzlich zuletzt beantragten Grenzscheidungsklage. Der Kläger stützt die Grenzfeststellungsklage auf denselben Klagegrund wie die Grenzscheidungsklage. Die von dem Kläger vorgetragenen Tatsachen und die Anknüpfungstatsachen für das Sachverständigengutachten sind genauso unverändert geblieben wie das Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme, das sich der Kläger zu eigen gemacht hat. Der Kläger zieht hieraus lediglich andere rechtliche Schlüsse. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der unterschiedlichen Darlegungslast einer Grenzfeststellungsklage im Vergleich zu einer Grenzscheidungsklage (§ 920 BGB). Zwar mag der zugrundeliegende Lebenssachverhalt insoweit unterschiedlich sein, als für die Erhebung einer Grenzscheidungsklage ein Sachvortrag mit der Behauptung, die richtige Grenze lasse sich nicht ermitteln, erforderlich ist, wohingegen für eine schlüssige Grenzfeststellungsklage eine bestimmte Grenzlinie behauptet werden muss. Der Kläger hat aber seinen Vortrag sowohl erstinstanzlich als auch in der Berufungsinstanz darauf gestützt, dass der Grenzverlauf eindeutig festgestellt werden könne. Er hat - auch auf den Hinweis des Landgerichts - seinen Klageantrag gerade nicht damit begründet, dass sich der Grenzverlauf nicht ermitteln lasse. Seine erstinstanzliche Antragsänderung beruhte allein auf einer Beweiswürdigung des Landgerichts, nicht jedoch auf einem von dem Kläger geänderten Sachvortrag. Für eine solche Änderung des Klageantrags, die keine Klageerweiterung iSv. § 264 Nr. 2 ZPO enthält, bedarf es in der Berufungsinstanz weder der Einlegung einer Anschlussberufung nach § 524 ZPO noch der Einhaltung der Voraussetzungen des § 533 ZPO.

3. Kontext der Entscheidung

Das Urteil schließt an den im ersten Leitsatz zitierten Beschluss des VIII. Zivilsenats an (BGH, Beschluss vom 25. Januar 2022 – VIII ZR 359/20). Gemäß § 233 Satz 1 ZPO findet die Wiedereinsetzung (nur) im Falle der unverschuldeten Versäumung einer Notfrist oder der Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag statt. Die dem Berufungsbeklagten gemäß § 521 Abs. 2 ZPO gesetzte Frist zur Berufungserwiderung, bis zu deren Ablauf nach § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Anschließung zulässig ist, ist keine Notfrist iSd. § 224 Abs. 1 Satz 2 ZPO und wird auch nicht bei den sonstigen Fristen in § 233 ZPO aufgeführt. Bei Versäumung der Anschlussberufungsfrist kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch in analoger Anwendung der §§ 233 ff. ZPO nicht in Betracht, da sich nicht feststellen lässt, dass die fehlende Erwähnung der Frist zur Einlegung der Anschlussberufung in der Vorschrift des § 233 S. 1 ZPO auf einer planwidrigen Regelungslücke beruht (BGH, Beschluss vom 25. Januar 2022 – VIII ZR 359/20, Rn. 23). Weder der aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Anspruch der Partei auf wirkungsvollen Rechtsschutz noch das von Art. 103 Abs. 1 GG garantierte Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs erfordern bei Versäumung der Frist zur Einlegung der Anschlussberufung eine generelle Ausdehnung des vom Gesetzgeber nur beschränkt eröffneten Anwendungsbereichs der Vorschriften der Zivilprozessordnung zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Entsprechendes gilt im Hinblick auf das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Gebot der prozessualen Waffengleichheit für beide Parteien (BGH, Beschluss vom 25. Januar 2022 – VIII ZR 359/20 –, Rn. 37).

4. Auswirkungen für die Praxis

Auch im Verfahrensrecht kann der Gedanke des § 140 BGB (Umdeutung) herangezogen werden. So ist eine unzulässige Hauptberufung in eine unselbstständige Anschlussberufung umzudeuten, wenn die Voraussetzungen für eine zulässige Anschlussberufung vorliegen und die Umdeutung von dem mutmaßlichen Parteiwillen gedeckt wird. In aller Regel wird eine Partei eine unzulässige Hauptberufung als zulässige Anschlussberufung retten wollen (BGH, Beschl. v. 02.02.2016 - VI ZB 33/15 Rn. 7). Auch eine eigene, aber wegen Fehlens einer ordnungsgemäßen Begründung unzulässige Berufung kann als Anschlussberufung aufrechterhalten werden, sofern sie fristgerecht in der Anschlussfrist begründet worden ist (BGH, Beschl. v. 30.10.2008 - III ZB 41/08). Steht die Umdeutung eines Rechtsmittels in ein anderes in Rede, kommt es darauf an, ob die Voraussetzungen des Rechtsmittels, in das umgedeutet werden soll, erfüllt sind (Nassall in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 140 BGB (Stand: 18.05.2022), Rn. 61 mwN.). Eine bei einem unzuständigen Gericht eingereichte Beschwerde kann deshalb nicht in eine Rechtsbeschwerde beim BGH umgedeutet werden (BGH, Beschluss vom 20. März 2002 – XII ZB 27/02).

25.4.2024
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BGH: Glaubhaftmachung nach § 130d Satz 3 ZPO

1. Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Hieran fehlt es, wenn die glaubhaft gemachten Tatsachen jedenfalls auch den Schluss zulassen, dass die Unmöglichkeit nicht auf technischen, sondern auf in der Person des Einreichers liegenden Gründen beruht.

2. Zu den erforderlichen technischen Einrichtungen, die ein professionelle Einreicher für die Übermittlung elektronischer Dokumente vorzuhalten hat, gehört nicht nur ein entsprechendes Endgerät, sondern auch die erforderliche gültige beA-Karte. Mangelt es an der notwendigen Ausstattung, beruht eine Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument nicht auf technischen Gründen.

BGH, Beschluss vom 14. März 2024 – V ZB 2/23

1. Problemstellung

§ 130d Satz 1 ZPO bestimmt, dass Rechtsanwälte Gerichtsschriftsätze als elektronisches Dokument übermitteln müssen. Nur wenn dies aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig (§ 130d Satz 2 ZPO). Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen (§ 130d Satz 3 ZPO). Mit den Anforderungen an die erforderlich Glaubhaftmachung hatte sich der V. Zivilsenat zu befassen.

 

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Dem Kläger ist das klageabweisende Urteil des Landgerichts am 18. August 2022 zugestellt worden. Mit einem per Telefax am 4. Oktober 2022 an das OLG übermittelten dreiseitigen Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist mit der Begründung beantragt, seit dem 8. September habe der beA-Account seines Prozessbevollmächtigten nicht mehr funktioniert. Trotz sofortiger Bestellung und wiederholter Nachfrage bei der Bundesnotarkammer habe sein Prozessbevollmächtigter bislang noch keine neue beA-Karte erhalten, so dass er den am 17. September 2022 gefertigten Berufungsschriftsatz nicht habe elektronisch übermitteln können. Sein Prozessbevollmächtigter habe deshalb Frau Rechtsanwältin J. gebeten, bis zum 19. September 2022 (Montag) den Schriftsatz über ihren beA-Account zu versenden. Erst am 20. September 2022 habe diese mitgeteilt, dass sie die Übersendung wegen einer plötzlichen Erkrankung ihres Kindes nicht habe vornehmen können. Sein Prozessbevollmächtigter habe in der Folgezeit beabsichtigt, Frau Rechtsanwältin J. um die Versendung des Wiedereinsetzungsantrags zu bitten. Allerdings sei sie am 4. Oktober 2022 in ihrer Kanzlei nicht erreichbar gewesen. Der Telefonanschluss eines weiteren bekannten Rechtsanwalts, den sein Prozessbevollmächtigter um Übersendung habe bitten wollen, sei stets besetzt gewesen. Daher sei die Übermittlung des Wiedereinsetzungsantrags per Telefax erfolgt. Allerdings habe das Telefaxgerät technische Probleme gehabt, so dass sein Prozessbevollmächtigter nur den Wiedereinsetzungsantrag ohne die Berufungsschrift per Telefax versendet habe. Am Abend des 4. Oktober 2022 habe auch keine Gelegenheit mehr bestanden, einen Anwaltskollegen um den Versand zu bitten.

Am 7. Oktober 2022 ist bei dem OLG der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist vom 4. Oktober 2022 nebst einem nicht unterzeichneten Berufungsschriftsatz vom 17. September 2022 in Papierform eingegangen. Das OLG hat die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Zu Recht versagt das Berufungsgericht dem Kläger eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Für die Wiedereinsetzung ist die versäumte Prozesshandlung in der für sie vorgeschriebenen Form nachzuholen. Hat es der Rechtsmittelführer innerhalb der Rechtsmittelfrist versäumt, eine wirksame Rechtsmittelschrift zu übermitteln, hat er dies somit bis zum Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist formgerecht nachzuholen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung bedarf derselben Form wie die versäumte Prozesshandlung (§ 236 Abs. 1 ZPO). Die Wiedereinsetzungsfrist bei der Versäumung der Berufungsfrist beträgt nach § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO zwei Wochen und beginnt nach § 234 Abs. 2 ZPO mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist. Das ist der Fall, sobald die bisherige Ursache der Verhinderung beseitigt oder das Weiterbestehen des Hindernisses nicht mehr unverschuldet ist. Die Wiedereinsetzungsfrist endete deshalb spätestens am 4. Oktober 2022, weil der Kläger am 20. September 2022 erfahren hat, dass Rechtsanwältin J. den Berufungsschriftsatz nicht wie verabredet an das Berufungsgericht übermittelt hatte. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit dem am 4. Oktober 2022 per Fax übersandten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist weder die versäumte Prozesshandlung wirksam nachgeholt noch einen formwirksamen Wiedereinsetzungsantrag gestellt.

Es kann dahinstehen, ob angesichts des Wiedereinsetzungsantrags eine ausdrückliche Nachholung der Berufungseinlegung trotz § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO entbehrlich war, weil sich nach der für das Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten offensichtlichen Verfahrens- und Interessenlage zweifelsfrei ergab, dass der Kläger sich nicht mit dem erstinstanzlichen Urteil abfinden, sondern Berufung einlegen und den Prozess weiterbetreiben wollte und bei dieser Sachlage der Wiedereinsetzungsantrag zugleich als Berufungsschrift auszulegen ist. Selbst wenn in dem Wiedereinsetzungsantrag zugleich die Einlegung der Berufung zu erblicken wäre, hätte der Kläger die versäumte Prozesshandlung nicht in der für sie vorgeschriebenen Form nachgeholt. Sein Prozessbevollmächtigter hat den Schriftsatz dem Berufungsgericht nicht als elektronisches Dokument übermittelt. Vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die - wie hier - durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, sind nach § 130d Satz 1 ZPO ab dem 1. Januar 2022 als elektronisches Dokument zu übermitteln. Die zwingende Einreichung von Erklärungen in der elektronischen Form betrifft die Frage ihrer Zulässigkeit. Die Einhaltung der vorgeschriebenen Form ist deshalb von Amts wegen zu prüfen. Ein Formverstoß führt zur Unwirksamkeit der Prozesserklärung. Die Voraussetzungen des § 130d Satz 1 ZPO sind vorliegend nicht erfüllt, da der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufungsschrift innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist dem Berufungsgericht nicht wie gesetzlich gefordert als elektronisches Dokument übermittelt hat, sondern nach den allgemeinen Vorschriften (§§ 130, 131 ff. ZPO) per Telefax (vgl. § 130 Nr. 6 ZPO). Da sich die Form des Antrags auf Wiedereinsetzung gemäß § 236 Abs. 1 ZPO nach den Vorschriften richtet, die für die versäumte Prozesshandlung gelten, hätte auch der Wiedereinsetzungsantrag als elektronisches Dokument eingereicht werden müssen.  

Die Übermittlung per Telefax war als Ersatzeinreichung nicht ausnahmsweise gemäß § 130d Satz 2 ZPO ausreichend. Ist eine Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung gemäß § 130d Satz 2 ZPO nach den allgemeinen Vorschriften zulässig. Die eng auszulegende Ausnahmevorschrift bezweckt, dem Rechtsuchenden auch bei technischen Ausfällen eine wirksame Einreichung von Schriftsätzen zu ermöglichen. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass eine Ausnahme von der zwingenden Benutzung eines elektronischen Übermittlungsweges nur dann gelten soll, wenn die Justiz aus technischen Gründen nicht auf elektronischem Wege erreichbar ist, gleichviel ob die Ursache dafür in der Sphäre des Gerichts oder des Einreichenden zu suchen ist. Durch die Einschränkung „aus technischen Gründen“ und „vorübergehend“ wird klargestellt, dass professionelle Einreicher hierdurch nicht von der Notwendigkeit entbunden sind, die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente vorzuhalten und bei technischen Ausfällen unverzüglich für Abhilfe zu sorgen. Der Gesetzgeber wollte nur Fälle erfassen, in denen einer Übermittlung des Schriftsatzes in elektronischer Form rein technische Gesichtspunkte entgegenstehen, nicht dagegen in der Person des Einreichers liegende Gründe. Entsprechend stellen Verzögerungen bei der Einrichtung der technischen Infrastruktur keinen vorübergehenden technischen Grund dar.

Dem Kläger ist es nicht gelungen, bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach die vorübergehende Unmöglichkeit einer elektronischen Übermittlung aus technischen Gründen nach § 130d Satz 3 ZPO glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Hieran fehlt es, wenn die glaubhaft gemachten Tatsachen jedenfalls auch den Schluss zulassen, dass die Unmöglichkeit nicht auf technischen, sondern auf in der Person des Einreichers liegenden Gründen beruht. Glaubhaft zu machen ist daher die technische Unmöglichkeit einschließlich ihrer vorübergehenden Natur, wobei eine laienverständliche Darstellung des Defektes und der zu seiner Behebung getroffenen Maßnahmen genügt, aufgrund derer es möglich ist festzustellen, dass Bedienungsfehler unwahrscheinlich sind. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat zur Glaubhaftmachung geltend gemacht, sein beA-Account habe seit dem 8. September 2022 nicht mehr funktioniert. Trotz sofortiger Bestellung und wiederholter Nachfragen bei der Bundesnotarkammer habe er bis zum Fristablauf keine neue beA-Karte erhalten, so dass er den Berufungsschriftsatz nicht habe elektronisch übermitteln können. Den höchstrichterlichen Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer aus technischen Gründen vorübergehenden Unmöglichkeit iSd. § 130d Satz 3 ZPO wird die der Ersatzeinreichung beigegebene Erklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht gerecht, weil aus den Ausführungen nicht in sich schlüssig und nachvollziehbar hervorgeht, ob er die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente vorgehalten hat. Der beA-Account war nach seinem Vortrag funktionsunfähig. Zwar führt etwa eine Störung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs sowie der temporäre Ausfall der Netzwerkkarte grundsätzlich zu einer vorübergehenden technischen Unmöglichkeit. Der zur Glaubhaftmachung gehaltene Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers lässt aber gerade offen, ob die Funktionsunfähigkeit auf einer technischen Störung beruhte oder auf den Ablauf der Gültigkeitsdauer seiner beA-Karte zurückzuführen war. Von Letzterem geht das Berufungsgericht aus. Zu den erforderlichen technischen Einrichtungen, die ein professionelle Einreicher für die Übermittlung elektronischer Dokumente vorzuhalten hat, gehört nicht nur ein entsprechendes Endgerät, sondern auch die erforderliche gültige beA-Karte. Mangelt es an der notwendigen Ausstattung, beruht eine Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument nicht auf technischen Gründen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Möglichkeit des Ablaufs der Gültigkeitsdauer seiner beA-Karte als Störungsursache nicht ausgeräumt. Er hat sich in seiner Glaubhaftmachung nicht dazu geäußert, ob er im Zeitpunkt der Ersatzeinreichung überhaupt eine gültige beA-Karte vorgehalten hat oder ob und gegebenenfalls wann deren Gültigkeitsdauer abgelaufen war. Er ist auch nicht darauf eingegangen, wann er Kenntnis vom Ablauf der Gültigkeitsdauer erhalten konnte, und er hat nicht dargelegt, dass er rechtzeitig eine neue Karte beantragt hat. Sein Verweis auf die mehrmalige Nachfrage bei der Bundesnotarkammer genügt zur Glaubhaftmachung einer technischen Unmöglichkeit nicht, solange nicht dargelegt ist, dass er alle Anstrengungen unternommen hat, um rechtzeitig über eine gültige beA-Karte zu verfügen. Fehlt - wie hier - die Glaubhaftmachung nach § 130d Satz 3 ZPO, so ist die Ersatzeinreichung unwirksam, so dass der Wiedereinsetzungsantrag des Klägers unzulässig ist.

3. Kontext der Entscheidung

Der V. Zivilsenat kann sich auf die Rechtsprechung anderer Zivilsenate des BGH stützen. So hat bereits der XII. Zivilsenat, den der V. Zivilsenat im Leitsatz zitiert, bereits entschieden, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann, wenn nach den glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit offenbleibt, dass die Fristversäumung von dem Beteiligten beziehungsweise seinem Verfahrensbevollmächtigten verschuldet war. Dies ist der Fall, wenn als Ursache für die Fristversäumung nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine Rechtsanwältin die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente nicht vorgehalten hat (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – XII ZB 88/23 –, Rn. 19). Zwar muss ein Rechtsanwalt nicht in jedem Einzelfall dazu vorzutragen und glaubhaft machen, dass die technischen Einrichtungen zur elektronischen Übermittlung ursprünglich gegeben und funktionstüchtig waren. Doch jedenfalls in den Fällen, in denen  auf der Grundlage des Vorbringens des Rechtsanwalts davon auszugehen ist, dass Anlass zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs bestand, diese jedoch unterblieben ist, muss der Rechtsanwalt darlegen, dass die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente ursprünglich vorhanden und einsatzfähig waren. Ein auf einen vorübergehenden „Computer-Defekt” oder „Computer-Absturz” gestützter Wiedereinsetzungsantrag verlangt nähere Darlegungen zur Art des Defekts und seiner Behebung (BGH, Beschluss vom 1. März 2023 – XII ZB 228/22 –, Rn. 13).

4. Auswirkungen für die Praxis

Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände bedarf, deren Richtigkeit der Rechtsanwalt unter Bezugnahme auf seine Standespflichten anwaltlich versichern muss (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 – V ZB 11/22 –, Rn. 11). Stellt der Rechtsanwalt erst kurz vor Fristablauf fest, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich ist, und verbleibt bis zum Fristablauf keine Zeit mehr, die Unmöglichkeit darzutun und glaubhaft zu machen, ist die Glaubhaftmachung unverzüglich (ohne schuldhaftes Zögern) nachzuholen. Unverzüglich ist die Glaubhaftmachung nur dann, wenn sie zeitlich unmittelbar erfolgt. Anders als bei § 121 BGB ist keine gesonderte Prüfungs- und Überlegungszeit zu gewähren, sondern der Rechtsanwalt hat die Glaubhaftmachung abzugeben, sobald er zu einer geschlossenen Schilderung in der Lage ist (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 – V ZB 11/22 –, Rn. 11). Eine Prozesspartei muss es sich als Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten (§ 233 Satz 1, § 85 Abs. 2 ZPO) zurechnen lassen, wenn dieser sich nicht hinreichend mit den technischen Möglichkeiten der Übermittlung von Schriftsätzen als elektronisches Dokument vertraut gemacht hatte (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 – V ZB 11/22 –, Rn. 20).

23.4.2024
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BGH: Von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeitsvoraussetzungen

Die Zustellung eines Versäumnisurteils und die Fristwahrung eines dagegen gerichteten Einspruchs ist gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen. § 531 Abs. 2 ZPO ist insoweit nicht anwendbar.

BGH, Beschluss vom 21. Februar 2024 – XII ZR 65/23

1. Problemstellung

Ob Vortrag einer Partei zu von Amts wegen zu überprüfenden Zulässigkeitsvoraussetzungen wie der Zustellung eines Versäumnisurteils wegen Verspätung zurückgewiesen werden darf, hatte der XII. Zivilsenat zu entscheiden.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Beklagte ist durch Versäumnisurteil zur Zahlung von 60.000,00 € verurteilt worden. Gegen dieses - nach der Zustellungsurkunde an V. N. (erster Vorname und Familienname des Beklagten) adressierte und am 14. Mai 2022 in den „zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung“ eingelegte - Versäumnisurteil hat der Beklagte am 1. Juni 2022 Einspruch eingelegt. Das Landgericht hat den Einspruch wegen Versäumung der Einspruchsfrist verworfen. Die Berufung des Beklagten hat das OLG durch Beschluss zurückgewiesen. Mit der Zustellungsurkunde sei bewiesen, dass dem Beklagten das Versäumnisurteil am 14. Mai 2022 durch Einwurf in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden sei. Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde hinsichtlich des Adressaten sei nur dann aufgehoben, wenn aufgrund der Bezeichnung unklar bleibe, an welche von mehreren gleichnamigen Personen zugestellt sein solle. Es sei aber nicht ersichtlich, dass eine zweite Person mit dem im Adressfeld der Zustellungsurkunde angegebenen Namen an der Zustelladresse wohne. Die bloße Gleichheit des Nachnamens N. führe nicht zur Unklarheit darüber, an wen zugestellt sei. Der Beklagte habe die Beweiskraft der Zustellungsurkunde mit seinem erstinstanzlichen Vorbringen auch nicht entkräftet. Sein Vortrag, das Versäumnisurteil habe sich erst am 28. oder 29. Mai 2022 in seinem mit dem Nachnamen und seinem zweiten Vornamen B. beschrifteten Briefkasten befunden, es sei möglicherweise vom Zusteller in einen der beiden anderen unter derselben Anschrift angebrachten Briefkästen mit der Beschriftung N. eingelegt und dann von dem anderen Hausbewohner dieses Namens bei ihm eingeworfen worden, habe lediglich die Möglichkeit eines anderen als des beurkundeten Ablaufs aufgezeigt. In welchen anderen Briefkasten das Schreiben zuvor eingeworfen worden sein sollte und warum es erst am 28. oder 29. Mai 2022 in den Briefkasten des Beklagten gelangt sei, habe dieser im landgerichtlichen Verfahren dagegen nicht vorgetragen. Der Beklagte habe sich insoweit auch nicht in Beweisnot befunden, weil er die namensgleichen Nachbarn hätte befragen und dann Beweis antreten können. Soweit der Beklagte - auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO - im Berufungsverfahren vorgetragen habe, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass die Mitbewohnerin seines Nachbarn mit dem Namen V. V. N. das Schreiben Mitte Mai 2022 in dessen Briefkasten gefunden und dem Nachbarn ausgehändigt habe, der seinerseits das Schreiben Ende Mai 2022 auf den Briefkasten gelegt habe, wo ein anderer Nachbar es gefunden und in seinen - des Beklagten - Briefkasten eingeworfen habe, sei dies nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigungsfähig. Der Vortrag sei neu, weil es sich hierbei nicht lediglich um eine Konkretisierung des erstinstanzlichen Vorbringens handele, und die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung neuen Vortrags lägen nicht vor.    

Auf die Revision des Beklagten wird der Beschluss des OLG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Der Beklagte beanstandet zu Recht, dass er durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt ist. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Sachvortrags oder hierfür erbrachter Beweisangebote verstößt dabei gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn diese im Prozessrecht keine Stütze findet. Die Schwelle einer solchen grundrechtsrelevanten Gehörsverletzung kann bei der Verwerfung eines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil als verfristet eher überschritten sein, als dies üblicherweise der Fall ist. Denn hiermit ist stets eine Präklusion des Verteidigungsvorbringens verbunden, durch die der Beklagte in seiner Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verfahren einschränkt ist.

Liegen die Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung einer Klage oder eines Versäumnisurteils nicht vor, ist der Beklagte durch die Annahme einer wirksamen Zustellung in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Entsprechendes gilt für ein Urteil, mit dem der Einspruch des Beklagten gegen ein solches Versäumnisurteil verworfen wird, und für eine Entscheidung des Berufungsgerichts, mit der die Berufung des Beklagten gegen das den Einspruch verwerfende Urteil des Gerichts des ersten Rechtszugs zurückgewiesen wird. Denn durch derartige Entscheidungen wird die Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör perpetuiert, weil diesem die wirksame Möglichkeit einer Überprüfung des Versäumnisurteils auf dessen sachliche Richtigkeit genommen ist.

Daran gemessen ist der Beklagte durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Verwerfung des Einspruchs des Beklagten gegen das Versäumnisurteil als verfristet findet im Prozessrecht keine Stütze und hält daher rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das OLG hätte den erst im Berufungsverfahren eingeführten Vortrag des Beklagten zum genauen Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen der Briefkästen an der Zustelladresse nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen. Denn auf die gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen gebotene Prüfung der Zustellung eines Versäumnisurteils und der Fristwahrung des dagegen gerichteten Einspruchs ist § 531 Abs. 2 ZPO nicht anwendbar. Ungeachtet dessen hätte das OLG den vom Beklagten erst auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO im Berufungsverfahren gehaltenen Vortrag zum Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen Briefkasten an der Zustelladresse auch deshalb nicht als verspätet zurückweisen dürfen, weil die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO nicht vorlagen. Das Vorbringen erst im Berufungsverfahren beruht jedenfalls nicht auf einer Nachlässigkeit des Beklagten (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO), weil der Beklagte entgegen der Ansicht des OLG im landgerichtlichen Verfahren nicht zu weiteren Nachforschungen verpflichtet gewesen wäre. Der Verstoß des OLG gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Oberlandesgericht ohne die Gehörsverletzung keine Überzeugung von der Zustellung des Versäumnisurteils am 14. Mai 2022 hätte bilden können, es gemäß § 189 ZPO einen Beginn der Einspruchsfrist erst mit dem vom Beklagten behaupteten tatsächlichen Zugang des Versäumnisurteils am 29. Mai 2022 angenommen und den am 1. Juni 2022 eingegangenen Einspruch demzufolge als rechtzeitig angesehen hätte.

Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Insbesondere wäre dem Beklagten nicht unter dem Gesichtspunkt rechtsmissbräuchlichen Verhaltens versagt, sich auf einen Zustellungsmangel zu berufen. Zwar kann die Geltendmachung eines Zustellungsmangels treuwidrig und damit rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Mangel bewusst und zielgerichtet herbeigeführt worden ist. Hierfür ist indes vorliegend nichts ersichtlich. Insoweit ist revisionsrechtlich zu unterstellen, dass der Briefkasten des Beklagten mit dem Namen B. N. beschriftet war, sich an der Zustellungsadresse zwei weitere Briefkästen anderer Bewohner befanden, die ebenfalls mit dem Nachnamen N. gekennzeichnet waren, und die Sendung vom Zusteller in den Briefkasten eines gleichnamigen Nachbarn des Beklagten eingelegt wurde. Dass die Sendung in einen der nicht der Wohnung des Beklagten zuzuordnenden Briefkästen eingelegt wurde, würde unter diesen Umständen maßgeblich darauf beruhen, dass das Landgericht den in der Klageschrift genannten zweiten Vornamen des Beklagten nicht in das Adressfeld des Postzustellungsauftrags aufgenommen hat, und läge damit in der Sphäre des Gerichts.

3. Kontext der Entscheidung

Zustellurkunden, die zum Nachweis der Zustellung auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen sind, haben nach § 182 Absatz 1 Satz 2 ZPO die Beweiskraft des § 418 ZPO. Sie begründen somit vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Inwiefern äußere Mängel die Beweiskraft einer Urkunde ganz oder teilweise aufheben oder mindern, entscheidet das Gericht nach freier Überzeugung, wie § 419 ZPO bestimmt. Es erfolgt eine freie Beweiswürdigung nach § 286 ZPO. Der Mangel schließt die Beweisregeln der §§ 415ff. ZPO aus, nimmt der Urkunde aber nicht schlechthin jede Beweiskraft, sondern stellt den Grundsatz der freien Beweiswürdigung wieder her, so dass zu prüfen ist, welche Schlüsse unter Berücksichtigung aller Umstände gemäß § 286 ZPO aus der Urkunde zu ziehen sind (Feskorn in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 419 Rn. 3 mwN.). Der Senat weist daher ausdrücklich darauf hin, dass das das Oberlandesgericht nach freier Überzeugung zu beurteilen haben wird, ob die Beweiskraft der Zustellungsurkunde hinsichtlich der Person des Zustellungsadressaten (§§ 182 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1, 418 Abs. 1 ZPO) - auch in Anbetracht der Beschriftung der Briefkästen an der Zustelladresse - ganz oder teilweise dadurch gemindert oder aufgehoben ist, dass im Adressfeld der Zustellungsurkunde nicht der vollständige Name des Beklagten angegeben war (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2024 – XII ZR 65/23 –, Rn. 15).

4. Auswirkungen für die Praxis

Grundsätzlich beginnt der Lauf einer Rechtsmittelfrist für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der Entscheidung. Etwas anderes gilt jedoch für Entscheidungen, bei denen die Verkündung durch die Zustellung ersetzt wird (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 1994 – XII ZB 90/94 –, Rn. 13). Bei einem Versäumnisurteil, das nach § 331 Abs. 3 ZPO ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Vorverfahren ergeht, wird die Verkündung durch die Zustellung des Urteils ersetzt, wie § 310 Abs. 3 Satz 1 ZPO bestimmt. Im schriftlichen Vorverfahren gemäß § 331 Abs. 3 ZPO ergangene Versäumnisurteile sind an Verkündungs statt zuzustellen und werden erst durch die Zustellung an beide Parteien existent, so dass die Einspruchsfrist erst mit der letzten der von Amts wegen zu bewirkenden Zustellungen in Lauf gesetzt wird (BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 – IV ZR 14/08 –, Rn. 9). Die Einspruchsfrist beginnt somit nicht vor Ausführung der Amtszustellung des Urteils an beide Parteien, selbst dann, wenn die Zustellung an den obsiegenden Kläger der Zustellung an den Beklagten nachfolgt (Herget in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 339 Rn. 4).

23.4.2024
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BGH: Verjährung des Eigentumsverschaffungsanspruchs

Die Verjährungsfrist für synallagmatisch verbundene Ansprüche aus einem Vertragsverhältnis beginnt erst mit der Fälligkeit des jeweiligen Anspruchs. Für den Anspruch des Käufers auf Eigentumsverschaffung an einem Grundstück, der nach den vertraglichen Bedingungen nicht sofort fällig ist, beginnt die Verjährungsfrist nicht schon mit Vertragsschluss, sondern erst mit der Fälligkeit. Erst dann ist der Eigentumsverschaffungsanspruch im Sinne von § 200 BGB entstanden.

BGH, Urteil vom 15. März 2024 – V ZR 224/22 

1. Problemstellung

Der V. Zivilsenat hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wann die Verjährungsfrist für den Eigentumverschaffungsanspruch beim Grundstückkaufvertrag beginnt, wenn der Vertrag vorsieht, dass der Anspruch nicht sofort fällig ist.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger verkaufte der Beklagten mit notariellem Vertrag vom 20. August 2004 ein Grundstück zu einem Kaufpreis von 216.000 €. In dem Vertrag erklärten die Parteien die Auflassung und wiesen den Notar an, den Antrag auf Vollzug der Auflassung bei dem Grundbuchamt erst zu stellen, wenn der Kläger dem schriftlich zustimmt oder wenn die Beklagte bestätigt hat oder wenn dem Notar in anderer Weise nachgewiesen ist, dass der geschuldete Kaufpreis bezahlt ist; die Beklagte verzichtete auf ihr Recht, selbst den Antrag auf Eigentumsumschreibung zu stellen. Von dem Kaufpreis sollte ein Teilbetrag von 80.000 € sofort auf das Anderkonto des Notars gezahlt werden, um die Lastenfreistellung des Grundstücks zu erreichen. Der Kläger beabsichtigte, mit einem Teil des Kaufpreises ein Ersatzobjekt zu erwerben; er sollte sich um den Erwerb bemühen, und die Beklagte sollte ihn hierbei unterstützen. Für den Fall, dass bis zum 1. September 2007 kein Ersatzobjekt gefunden wurde, sollte ein Mietvertrag für das gesamte Objekt abgeschlossen werden. Im Hinblick auf diese Regelungen wurde für den restlichen Kaufpreis vereinbart: „Der verbleibende Kaufpreisrest ist innerhalb von 10 Tagen zu bezahlen, nachdem der Verkäufer den Käufer zur Zahlung schriftlich aufgefordert hat. Die Aufforderung ist erst möglich nach Vorliegen der Auszahlungsvoraussetzungen vom vorgenannten Anderkonto. Bei Aufforderung hat der Verkäufer dem Käufer die ganze oder teilweise Verwendung des Betrages zur Finanzierung des vom Verkäufer zu erwerbenden Ersatzobjekts glaubhaft zu machen. [...] Der Kaufpreisrest ist jedenfalls mit dem Ableben des Verkäufers fällig. Der Verkäufer tritt bereits heute den Anspruch auf Zahlung des Kaufpreisrestbetrages an seine Tochter (…) ab." Die Beklagte zahlte den Teilbetrag des Kaufpreises von 80.000 € auf das Anderkonto des Notars. Zu ihren Gunsten wurde im September 2004 eine Auflassungsvormerkung in das Grundbuch eingetragen. Der Erwerb eines Ersatzgrundstücks war dem Kläger nicht möglich. Er forderte die Beklagte nicht zur Zahlung des Restkaufpreises auf; die Eigentumsumschreibung ist bis heute nicht erfolgt.

Gestützt auf die Verjährung des Übereignungsanspruchs der Beklagten verlangt der Kläger mit der im November 2021 erhobenen Klage von der Beklagten die Zustimmung zur Löschung der Auflassungsvormerkung. In der Folge hinterlegte die Beklagte den restlichen Kaufpreis in Höhe von 136.000 € zu Gunsten der Tochter des Klägers. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Der Kläger könne gemäß § 886 BGB die Beseitigung der Auflassungsvormerkung verlangen, da der durch die Vormerkung gesicherte Übereignungsanspruch der Beklagten verjährt sei. Die Verjährungsfrist von zehn Jahren (196 BGB) beginne gemäß § 200 BGB mit Entstehung des Anspruchs. Entstanden sei der Anspruch, sobald er im Wege der Klage geltend gemacht werden könne. Voraussetzung sei zwar grundsätzlich die Fälligkeit des Anspruchs. Als bereits entstanden, obwohl im Einzelfall noch nicht fällig, gelte aber auch ein Anspruch aus einem gegenseitigen Vertrag, der mit der ausstehenden Gegenleistung synallagmatisch verknüpft sei, und dem daher - wie hier - die Einrede des nicht erfüllten Vertrages entgegengehalten werden könne. Damit habe die Verjährungsfrist mit Abschluss des Kaufvertrages am 20. August 2004 zu laufen begonnen, und Verjährung sei mit Ablauf des 20. August 2014 eingetreten. Die Verjährung sei nicht gemäß oder entsprechend § 205 BGB durch die im Kaufvertrag vereinbarte Vorlagesperre gehemmt worden. Bei dieser handele es sich nicht um ein Stillhalteabkommen, aufgrund dessen der Kläger vorübergehend berechtigt gewesen wäre, die Leistung zu verweigern. Die Vereinbarung führe lediglich die Wirkung des gesetzlichen Leistungsverweigerungsrechts des § 320 BGB zu Gunsten des Klägers fort, um einen Eigentumsübergang auf der Grundlage der in dem Kaufvertrag erklärten Auflassung zu verhindern, ohne ein eigenständiges vertragliches Leistungsverweigerungsrecht zu begründen. Der Beklagten als Gläubigerin des Eigentumsübertragungsanspruchs habe es zudem freigestanden, den Restkaufpreis gemäß § 271 Abs. 2 BGB auch vor dessen Fälligkeit zu zahlen und den Notar zum Vollzug der Auflassung zu veranlassen.

Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Übereignungsanspruch der Beklagten sei verjährt, ist rechtsfehlerhaft. Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück verjähren gemäß § 196 BGB in zehn Jahren. Die Verjährung beginnt nach § 200 BGB mit der Entstehung des Anspruchs. Ein Anspruch ist sowohl im Sinne von § 200 BGB als auch im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB entstanden, sobald er erstmals geltend gemacht und notfalls im Wege der Klage durchgesetzt werden kann. Dafür genügt es nicht, dass der Schuldner die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale verwirklicht hat. Vielmehr ist darüber hinaus grundsätzlich die Fälligkeit des Anspruchs erforderlich, da erst von diesem Zeitpunkt an (§ 271 Abs. 2 Halbs. 1 BGB) der Gläubiger mit Erfolg die Leistung fordern und nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB die Verjährung durch Klageerhebung hemmen kann. Nichts anderes gilt für die synallagmatisch verknüpften vertraglichen Ansprüche auf Leistung und Gegenleistung bei einem Grundstückskaufvertrag. Die Verjährungsfrist für synallagmatisch verbundene Ansprüche aus einem Vertragsverhältnis beginnt erst mit der Fälligkeit des jeweiligen Anspruchs. Zwar ist auch bei einem Kaufvertrag im Grundsatz der Zeitpunkt des Vertragsschlusses für die Entstehung des Anspruchs auf Eigentumsverschaffung iSv. §§ 199, 200 BGB und damit für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebend. Das folgt aus der gesetzlichen Leistungszeitbestimmung des § 271 Abs. 1 BGB. Etwas anderes gilt aber dann, wenn - sei es auf Grund gesetzlicher Regelung oder wegen einer von vornherein getroffenen vertraglichen Abrede - der Anspruch nicht mit Vertragsabschluss, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt fällig wird. Die Vorschrift des § 271 BGB enthält subsidiäre Regelungen. Sie greift nur ein, wenn eine Leistungszeit nicht in anderer Weise bestimmt ist. Ein auf die Übereignung eines Grundstücks gerichteter kaufvertraglicher Anspruch wird regelmäßig nicht bereits mit Vertragsschluss fällig. Denn üblicherweise werden in einem Grundstückskaufvertrag abweichende Regelungen zur Fälligkeit des Anspruchs auf Eigentumsverschaffung getroffen, um den Verkäufer davor zu schützen, dass er das Eigentum an seinem Grundstück verliert, ohne den Kaufpreis zu erhalten. Solche Regelungen zur Sicherung des Verkäufers können dazu führen, dass der Anspruch auf Eigentumsverschaffung erst mit dem Nachweis der Kaufpreiszahlung fällig wird. Dann hat der Käufer seine Leistung in Gestalt der Kaufpreiszahlung zu erbringen, ohne sich insoweit auf § 320 BGB berufen zu können. Er kann vor Erfüllung der Vorleistungspflicht nicht erfolgversprechend auf Übertragung des Eigentums klagen, auch nicht mit dem Ziel, eine Zug-um-Zug-Verurteilung zu erreichen. Eine derartige Klage wäre vielmehr mangels Fälligkeit als derzeit unbegründet abzuweisen. Dagegen reicht es, anders als das Berufungsgericht offenbar meint, für den Beginn der Verjährungsfrist nicht aus, dass der Käufer berechtigt wäre, jederzeit den restlichen Kaufpreis zu zahlen (§ 271 Abs. 2 BGB) und damit die Fälligkeit des Eigentumsverschaffungsanspruchs herbeizuführen. Andernfalls liefe die auf den Eigentumsverschaffungsanspruch bezogene Fälligkeitsvereinbarung ins Leere; nicht fällige Ansprüche können aber nicht verjähren. Für den Anspruch des Käufers auf Eigentumsverschaffung an einem Grundstück, der nach den vertraglichen Bedingungen nicht sofort fällig ist, beginnt die Verjährungsfrist nicht schon mit Vertragsschluss, sondern erst mit der Fälligkeit. Erst dann ist der Eigentumsverschaffungsanspruch im Sinne von § 200 BGB entstanden. Ob der Beklagten - was nach den vertraglichen Regelungen zweifelhaft erscheint - überhaupt ein Recht zur Vorleistung nach § 271 Abs. 2 BGB zugestanden hätte, bedarf deshalb keiner Entscheidung.

Auf die von dem Berufungsgericht herangezogene Vorschrift des § 205 BGB kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. § 205 BGB betrifft nur nachträglich vereinbarte vorübergehende Leistungsverweigerungsrechte. Damit sind Vereinbarungen zwischen Gläubiger und Schuldner gemeint, die die Fälligkeit einer Forderung nachträglich hinausschieben, also nach dem Entstehen im Sinne der §§ 199, 200 BGB während der laufenden Verjährungsfrist getroffen werden (z.B. Stillhalteabkommen). Nicht erfasst werden von vornherein getroffene Abreden des Inhalts, dass die Forderung später fällig sein soll, denn die Verjährung beginnt ohnehin erst mit der Fälligkeit zu laufen. Ist mangels Fälligkeit ein einklagbarer Anspruch noch nicht iSd. §§ 199, 200 BGB entstanden, bedarf es einer Hemmung der Verjährung schon aus diesem Grund nicht. Nach diesen Grundsätzen ist der Anspruch der Beklagten auf Eigentumsverschaffung im Sinne des § 200 BGB nur dann entstanden, wenn er fällig geworden ist. Dazu hat das Berufungsgericht - aus seiner Sicht folgerichtig - keine Feststellungen getroffen. Zugunsten der Beklagten ist deshalb für das Revisionsverfahren zu unterstellen, dass ihr Übereignungsanspruch nicht fällig geworden ist. Dann konnte die Verjährungsfrist nicht zu laufen beginnen. Dem Kläger steht infolgedessen die Einrede der Verjährung nicht zu, und er kann die Beseitigung der Vormerkung nicht verlangen (§ 886 BGB).

3. Kontext der Entscheidung

Der erkennende Senat hat im Jahre 2006 entschieden, dass ein Schuldner die Einrede des nicht erfüllten Vertrages auch nach der Verjährung seines Anspruchs erheben kann, wenn dieser vor dem Eintritt der Verjährung entstanden und mit dem Anspruch des Gläubigers synallagmatisch verknüpft war; dass sich bereits Ansprüche in unverjährter Zeit fällig gegenübergestanden haben, sei nicht erforderlich. Der Auflassungsanspruch eines Käufers entstehe grundsätzlich mit dem Abschluss eines wirksamen Grundstückskaufvertrages, nur seine Fälligkeit werde in aller Regel von der Zahlung des Kaufpreises abhängig gemacht (BGH, Urteil vom 19. Mai 2006 – V ZR 40/05 –, Rn. 12). Diese Entscheidung ist – auch vom Berufungsgericht in dieser Sache - dahin verstanden worden, dass für Ansprüche aus einem gegenseitigen Vertrag die Verjährung immer bereits mit Vertragsschluss beginnt, ohne dass es auf die Fälligkeit ankäme (Grüneberg/Ellenberger, BGB, 83. Aufl., § 199 Rn. 3). Zu dem Entstehen von Ansprüchen iSv. §§ 199, 200 BGB als Voraussetzung für den Beginn der Verjährungsfrist verhält sich aber, wie der Senat ausdrücklich klarstellt (BGH, Urteil vom 15. März 2024 – V ZR 224/22 –, Rn. 12), die Entscheidung aus dem Jahre 2006 nicht, sondern nur zu § 390 Satz 2 BGB a.F. und der Frage, wann ein Anspruch im Hinblick auf eine Aufrechnungslage entstanden ist. Sie ist auf das Verjährungsrecht nicht übertragbar (so bereits sehr knapp: BGH, Beschluss vom 29. Juni 2023 – V ZR 137/22 –, Rn. 2). Die Verjährungsfrist für synallagmatisch verbundene Ansprüche aus einem Vertragsverhältnis beginnt erst mit der Fälligkeit des jeweiligen Anspruchs.

4. Auswirkungen für die Praxis

Der Senat gibt dem Berufungsgericht auf zu prüfen, wann der Eigentumsverschaffungsanspruch der Beklagten fällig werden sollte (BGH, Urteil vom 15. März 2024 – V ZR 224/22 –, Rn. 19). Es spreche vieles dafür, dass Fälligkeit nicht schon mit Vertragsschluss eingetreten ist. Nach den Regelungen in dem Kaufvertrag konnte der Antrag auf Vollzug der Auflassung nämlich erst gestellt werden, wenn der Kläger dem zustimmt oder er bestätigt hat oder wenn dem Notar in anderer Weise nachgewiesen ist, dass der geschuldete Kaufpreis gezahlt ist. Die Zahlung des Kaufpreisrestes sollte erst erfolgen, wenn der Kläger die Beklagte zur Zahlung auffordert und dabei die ganze oder teilweise Verwendung des Betrages zur Finanzierung des von ihm zu erwerbenden Ersatzobjekts glaubhaft macht. Für das Verjährungsrecht ist anerkannt, dass dann, wenn die Fälligkeit des Anspruchs von einem Verhalten des Gläubigers abhängt, die Verjährung erst mit Fälligkeit dieses Anspruchs beginnt (std. Rspr., vgl zuletzt: BGH, Urteil vom 27. Oktober 2022 – I ZR 141/21 –, Rn. 30, mwN.). Dem steht der Zweck der Verjährung - Wahrung des Rechtsfriedens, Schutz des Schuldners vor Beweisschwierigkeiten, alsbaldige Klärung von Ansprüchen - nicht entgegen. Ein allgemeiner Grundsatz, wonach bei Ansprüchen mit hinausgeschobener, von der Disposition des Gläubigers abhängiger Fälligkeit die Verjährung mit dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Gläubiger die Fälligkeit selbst hätte herbeiführen können, besteht nicht und kann auch nicht aus den eng auszulegenden Ausnahmevorschriften der §§ 199, 200 BGB hergeleitet werden (BGH, Rechtsentscheid in Mietsachen vom 19. Dezember 1990 – VIII ARZ 5/90 –, Rn. 19, mwN.).

5.4.2024
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BGH: Fristgerechter Eingang bei Gericht bei falschem Az.

1. Das Berufungsgericht darf eine Berufung nicht gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückweisen, ohne zuvor über den rechtzeitig eingegangenen Antrag des Berufungsführers auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zum Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO entschieden zu haben .

2. Dem fristgerechten Eingang des Fristverlängerungsantrags bei Gericht steht es nicht entgegen, dass der betreffende Schriftsatz irrtümlich mit einem unzutreffenden Aktenzeichen versehen ist. Allein entscheidend ist, dass er vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt ist.

BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22

1. Problemstellung

Ob die vom Gericht einer Partei eingeräumte Stellungnahmefrist auch dann gewahrt ist, wenn die Stellungnahme der Partei am letzten Tag der Frist unter Angabe eines nicht mehr zutreffenden Aktenzeichens bei Gericht eingeht, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beklagte hat gegen das landgerichtliche Urteil Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren ist zunächst beim 7. Zivilsenat des OLG geführt und sodann dem 9. Zivilsenat desselben Gerichts übertragen worden. Der 9. Zivilsenat hat darauf hingewiesen, dass er die Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO beabsichtige, und der Beklagten eine Frist zur Stellungnahme bis zum 7. Oktober 2022 gesetzt. Mit einem am 6. Oktober 2022 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit der Begründung, aufgrund einer kurzen Auslandsreise des Sachbearbeiters habe die notwendige Erörterung mit der Beklagten noch nicht stattfinden können, um Verlängerung der Stellungnahmefrist um zwei Wochen gebeten. Der Schriftsatz enthält irrtümlich das Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats. Eine Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag ist nicht ergangen. Mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 hat das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. In dem Beschluss heißt es, dass die Beklagte innerhalb der eingeräumten Frist keine Stellungnahme abgegeben habe. Am 21. Oktober 2022 ist beim Berufungsgericht eine - mit dem zutreffenden Aktenzeichen versehene - Stellungnahme der Beklagten zum Hinweisbeschluss eingegangen. Das Berufungsgericht hat auf die zwischenzeitlich ergangene abschließende Entscheidung hingewiesen und eine nachfolgend erhobene Anhörungsrüge der Beklagten als unzulässig verworfen.  

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen, ohne zuvor über den rechtzeitig eingegangenen Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zum Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO entschieden zu haben. Hierdurch hat es der Beklagten die Möglichkeit genommen, auf den weiteren Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung des Berufungsgerichts Einfluss zu nehmen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht nur dann verletzt, wenn das Gericht sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann, oder wenn es eine den Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet  oder wenn die gesetzte Frist objektiv nicht für eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und zur Rechtslage ausreicht. Vielmehr liegt eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich auch dann vor, wenn das Gericht einen fristgerecht eingegangenen Antrag auf Verlängerung der zu einer Stellungnahme gesetzten Frist übergeht und seine den Rechtszug abschließende Entscheidung erlässt, ohne über den Fristverlängerungsantrag entschieden zu haben.    

Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Es hat die Berufung der Beklagten durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO zurückgewiesen, ohne über deren rechtzeitig gestellten Antrag auf Verlängerung der Stellungnahmefrist zum Hinweisbeschluss entschieden zu haben. Gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO hat das Berufungsgericht oder der Vorsitzende die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Möglichkeit, auf den Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts Stellung zu nehmen, dient dem Zweck, dem Berufungsführer das rechtliche Gehör zu gewähren. Diesem soll Gelegenheit gegeben werden, sich zu der vom Berufungsgericht beabsichtigten Zurückweisung seines Rechtsmittels zu äußern und dem Berufungsgericht Gesichtspunkte zu unterbreiten, die seiner Auffassung nach eine Beschlusszurückweisung hindern. Das schließt die Möglichkeit ein, vom Berufungsgericht für unzureichend erachtetes Vorbringen zu ändern und durch weiteren Sachvortrag zu ergänzen oder neue Angriffs- und Verteidigungsmittel - soweit berücksichtigungsfähig - geltend zu machen. Dabei verbürgt die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten auch das Recht, sich zur Rechtslage zu äußern.  Diese Möglichkeit der Einflussnahme auf das weitere Verfahren und den Inhalt der Entscheidung hat das Berufungsgericht der Beklagten genommen, indem es die Berufung ohne vorherige Verbescheidung des Fristverlängerungsantrags zurückgewiesen hat. Der von der Beklagten erstmals gestellte und mit einem erheblichen Grund - einer aufgrund einer Auslandsreise des Sachbearbeiters noch nicht erfolgten Erörterung mit der Partei - begründete Fristverlängerungsantrag war, bereits am 6. Oktober 2022 und damit innerhalb der noch laufenden Stellungnahmefrist beim Berufungsgericht eingegangen.    

Dem fristgemäßen Eingang steht nicht entgegen, dass der betreffende Schriftsatz fälschlicherweise mit dem Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats - und nicht mit dem des nunmehr zuständigen 9. Zivilsenats - des Berufungsgerichts versehen war und deshalb der Geschäftsstelle des 9. Zivilsenats erst nach Ablauf der Stellungnahmefrist vorlag. Denn unter Berücksichtigung der weiteren Angaben in dem lediglich aus zwei Sätzen bestehenden Schriftsatz - insbesondere der namentlichen Bezeichnung der Parteien, der Nennung des betreffenden Hinweisbeschlusses mit Datum und Ende der gesetzten Frist sowie der Angabe des (vormaligen) Aktenzeichens - ergab sich eindeutig, dass sich der Antrag auf das von den Parteien nunmehr vor dem 9. Zivilsenat geführte Berufungsverfahren bezog. Für den fristgerechten Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird. Das Gesetz schreibt die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Diese soll lediglich die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Für den fristgerechten Eingang des Fristverlängerungsantrags der Beklagten war deshalb allein entscheidend, dass dieser vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Berufungsgerichts gelangt war. Dementsprechend hätte das Berufungsgericht vor seiner abschließenden Entscheidung über die Berufung der Beklagten über die rechtzeitig beantragte Verlängerung der Stellungnahmefrist befinden müssen. Verzögerungen bei der Weiterleitung des Fristverlängerungsantrags innerhalb des Gerichts können unter den hier gegebenen Umständen nicht zu Lasten der Beklagten gehen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob den Prozessbevollmächtigten der Beklagten im Hinblick auf die Angabe des unzutreffenden Aktenzeichens ein Verschulden trifft und ob er mit einer rechtzeitigen Gewährung der beantragten Fristverlängerung rechnen durfte. Denn es geht hier nicht um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

3. Kontext der Entscheidung

Nach dem im Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verankerten Grundsatz, dass der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden darf, ist der Bürger berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen auszuschöpfen (BGH, Urteil vom 25. November 2004 – VII ZR 320/03 –, Rn. 20, mwN.). Dieser Grundsatz darf nicht dadurch ausgehebelt werden, dass der Rechtsuchende sich für die Ausschöpfung der Frist rechtfertigen muss. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird verletzt, wenn die vor Erlass einer Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Aus diesem Grunde ist der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann verletzt, wenn das Gericht eine den Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet, sondern auch dann, wenn das Gericht sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann. Gleiches gilt, wenn die vom Gericht gesetzte Frist objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen (BGH Beschl. v. 15.Mai 2018 – VI ZR 287/17 – Rn. 8, mwN.).  

4. Auswirkungen für die Praxis

Für den rechtzeitigen Eingang fristgebundener Schriftsätze ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Frist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangen. Das Gesetz schreibt in den §§ 129 Abs. 1, 130 ZPO - die gemäß § 520 Abs. 5 ZPO auch auf die Berufungsbegründung anzuwenden sind - die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist. Das gilt grundsätzlich auch für den Antrag auf Verlängerung der Frist für die Berufungsbegründung (BGH, Beschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02 –, Rn. 16). Die Folgen durch fehlendes Aktenzeichen verzögerter Zustellung an den Gegner treffen jedoch den Absender (Greger in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 130 Rn. 2). Dies gilt etwa für die Schriftsatzfristen der §§ 132 Abs. 1 und 2 ZPO, deren Berechnung auf die Zustellung beim Gegner abstellt.

2.4.2024
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BGH: Anspruch auf Bauhandwerkersicherung

Im Interesse des Bestellers, der davor geschützt werden muss, eine Sicherheit leisten zu müssen, welche das Sicherungsbedürfnis des Unternehmers übersteigt, kann der Unternehmer die Bauhandwerkersicherung in Fällen des § 650f Abs. 5 Satz 2 und 3 BGB nur bezogen auf die Nettovergütung verlangen, wenn er eine Belastung mit Umsatzsteuer nicht schlüssig darlegen kann.

BGH, Urteil vom 18. Januar 2024 – VII ZR 34/23 

1. Problemstellung

Der VII. Zivilsenat hatte sich mit der Bemessung des Anspruchs auf Bauhandwerkersicherung unter Zugrundelegung der Vermutung des § 650f Abs. 5 Satz 3 BGB zu befassen.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Am 23. April 2021 schlossen die Parteien einen Generalübernehmervertrag für die schlüsselfertige Errichtung eines Gesundheitscampus zu einem Pauschalfestpreis von 9.340.000 € brutto. Auf die erste Abschlagsrechnung über 520.000 € für Planungsleistungen und Projektentwicklung bezahlte die Beklagte am 25. Mai 2021 einen Teilbetrag in Höhe von 270.000 €. Mit Schreiben vom 27. Mai 2021 verlangte die Klägerin unter Fristsetzung bis zum 9. Juni 2021 eine Bauhandwerkersicherung nach § 650f BGB in Höhe von 9.977.000 €. Nachdem diese nicht gestellt wurde, kündigte die Klägerin am 10. Juni 2021 den Generalübernehmervertrag aus wichtigem Grund. Mit Schreiben vom 16. Juni 2021 erklärte die Beklagte ihrerseits die fristlose Kündigung des Generalübernehmervertrags und begründete diese unter anderem mit der rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme der Kündigungsmöglichkeit nach § 650f BGB. Das Landgericht hat der auf Stellung einer Bauhandwerkersicherung in Höhe von 498.850 € gerichteten Klage in Höhe von 216.700 € stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg gehabt. Eine Bauhandwerkersicherung gemäß § 650f Abs. 1 BGB könne auch nach Kündigung des Bauvertrags verlangt werden, denn der Sicherungsanspruch sei bereits mit Abschluss des Bauvertrags entstanden und bestehe dem Grunde nach nach der Kündigung des Vertrags fort. Die Klägerin habe berechtigt nach § 650f Abs. 5 Satz 1 BGB gekündigt, weil die Beklagte den wirksam entstandenen Anspruch der Klägerin auf Gestellung einer Bauhandwerkersicherung pflichtwidrig nicht erfüllt habe. Mit der Kündigung durch die Klägerin sei das Vertragsverhältnis mit sofortiger Wirkung beendet worden. Die spätere Kündigung der Beklagten sei deshalb nicht mehr von Bedeutung, weil ein durch eine wirksame Kündigungserklärung bereits umgestaltetes Vertragsverhältnis nicht durch eine weitere Kündigungserklärung erneut umgestaltet werden könne. Die Kündigung wirke sich auf die Höhe der zu sichernden Forderung im Zeitpunkt des Sicherungsverlangens aus. Der Unternehmer müsse die Höhe der ihm nach der Kündigung zustehenden Vergütung auf der Grundlage der vertraglichen Vereinbarung schlüssig darlegen. Dazu müsse er grundsätzlich eine Abrechnung der erbrachten und nicht erbrachten Leistungen, regelmäßig durch eine Schlussrechnung, vornehmen. Der Unternehmer müsse sich nach § 650f Abs. 5 BGB auf die vereinbarte Vergütung dasjenige anrechnen lassen, was er infolge der Aufhebung des Vertrages erspart habe. Werde ein Pauschalpreisvertrag gekündigt, sei die Höhe der Vergütung für die erbrachten Leistungen nach dem Verhältnis des Werts der erbrachten Teilleistung zum Wert der nach dem Pauschalvertrag geschuldeten Gesamtleistung zu errechnen. Der Unternehmer müsse deshalb das Verhältnis der bewirkten Leistungen zur vereinbarten Gesamtleistung und des Preisansatzes für die Teilleistungen zum Pauschalpreis darlegen. Sofern der Unternehmer die Höhe der ersparten Aufwendungen nicht (schlüssig) darlege oder darlegen könne, streite für ihn die Vermutung des § 650f Abs. 5 Satz 3 BGB, wonach ihm 5 Prozent der auf den noch nicht erbrachten Teil der Werkleistung entfallenden vertraglich vereinbarten Vergütung zustehe. Zwar habe die Klägerin erbrachte und nicht erbrachte Leistungen nicht voneinander abgegrenzt und keine Schlussrechnung erstellt. Dies sei zur schlüssigen Darlegung der zu sichernden Forderung ausnahmsweise nicht erforderlich, weil sich deren Höhe ohne Weiteres aus den gesetzlichen Regelungen in Verbindung mit der vertraglich vereinbarten Pauschalfestpreisvergütung ergebe. Mit der Klage verlange die Klägerin für die erbrachten Leistungen zulässigerweise lediglich eine Sicherung in Höhe eines Teilvergütungsanspruchs von 5 %. Die Vorlage einer Schlussrechnung mit der Unterscheidung der Vergütung für erbrachte und nicht erbrachte Leistungen sei für die schlüssige Darlegung des Sicherungsverlangens nicht erforderlich. Einer weitergehenden Individualisierung der mit der Klage verlangten Sicherungsforderung bedürfe es nicht, weil es sich bei den geltend gemachten 5 % der nicht erbrachten Leistungen und dem Anteil von 5 % der erbrachten Leistungen lediglich um unselbständige Rechnungsposten einer einheitlichen Forderung und nicht um selbständige prozessuale Ansprüche handele. Die Klägerin mache 5 % des vereinbarten Pauschalpreises, bestehend aus der gesetzlich vermuteten Pauschale von 5 % für die nicht erbrachten Leistungen und einen Teil des Werklohns von 5 % für die erbrachten Leistungen geltend. Die Vermutung eines Anspruchs von 5 % der vereinbarten Vergütung bestehe zwar für die Vergütung erbrachter Leistungen nicht. Die Klägerin mache aber für die erbrachten Leistungen von der Vergütung im Umfang von 100 %, die sie im Sicherungsprozess verlangen könnte, lediglich einen Teil von 5 % geltend. Dem Werkunternehmer stehe es frei, zunächst eine Sicherheit lediglich für einen Teil seines gesamten Vergütungsanspruchs zu verlangen. Der Anspruch der Klägerin auf Sicherheitsleistung bestehe in Höhe von 216.700 €. Die von der Klägerin verlangte Sicherung in Höhe von 5 % der vereinbarten Vergütung für die nicht erbrachten Leistungen zuzüglich eines Anteils von 5 % der vereinbarten Vergütung für die erbrachten Leistungen, rechnerisch 5 % der vertraglich vereinbarten Gesamtpauschalfestpreisvergütung von 9.340.000 €, belaufe sich auf 467.000 €. Hierauf habe die Beklagte eine Teilzahlung von 270.000 € geleistet, so dass insoweit kein Sicherungsbedürfnis mehr bestehe. Zu den verbleibenden 197.000 € seien 10 % für Nebenforderungen hinzuzurechnen (OLG Stuttgart, Urteil vom 17. Januar 2023 – 10 U 91/22).  

Die Revision der Beklagten hat nur teilweise, nämlich insoweit Erfolg, als das Berufungsgericht die Beklagte zur Leistung einer den Betrag von 134.680,68 € übersteigenden Sicherheit verurteilt hat. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht entschieden, dass die Klägerin dem Grunde nach einen Anspruch gemäß § 650f Abs. 1 Satz 1 BGB darauf hat, dass die Beklagte ihr eine Bauhandwerkersicherung für die vereinbarte und noch nicht gezahlte Vergütung einschließlich dazugehöriger Nebenforderungen stellt, deren Höhe sich als Rechtsfolge der durch die Klägerin wirksam erklärten außerordentlichen Kündigung nach § 650f Abs. 5 Satz 2 und 3 BGB bestimmt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 650f Abs. 1 Satz 1 BGB sind erfüllt, denn die Klägerin begehrt Sicherheit für noch nicht gezahlte Vergütung aus einem Bauvertrag nach § 650a Abs. 1 BGB. Der Anspruch der Klägerin auf eine Bauhandwerkersicherung scheitert nicht daran, dass der Bauvertrag gekündigt ist. Eine auf § 650f Abs. 5 Satz 1 Fall 2 BGB gestützte Kündigung des Unternehmers beeinflusst den Anspruch auf Gestellung einer Sicherheit gemäß § 650f Abs. 1 BGB dem Grunde nach nicht, sondern nur dessen Höhe. Die vorzeitige Beendigung eines Bauvertrags lässt das Sicherungsbedürfnis des Unternehmers nicht entfallen, weil dessen Anspruch auf die vereinbarte und nicht gezahlte Vergütung weiterhin der Sicherheit bedarf. Dies gilt auch für den Fall, dass der Unternehmer den Bauvertrag nach § 650f Abs. 5 BGB gekündigt hat, weil der Besteller seinem berechtigten (ersten) Verlangen nach einer Bauhandwerkersicherung nicht nachgekommen ist.

Es bestehen keine revisionsrechtlichen Bedenken gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die von der Beklagten am 16. Juni 2021 ausgesprochenen Kündigung habe keine Rechtswirkungen mehr entfalten können. Zutreffend hat das Berufungsgericht diese als unbeachtlich behandelt, weil das Vertragsverhältnis bei Ausspruch dieser Kündigung bereits anderweitig umgestaltet war. Denn die Klägerin hatte den Generalübernehmervertrag zuvor wirksam außerordentlich gekündigt. Hierzu war sie gemäß § 650f Abs. 5 Satz 1 Fall 2 BGB berechtigt, weil die Beklagte ihrem Sicherungsverlangen nicht fristgerecht entsprochen hatte. Dem Sicherungsverlangen standen keine durchgreifenden Einwendungen entgegen. Eigene Vertragstreue ist kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 650f Abs. 5 Satz 1 Fall 2 BGB. Es stellt keine unzulässige Rechtsausübung und keinen Verstoß gegen das bauvertragliche Kooperationsgebot dar, wenn dem Sicherungsverlangen des Unternehmers auch andere Motive als die bloße Erlangung einer Sicherheit zugrunde liegen. Soweit die Beklagte geltend macht, die Klägerin könne sich auf die Rechtsfolgen ihrer eigenen außerordentlichen Kündigung nach § 242 BGB nicht berufen, sind die dazu vorgetragenen Tatsachen streitig und deshalb einer Klärung durch Beweisaufnahme im vorliegenden Sicherungsprozess nicht zugänglich.      

Von Rechtsfehlern beeinflusst ist jedoch die Bestimmung der Höhe des sicherbaren Anspruchs. Dieser besteht unter Berücksichtigung der bereits geleisteten Zahlung der Beklagten nur in Höhe von 134.680,68 €. Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass eine Sicherung nicht mehr bezogen auf die ursprünglich vertraglich vereinbarte Vergütung gemäß § 631 Abs. 1 BGB, sondern nur noch bezogen auf die Vergütung in der Höhe verlangt werden kann, die die Klägerin als Rechtsfolge der wirksam erfolgten außerordentlichen Kündigung für sich reklamiert. Der Unternehmer muss die Höhe des Sicherheitsverlangens seinem ihm nach der Kündigung verbleibenden Vergütungsanspruch anpassen. Als Folge der wirksamen Kündigung der Klägerin bestimmt sich die Höhe des sicherbaren Anspruchs gemäß § 650f Abs. 5 Satz 2 und 3 BGB. Gemäß § 650f Abs. 5 Satz 2 BGB kann der Unternehmer die vereinbarte Vergütung verlangen, muss sich jedoch dasjenige anrechnen lassen, was er infolge der Aufhebung des Vertrages an Aufwendungen erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erspart oder böswillig zu erwerben unterlässt. Im Sicherungsprozess muss der Unternehmer die Höhe des zu sichernden Vergütungsanspruchs schlüssig darlegen. Zur Ermittlung der Höhe des Anspruchs nach § 650f Abs. 5 BGB bedarf es grundsätzlich der schlüssigen Darlegung der vereinbarten Vergütung, der Abgrenzung erbrachter Leistungen von den nicht erbrachten Leistungen sowie der Darlegung, welche Kosten der Unternehmer erspart hat und welchen anderweitigen Erwerb er sich anrechnen lassen muss. Haben die Parteien einen Pauschalpreisvertrag geschlossen, bestimmt sich die Höhe der Vergütung für die erbrachten Leistungen nach dem Verhältnis des Werts der erbrachten Teilleistungen zum Wert der vereinbarten Gesamtleistung. Der Unternehmer muss deshalb das Verhältnis der bewirkten Leistungen zur vereinbarten Gesamtleistung und des Preisansatzes für die Teilleistungen zum Pauschalpreis darlegen.

Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht an, dass der Vortrag der Klägerin für die Bemessung der Sicherheit gleichwohl schlüssig ist. Die Klägerin begehrt die Sicherung einer Vergütung gemäß § 650f Abs. 5 Satz 2 und 3 BGB in Höhe von insgesamt 5 % des vereinbarten Pauschalpreises. Bezogen auf die nicht erbrachten Leistungen stützt sie sich auf die gesetzlich vermutete Pauschale nach § 650f Abs. 5 Satz 3 BGB. Als Sicherheit für die erbrachten Leistungen verlangt sie nicht die Vergütung in voller Höhe, sondern macht auch diesbezüglich nur 5 % der vereinbarten Vergütung gestützt auf die Pauschalierung nach § 650f Abs. 5 Satz 3 BGB geltend. Das Vorbringen der Klägerin zur Berechnung ihrer Vergütung ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht deshalb unschlüssig, weil die Klägerin die von ihr bereits erbrachten Leistungen nicht von den noch ausstehenden Leistungen abgegrenzt und, wie für Pauschalpreisverträge notwendig, die entsprechende Vergütung dem erbrachten und nicht erbrachten Leistungsteil zugeordnet hat. Zwar bedarf es zur Ermittlung der kündigungsbedingt geschuldeten Vergütung aus einem Pauschalpreisvertrag grundsätzlich einer solchen Darlegung. Diese war jedoch entbehrlich, weil die Klägerin, in Kenntnis, dass sie keine solche Aufstellung erstellt hat, bezogen auf die erbrachten Leistungen nicht die darauf entfallende volle Vergütung, sondern lediglich einen fünfprozentigen Anteil geltend macht. Der Beklagten erwächst kein Nachteil, wenn die Klägerin mit ihrer Forderung hinter dem zurückbleibt, was sie als Vergütung für erbrachte Leistungen tatsächlich fordern könnte. Der Unternehmer kann sein Sicherungsverlangen auf einen Teilbetrag beschränken. Die Klägerin macht als Teil des Sicherungsverlangens für erbrachte Leistungen lediglich die kündigungsbedingte Vergütung in der Höhe geltend, welche sie beanspruchen könnte, wenn sie keinerlei Leistungen erbracht hätte. Eine solche Vergütung steht ihr ausgehend von der Vermutungsregelung des § 650f Abs. 5 Satz 3 BGB in jedem Fall zu.

Der Schlüssigkeit steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin keine Angaben zu einem anderweitigen Erwerb iSv. § 650f Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 Fall 2 BGB gemacht hat. Zugunsten der Klägerin gilt die Vermutungsregel des § 650f Abs. 5 Satz 3 BGB, die gerade eine Vereinfachung für Unternehmer ermöglicht, die wie die Klägerin Schwierigkeiten haben, die kündigungsbedingt geschuldete Vergütung nach § 650f Abs. 5 Satz 2 BGB schlüssig darzustellen.  

Das Vorbringen ist auch ohne Vorlage einer Schlussrechnung schlüssig. Die Angaben, die üblicherweise zur Abrechnung eines gekündigten Pauschalpreisvertrags in die Schlussrechnung einfließen, sind kein Selbstzweck, sondern dienen dem Informations- und Kontrollinteresse des Bestellers. Benötigt dieser keine weiteren Informationen, um die Forderungsberechnung nachzuvollziehen, kann die Vorlage einer Schlussrechnung entbehrlich sein. Diese für die Geltendmachung der Vergütung entwickelten Überlegungen können auf die Bestimmung der Höhe des Sicherungsverlangens übertragen werden. Weiterer Angaben oder der Vorlage einer Schlussrechnung bedarf es nicht, wenn sich die Höhe des Sicherungsverlangens ohne weiteres aus dem Gesetz und der vertraglich vereinbarten Pauschalfestpreisvergütung ergibt. Dies ist der Fall, denn die Höhe der geforderten Sicherheit, die die Klägerin auf die Mindestvergütung beschränkt hat, die ihr zustehen würde, hätte sie keinerlei Leistungen erbracht, kann ohne Abgrenzung der erbrachten von den nicht erbrachten Leistungsteilen dem Gesetz entnommen und anhand des vereinbarten Pauschalbetrags ermittelt werden.    

Das Berufungsgericht hat jedoch zu Unrecht unberücksichtigt gelassen, dass der Unternehmer auf den Teil der Vergütung, der für noch nicht erbrachte Leistungen geltend gemacht wird, keine Umsatzsteuer berechnen darf. Dies hat zur Folge, dass die Klägerin nur eine Sicherheit für die geschuldete Nettovergütung beanspruchen kann. Der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, dass der Vergütungsanspruch im Sicherungsprozess lediglich summarisch geprüft werde und es deshalb nicht darauf ankomme, wie die spätere Abrechnung erfolgt, ist unzutreffend. Die Bemessung der Höhe der Sicherheit knüpft materiell-rechtlich an die Vergütung an, die der Unternehmer im Zeitpunkt des Sicherungsverlangens noch verlangen kann und die er darum schlüssig darzulegen hat. Grundsätzlich hat der Unternehmer Anspruch auf den vereinbarten Nettowerklohn zuzüglich Umsatzsteuer, mit der Folge, dass der Bruttobetrag für die Bemessung der Sicherheit maßgeblich ist. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Unternehmer nicht Umsatzsteuerschuldner ist, weil dann kein Sicherungsbedürfnis hinsichtlich des Umsatzsteuerbetrags besteht. Besteht der zu sichernde Vergütungsanspruch nur in Höhe des Nettobetrags, kann der Unternehmer nur in diesem Umfang Sicherheit verlangen. Kann der Unternehmer eine Belastung mit Umsatzsteuer nicht schlüssig darlegen, muss die Klage auf Gestellung einer Sicherheit bezogen auf den Umsatzsteueranteil abgewiesen werden. Weil die Klägerin die erbrachten Leistungen und die Höhe der hierfür beanspruchten Vergütung nicht schlüssig dargelegt hat, kann auch die Höhe der hierauf zu zahlenden Umsatzsteuer nicht bestimmt werden. Im Interesse der Beklagten, die davor geschützt werden muss, eine Sicherheit leisten zu müssen, welche das Sicherungsbedürfnis der Klägerin übersteigt, kann die Klägerin darum die Sicherheit insgesamt nur bezogen auf die Nettovergütung verlangen. Ausgehend hiervon berechnet sich die Höhe der zu leistenden Sicherheit nach der vertraglich vereinbarten Gesamtpauschalfestpreisvergütung von 9.340.000 € brutto, was einem Nettobetrag von 7.848.739,50 € entspricht. Der von der Klägerin verlangte Sicherungsbetrag bezogen auf fünf Prozent der vereinbarten Vergütung für die nicht erbrachten Leistungen und eines Anteils von fünf Prozent der vereinbarten Vergütung für die erbrachten Leistungen beläuft sich rechnerisch auf fünf Prozent der Nettovergütung und damit auf 392.436,98 €. Hiervon ist die geleistete Teilzahlung in Höhe von 270.000 € abzuziehen. Dem danach verbleibenden Restbetrag von 122.436,98 € sind zehn Prozent für Nebenforderungen hinzuzurechnen, so dass sich eine zu sichernde Vergütung in Höhe von 134.680,68 € ergibt.

3. Kontext der Entscheidung

Der Anspruch auf eine Sicherheit nach § 650f BGB besteht auch nach einer Kündigung. Das Gesetz enthält insoweit keine Beschränkungen. Diese sind auch nicht deshalb veranlasst, weil nach einer Kündigung regelmäßig keine Vorleistungen des Unternehmers mehr ausstehen. Denn es kommt seit der Neufassung der Vorgängervorschrift des § 648a BGB durch das zum 1. Januar 2009 geltende Forderungssicherungsgesetz nicht mehr darauf an, ob der Unternehmer noch Vorleistungen erbringen muss. Das Gesetz stellt sei der der Neufassung des § 648a BGB a.F. und auch in § 650f BGB konsequent auf das Sicherungsinteresse des Unternehmers ab, das solange besteht, wie sein Vergütungsanspruch nicht befriedigt worden ist. Es reicht daher für einen Anspruch des Unternehmers gegen den Besteller auf Leistung einer Sicherheit aus, dass dem Unternehmer noch ein Vergütungsanspruch zusteht (BGH, Urteil vom 6. März 2014 – VII ZR 349/12 –, Rn. 14). Zur Geltendmachung dieses Anspruchs muss der Unternehmer die ihm nach einer Kündigung zustehende Vergütung nur schlüssig darlegen (BGH, Urt. v. 06. März 2014 - VII ZR 349/12, Rn. 29). Ist im Rahmen einer Sicherungsklage gemäß § 650f Abs. 1 BGB die Höhe der Unternehmervergütung zwischen den Parteien umstritten, ist es zulässig und in aller Regel auch geboten, dass das Gericht die Sicherheitsleistung, zu der es den Besteller verurteilt, in freier Überzeugung gemäß § 287 Abs. 2 ZPO festsetzt (BGH, Urteil vom 17. August 2023 – VII ZR 228/22 –, Rn. 31). Sind die tatsächlichen Voraussetzungen der Berechnung des dargelegten Vergütungsanspruchs streitig, ist dem Unternehmer für seine schlüssig dargelegte Vergütung eine Sicherheit ohne Klärung der Streitfragen zu gewähren. Anderes gilt, wenn die Klärung der Streitfragen nicht zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führt (dazu im Einzelnen: Schwenker NJW 2014, 2189).

4. Auswirkungen für die Praxis

Der VII. Zivilsenat hat entschieden, dass die gemäß § 649 Satz 2 BGB a.F. (heute: § 648 Abs. 2 BGB) nach freier Kündigung eines Bauvertrages zu zahlende Vergütung nur insoweit Entgelt im Sinne von § 10 Abs. 1 UStG und damit Bemessungsgrundlage für den gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG steuerbaren Umsatz ist, als sie auf schon erbrachte Leistungsteile entfällt. Der Anspruch aus § 649 Satz 2 BGB a.F. stelle eine Entschädigung dar und sei kein Entgelt und damit kein Bestandteil der Besteuerungsgrundlage der Mehrwertsteuer (BGH, Versäumnisurteil vom 22. November 2007 – VII ZR 83/05 -, Rn. 17). Dies gilt genauso für den Anspruch des Unternehmers nach § 650f Abs. 5 Satz 2 BGB, der § 648 Satz 2 BGB nachgebildet ist. Bemessungsgrundlage für den Mindestanspruch nach § 650f Abs. 5 Satz 3 BGB kann daher nur die Nettovergütung des Unternehmers sein. Die entgegenstehenden und kaum nachzuvollziehenden Überlegungen des Berufungsgerichts sind daher mit der Rechtsprechung des BGH nicht in Übereinstimmung zu bringen. Ob die Auffassung des VII. Zivilsenats zum Entschädigungscharakter des Anspruchs aus §§ 648 Satz 2, 650f Abs. 5 Satz BGB die Billigung des BFH findet, steht jedoch nicht fest, sodass der für die Rechtsverfolgung einzuschlagende sicherste Weg einen entsprechenden ergänzenden Feststellungsantrag vorsehen sollte.

28.3.2024
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BGH: Vertragstrafeklausel im EP-Vertrag

Die vom Auftraggeber in einem Einheitspreisvertrag verwendeten Vertragsstrafenklausel "Der Auftragnehmer hat bei Überschreitung ... der Frist für die Vollendung als Vertragsstrafe für jeden Werktag des Verzugs zu zahlen: 0,2 v.H. der im Auftragsschreiben genannten Auftragssumme ohne Umsatzsteuer; Die Vertragsstrafe wird auf insgesamt 5 v. H. der im Auftragsschreiben genannten Auftragssumme (ohne Umsatzsteuer) begrenzt." ist nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam.

BGH, Urteil vom 15. Februar 2024 – VII ZR 42/22

1. Problemstellung

Der VII. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob eine vom Auftraggeber in einem Einheitspreisvertrag gestellte Vertragsstrafenklausel der Inhaltskontrolle standhält, die auf 5 % der im Auftragsschreiben genannten Auftragssumme begrenzt ist.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin begehrt die Zahlung von Restwerklohn. Sie gab im Rahmen einer auf Einheitspreisen basierenden Ausschreibung der Beklagten am 23. März 2016 ein Angebot ab, das auf die Allgemeinen Vertragsbedingungen für Bauleistungen VOB/B, Ausgabe 2012, und auf die Besonderen Vertragsbedingungen (BVB-VOB) der Beklagten Bezug nahm. Die Vertragsbedingungen sahen einen Auftragsbeginn zum 18. Juli 2016 und eine abnahmereife Fertigstellung zum 30. November 2017 vor. Die BVB-VOB enthielten in Ziffer 2 folgende Vertragsklausel zur Vertragsstrafe: "2. Vertragsstrafen (§ 11 VOB/B) - 2.1 Der Auftragnehmer hat bei Überschreitung der unter 1. genannten Einzelfristen oder der Frist für die Vollendung als Vertragsstrafe für jeden Werktag des Verzugs zu zahlen: 0,2 v.H. der im Auftragsschreiben genannten Auftragssumme ohne Umsatzsteuer; (…) - 2.2 Die Vertragsstrafe wird auf insgesamt 5 v. H. der im Auftragsschreiben genannten Auftragssumme (ohne Umsatzsteuer) begrenzt. - 2.3 Verwirkte Vertragsstrafen für den Verzug wegen Nichteinhaltung verbindlicher Zwischentermine (Einzelfristen als Vertragsfristen) werden auf eine durch den Verzug wegen Nichteinhaltung der Frist für die Vollendung der Leistung verbürgte Vertragsstrafe angerechnet."

In einem Bietergespräch, in dem über die Vertragsstrafe nicht verhandelt wurde, wurde die Klägerin aufgefordert, ein überarbeitetes Angebot einzureichen. Unter Bezugnahme auf dieses Bietergespräch gab die Klägerin mit Schreiben vom 20. April 2016 ein "aktualisiertes Angebot" mit einem Kurz-Leistungsverzeichnis ab, das keine Bezugnahme auf die in den Ausschreibungsunterlagen enthaltenen Anlagen, darunter auch die BVB-VOB, enthielt. Die Beklagte beauftragte die Klägerin mit der Erschließung von 1.583 Hausanschlüssen mit Glasfaserkabeln gemäß ihrem Angebot vom 20. April 2016 für die Angebotssumme in Höhe von 5.680.275,54 € netto zuzüglich der gesetzlichen Umsatzsteuer. Die Werkleistungen der Klägerin waren am 8. August 2018 fertig gestellt und wurden von der Beklagten am 26. September 2018 abgenommen. Den in der Schlussrechnung für die beauftragten Leistungen sowie für Nachträge abgerechneten Betrag von insgesamt 5.126.412,10 € netto (6.100.430,40 € brutto), zahlte die Beklagte mit Ausnahme eines Betrags von 284.013,78 €, den sie gegenüber der Klägerin als Vertragsstrafe geltend macht.

Das Landgericht hat der Klage auf Zahlung von 284.013,78 € sowie vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, jeweils nebst Zinsen, stattgegeben. Die Parteien hätten eine Vertragsstrafe nicht vereinbart, weil der Vertrag nach dem Auftragsschreiben der Beklagten vom 1. Juni 2016 auf der Grundlage des Angebots vom 20. April 2016 geschlossen worden sei, das eine Bezugnahme auf Ziffer 2 der BVB-VOB der Beklagten nicht enthalte; das frühere Angebot vom 23. März 2016 sei hierdurch erloschen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Das Landgericht sei unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten zu der Annahme gelangt, dass die Vertragsstrafe nicht vereinbart worden sei. Soweit es angenommen habe, das Angebot der Klägerin vom 23. März 2016 sei durch das Angebot vom 20. April 2016 gemäß §§ 146, 150 BGB erloschen, habe das Landgericht aber Vortrag der Beklagten übergangen, wonach die Klägerin nach Ziffer 4 des ersten Angebots bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist (= Bindefrist) an dieses gebunden gewesen sei. Aus den erstinstanzlichen Feststellungen ergäben sich keine Anhaltspunkte, dass die Beklagte das Angebot vom 23. März 2016 abgelehnt habe. Entgegen der Annahme des Landgerichts sei die Vertragsklausel über die Vereinbarung der Vertragsstrafe nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. Die Höhe der Vertragsstrafe von maximal 5 % könne auf die Angebotssumme bezogen werden, weil diese im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bei einem Einheitspreisvertrag sicher feststehe. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass ein Verstoß gegen das Transparenzgebot vorliege, weil offen sei, was zur späteren Abrechnungssumme gehöre.  

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung der stattgebenden Entscheidung des Landgerichts. Der als solcher unstreitigen Restwerklohnforderung der Klägerin kann die Beklagte von vorneherein keinen Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe wegen Überschreitung der Frist für die Vollendung gemäß Ziffer 2.1, 2.2 der BVB-VOB entgegenhalten, insbesondere mit einem solchen Anspruch nicht die Aufrechnung erklären. Denn diese Vertragsklausel hält bei Verwendung durch den Auftraggeber einer Inhaltskontrolle nicht stand. Sie ist gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam, weil sie den Auftragnehmer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt. Es kann daher dahinstehen, ob die Vertragsstrafenregelung überhaupt in den Vertrag der Parteien einbezogen wurde und worauf die Verzögerung der Vollendung beruhte. Die Vertragsstrafenklausel in Ziffer 2.1, 2.2 der BVB-VOB ist eine Allgemeine Geschäftsbedingung iSv. § 305 Abs. 1 BGB. Verwenderin im Verhältnis zur Klägerin ist die Beklagte, deren Ausschreibung die BVB-VOB enthielt. Nach Ziffer 2.1, 2.2 der BVB-VOB ist die Vertragsstrafe für die Überschreitung der Frist für die Vollendung, wie eine Auslegung dieser Bestimmungen ergibt, auf insgesamt 5 % der vor der Ausführung des Auftrags vereinbarten Netto-Auftragssumme begrenzt. Eine solche Regelung über die Bezugsgröße der Vertragsstrafe beeinträchtigt bei einem Einheitspreisvertrag, wie er hier geschlossen wurde, den Auftragnehmer als Vertragspartner des Verwenders nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden. Dabei sind die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen. Ansatzpunkt für die bei einer Formularklausel gebotene objektive Auslegung ist in erster Linie ihr Wortlaut. Nach diesen Grundsätzen ist zunächst davon auszugehen, dass die Bestimmung über die Vertragsstrafe für die Überschreitung der Frist für die Vollendung in Ziffer 2.1, 2.2 der BVB-VOB nach der Vertragsgestaltung eine eigenständige Regelung darstellt, die inhaltlich, optisch und sprachlich von der Vertragsstrafe für die Überschreitung sonstiger Termine getrennt ist. Als solche kann sie einer eigenen Inhaltskontrolle unterzogen werden. Die Auslegung des Begriffs der "im Auftragsschreiben genannten Auftragssumme (ohne Umsatzsteuer)" in Ziffer 2.1, 2.2 der BVB-VOB führt nach dem eindeutigen Wortlaut dazu, dass sich die Höhe der Vertragsstrafe nach der vor der Ausführung des Auftrags vereinbarten Netto-Auftragssumme richtet. Zwar ist der Begriff der "Auftragssumme" als solcher grundsätzlich unterschiedlichen Deutungen zugänglich. Hierunter kann - nach den jeweiligen Gegebenheiten - einerseits die nach der Abwicklung des Vertrags geschuldete Vergütung zu verstehen sein, andererseits aber auch derjenige Wert, der sich nach der von den Parteien vor der Ausführung des Auftrags vereinbarten Vergütung bemisst. Vorliegend ist allerdings durch die ausdrückliche Anknüpfung an die "im Auftragsschreiben genannte[n]" Netto-Auftragssumme zweifelsfrei klargestellt, dass als Bezugsgröße der Wert gemeint ist, der sich nach der von den Parteien vor der Ausführung des Auftrags vereinbarten Netto-Vergütung der Klägerin bemisst. Im Zeitpunkt der schriftlichen Auftragserteilung steht bei einem Einheitspreisvertrag, bei dem die Mengen und Massen nach dem (späteren) tatsächlichen Verbrauch berechnet werden, nur diese Vergütung fest.

Ausgehend von diesem Klauselverständnis ist die Bestimmung über die Vertragsstrafe für die Überschreitung der Frist für die Vollendung in Ziffer 2.1, 2.2 der BVB-VOB bei Verwendung in einem Einheitspreisvertrag, wie er hier geschlossen wurde, gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. Nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ist eine formularmäßige Vertragsbestimmung unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt. Letzteres ist der Fall, wenn der Verwender durch einseitige Vertragsgestaltung missbräuchlich eigene Interessen auf Kosten seines Vertragspartners durchzusetzen versucht, ohne von vornherein auch dessen Belange hinreichend zu berücksichtigen und ihm einen angemessenen Ausgleich zuzugestehen. Eine in AGB des Auftraggebers enthaltene Vertragsstrafenklausel benachteiligt den Auftragnehmer unangemessen, wenn sie eine Höchstgrenze von mehr als 5 % der Auftragssumme bei Überschreiten des Fertigstellungstermins vorsieht (BGH, Versäumnisurteil vom 23. Januar 2003 - VII ZR 210/01, Rn. 58 ff.). Diese Rechtsprechung knüpft maßgeblich an die mit der Strafe verfolgte Druckfunktion an, den Auftragnehmer zur ordnungsgemäßen Erbringung seiner Leistungen anzuhalten. Zugleich soll sie den Auftraggeber in den Stand setzen, sich bei Verletzung der sanktionierten Vertragspflichten jedenfalls bis zur Höhe der Vertragsstrafe ohne Einzelnachweis schadlos zu halten. Allerdings müssen auch die Interessen des Auftragnehmers berücksichtigt werden, insbesondere, dass die für die Überschreitung eines Termins vereinbarte Vertragsstrafe unter Berücksichtigung ihrer Druck- und Kompensationsfunktion in einem angemessenen Verhältnis zum Werklohn steht, den der Auftragnehmer durch seine Leistung verdient. Die Druckfunktion erlaubt dabei zwar durchaus eine spürbare Vertragsstrafe, es ist aber darauf zu achten, dass sich die Vertragsstrafe in wirtschaftlich vernünftigen Grenzen hält. Gemessen daran ist eine Vertragsstrafe von über 5 % der Auftragssumme zu hoch. Der Auftragnehmer wird typischerweise durch den Verlust von mehr als 5 % seines Vergütungsanspruchs unangemessen belastet Diesen Wirksamkeitsanforderungen wird die in Rede stehende Klausel bei Verwendung in einem Einheitspreisvertrag, wie er hier geschlossen wurde, nicht gerecht. Maßgebliche Bezugsgröße für die vorgenannte Grenze von 5 % des Vergütungsanspruchs des Auftragnehmers ist die Abrechnungssumme in ihrer objektiv richtigen Höhe. Das folgt aus der Orientierung des Grenzwerts an dem tatsächlichen "Verdienst" des Auftragnehmers, der typischerweise durch den Verlust von über 5 % der Vergütungssumme in vielen Fällen nicht nur seinen Gewinn verliert, sondern einen spürbaren Verlust erleidet. Dem entspricht es, dass für einen möglichen Schaden des Auftraggebers, den die Vertragsstrafe widerzuspiegeln hat, gleichfalls nicht die vor Ausführung des Auftrags vereinbarte, sondern die an den Auftragnehmer tatsächlich zu zahlende Vergütung bestimmend ist. Bei einem Einheitspreisvertrag, wie er hier geschlossen wurde, kann bei der gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise die Anknüpfung der Vertragsstrafe an die vor Auftragsdurchführung vereinbarte (Netto-)Auftragssumme im Falle einer - aus unterschiedlichen Gründen (etwa durch Verringerung der tatsächlich ausgeführten gegenüber den bei Vertragsschluss zugrunde gelegten Mengen) nicht bloß theoretisch denkbaren - nachträglichen Absenkung des Auftragsvolumens dazu führen, dass die vom Auftragnehmer zu erbringende Strafzahlung die Grenze von 5 % seines Vergütungsanspruchs - unter Umständen erheblich - übersteigt. Die damit verbundene, den Auftragnehmer im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unangemessen benachteiligende und damit zur Unwirksamkeit der Klausel führende Privilegierung des Auftraggebers wird innerhalb der Regelung nicht anderweit, etwa durch einen dem gegenüberstehenden Vorteil für den Auftragnehmer, ausgeglichen. Die Klausel enthält insbesondere auch keine Vorkehrungen (beispielsweise durch einen Vorbehalt oder in anderer geeigneter Weise), durch die der Gefahr einer Überschreitung der für die Vertragsstrafe maßgeblichen Grenze angemessen Rechnung getragen wird. Die Erwägung des Berufungsgerichts, es bestehe ein praktisches Bedürfnis für die Anknüpfung an die im Vertrag vereinbarte Auftragssumme, rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise. Dass im Zeitpunkt des Auftragsschreibens die endgültige Abrechnungssumme noch nicht feststeht, begründet entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht die Gefahr, dass eine Regelung unklar wäre, die auf die endgültige Vergütung abstellte, weil sie Auslegungsspielräume dafür eröffne, was zur späteren Abrechnungssumme gehöre. Den Parteien ist bei Vereinbarung eines Prozentsatzes im Gegensatz zu einem festen Betrag klar, dass die Höhe der Vertragsstrafe kein feststehender Betrag ist. Besteht Streit darüber, welche Vergütung der Auftragnehmer zu Recht beanspruchen kann, muss dies gegebenenfalls gerichtlich geklärt werden.

3. Kontext der Entscheidung

Die Angemessenheitskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB hat anhand einer generalisierenden Betrachtungsweise zu erfolgen. Sie setzt eine wechselseitige Berücksichtigung und Bewertung der rechtlich anzuerkennenden Interessen der Vertragspartner voraus. Im Rahmen der Angemessenheitskontrolle ist zu überprüfen, ob die Obergrenze der Vertragsstrafe generell und typischerweise für die Art von Verträgen, für die sie vorformuliert wurde, angemessen ist (Marie Herberger in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 339 BGB (Stand: 19.03.2024), Rn. 108 mwN.). Dabei kommt es darauf an, ob allgemein bei Verträgen der von den Parteien geschlossenen Art Nachteile zu erwarten sind, welche die Ausgestaltung der Vertragsstrafe angemessen erscheinen lassen. Fälle einer besonders ungünstigen Schadensentwicklung müssen unberücksichtigt bleiben (BGH, Versäumnisurteil vom 23. Januar 2003 – VII ZR 210/01 –, Rn. 59). Auf dieser Grundlage hat der VII. Zivilsenat entschieden, dass eine Obergrenze einer Vertragsstrafe für die Überschreitung eines Fertigstellungstermins von über 5 % der Auftragssumme zu hoch ist (BGH, Urteil vom 23. Januar 2003 - VII ZR 210/01 -, Rn. 56; BGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 – VII ZR 133/11 –, Rn. 19). Eine geltungserhaltende Reduktion findet nicht statt (so bereits: BGH, Urteil vom 12. März 1981 – VII ZR 293/79 –, Rn. 17).

4. Auswirkungen für die Praxis

Der Senat hat in der Vergangenheit eine Klausel, nach der der Auftragnehmer bei Überschreitung der Ausführungsfrist eine Vertragsstrafe von 0,3 % der Auftragssumme pro Werktag des Verzuges zu zahlen hat, für unwirksam erklärt, weil der Begriff der Auftragssumme im Kontext der Klausel mehrere Deutungen zulässt und daher zu unbestimmt ist. Unter "Auftragssumme" kann zunächst die nach der Abwicklung des Vertrags geschuldete Vergütung zu verstehen sein. Die "Auftragssumme" kann jedoch auch als ein Wert verstanden werden, der sich nach der von den Parteien vor der Ausführung des Auftrags vereinbarten Vergütung bemisst. Bestehen zwei verschiedene gleichwertige Möglichkeiten, den Begriff "Auftragssumme" auszulegen, führt diese Unklarheit dazu, dass die Rechte und Pflichten der Beklagten in der Klausel nicht so klar und präzise wie nötig umschrieben sind (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2007 – VII ZR 28/07 –, Rn. 13 - 14). Heute würde man auf das in § 307 Abs. 3 Satz 2 iVm. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB seit der Schuldrechtsmodernisierung normierte Transparenzgebot zurückgreifen. Dieses verpflichtet den Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen, Rechte und Pflichten seiner Vertragspartner möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dazu gehört nicht nur, dass die einzelne Regelung für sich genommen klar formuliert ist; sie muss auch im Kontext mit dem übrigen Klauselwerk verständlich sein. Die Klausel muss die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen für einen durchschnittlichen Vertragspartner so weit erkennen lassen, wie dies unter Berücksichtigung von Treu und Glauben nach den Umständen gefordert werden kann. Der Vertragspartner des Verwenders muss bereits bei Vertragsschluss erkennen können, was ggf. „auf ihn zukommt“. Eine Vertragsgestaltung, die objektiv dazu geeignet ist, den Vertragspartner bezüglich seiner Rechtsstellung in die Irre zu führen, verstößt gegen das Transparenzgebot (BGH, Urteil vom 23. Januar 2024 – VI ZR 357/22 –, Rn. 9, mwN.).

28.3.2024
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BGH: Voraussetzungen einer Terminsverlegung

1. Eine Terminsverlegung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung, ob bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Verhandlung verlegt, nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch beider Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen.  

2. Erhebliche Gründe iSv. § 227 Abs. 1 ZPO sind regelmäßig solche, die zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebots erfordern. Liegen solche Gründe vor, verdichtet sich das Ermessen des Gerichts zu einer Rechtspflicht, den Termin zu verlegen, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Einem Antrag auf Terminsverlegung oder -vertagung ist daher regelmäßig aufgrund Vorliegens eines erheblichen Grunds stattzugeben.

BGH, Beschluss vom 30. Januar 2024 – VIII ZB 47/23

1. Problemstellung

Mit den Anforderungen an den Parteivortrag bezüglich einer unverschuldeten Säumnis bei Erlass eines zweiten Versäumnisurteils hatte sich der VIII. Zivilsenat zu befassen.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klage ist vom LG Aachen durch Versäumnisurteil abgewiesen worden. Auf den Einspruch des Klägers hat das Landgericht Termin auf den 9. Dezember 2022, 13.00 Uhr bestimmt. In diesem Termin ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers bis um 13.20 Uhr nicht erschienen, sondern hat über seine Kanzlei mitteilen lassen, er befinde sich derzeit noch "im Gerichtsgebäude in Essen" und werde nicht vor 14.30 Uhr zu dem Einspruchstermin erscheinen. Daraufhin hat das LG den Einspruch des Klägers durch zweites Versäumnisurteil als unzulässig verworfen. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt. Einer der Rechtsanwälte der aus drei Mitgliedern bestehenden Sozietät habe an dem Sitzungstag einen unaufschiebbaren Termin gegen 12.00 Uhr vor dem Amtsgericht Marl wahrgenommen. Aufgrund der unerwarteten Erkrankung eines weiteren Mitglieds der Sozietät habe der dritte Sozietätskollege vertretungsweise zwei auf 11.00 Uhr und 11.15 Uhr anberaumte Termine in Essen vor dem dortigen LG und dem AG wahrnehmen müssen. Nachdem der erste vorgenannte Termin, in dem lediglich Anträge hätten gestellt werden sollen, aus unvorhergesehenen Gründen bis 11.30 Uhr gedauert habe, habe der vorgenannte, in Essen befindliche Rechtsanwalt sein Büro gebeten, das LG Aachen über seine voraussichtliche Verspätung zu informieren und gegebenenfalls um eine Verlegung des dortigen Termins zu ersuchen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Prozessbevollmächtigte davon ausgegangen, dass der zweite Termin in Essen aufgrund des einfachen Sachverhalts und der Kürze der dort in Augenschein zu nehmenden Videoaufzeichnung nicht länger als 20 Minuten dauern und er bei einer Fahrtzeit von Essen nach Aachen von circa eineinviertel Stunden allenfalls mit einer Verspätung von 15 Minuten nach Terminsaufruf vor dem LG Aachen erscheinen werde. Vollkommen überraschend und unvorhersehbar sei die zweite Sitzung in Essen jedoch erst um circa 13.00 Uhr beendet worden. Auf Nachfrage, ob der Termin vor dem Landgericht antragsgemäß verschoben worden sei, habe er von seinem Büro die Mitteilung erhalten, dass eine diesbezügliche Rückmeldung noch nicht vorliege. Er habe sein Personal daher gebeten, dort noch einmal nachzufragen. Vorsorglich sei er dennoch zum Landgericht gefahren. Dort sei er um 14.30 Uhr angekommen, habe im Sitzungssaal aber niemanden mehr angetroffen.

Das Oberlandesgericht hat die Berufung - nach einem entsprechenden Hinweis - durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen. Der Kläger habe zu einer unverschuldeten Säumnis im Einspruchstermin nicht schlüssig vorgetragen, so dass die Berufung unzulässig sei. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe nicht ausreichend dargelegt, aus seiner Sicht alles Erforderliche und Zumutbare unternommen zu haben, um den Termin vor dem Landgericht wahrnehmen zu können. Schon bei Beginn der zweiten Verhandlung um 11.30 Uhr in Essen habe der Sitzungsvertreter nicht mehr von seiner rechtzeitigen Ankunft in Aachen ausgehen können. Wie seine eigenen Anweisungen am Sitzungstag belegten, habe er nach einem Sitzungsende um 13.00 Uhr erst mit einer Ankunft nach 14.30 Uhr gerechnet. Selbst wenn jedoch bei dem Prozessbevollmächtigten zunächst die Vorstellung bestanden haben sollte, von Essen aus so rechtzeitig aufbrechen zu können, dass eine Wahrnehmung des Termins in Aachen noch zu gewährleisten gewesen wäre, hätte er doch im Laufe der Sitzung in Essen erkennen müssen, dass dies nicht mehr möglich sein werde. Es hätte daher an ihm als bloßem Vertreter des erkrankten Kollegen gelegen, auf eine Vertagung der Verhandlung in Essen zu drängen. Dies gelte umso mehr, als ihm bewusst gewesen sein müsse, dass in Aachen über den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil verhandelt werden würde und die konkrete Gefahr bestanden habe, dass seine Säumnis zum Erlass eines zweiten Versäumnisurteils - wie geschehen - führe.  

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen, die die Zulässigkeit der Berufung rechtfertigen sollen, innerhalb der Frist zur Berufungsbegründung so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie - ihre Richtigkeit unterstellt - den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat der Kläger nicht schlüssig dargetan, dass sein Prozessbevollmächtigter den Einspruchstermin am 9. Dezember 2022 ohne ein dem Kläger zuzurechnendes Verschulden versäumt hat. Eine Partei ist iSd. §§ 330 ff. ZPO säumig, wenn sie trotz ordnungsgemäßer Bestimmung eines notwendigen Termins zur mündlichen Verhandlung nach Aufruf der Sache am hierzu bestimmten Ort nicht erscheint, bei notwendiger Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht durch einen beim Prozessgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten ist oder nicht zur Sache verhandelt. Nicht schuldhaft ist die Säumnis, wenn die Partei beziehungsweise ihr Prozessvertreter, dessen Verschulden sich die Partei zurechnen lassen muss (§ 85 Abs. 2 ZPO), an der Wahrnehmung des Verhandlungstermins gehindert war und der Termin deshalb hätte verlegt (§ 227 ZPO) oder vertagt (§ 337 Satz 1 ZPO) werden müssen.      

Gemessen hieran war der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht ohne Verschulden gehindert war, an der Sitzung vor dem Landgericht in Aachen am 9. Dezember 2022 teilzunehmen. Der Prozessbevollmächtigte war ordnungsgemäß zu diesem Termin geladen worden war und ist dort bis zum Erlass des zweiten Versäumnisurteils nicht erschienen. Die Säumnis war auch nicht aufgrund der Wahrnehmung von Gerichtsterminen in Essen für den erkrankten Sozietätskollegen unverschuldet. Der Kläger hat in der Berufungsbegründung weder schlüssig dargelegt, dass sein Prozessbevollmächtigter "überraschend und unvorhersehbar" aufgrund der Dauer des erst um 11.30 Uhr beginnenden Termins vor dem AG Essen bis um 13.00 Uhr an der Wahrnehmung des Einspruchstermins in Aachen gehindert gewesen sei, noch, dass wegen einer (absehbaren) Kollision des zweiten in Essen anberaumten Verhandlungstermins mit dem Einspruchstermin der zuletzt genannte Termin hätte verlegt werden müssen. Eine Terminsverlegung oder -vertagung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung, ob bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Verhandlung verlegt oder vertagt wird (§ 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO), nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch beider Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen. Erhebliche Gründe iSv. § 227 Abs. 1 ZPO sind regelmäßig solche, die zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebots erfordern. Liegen solche Gründe vor, verdichtet sich das Ermessen des Gerichts zu einer Rechtspflicht, den Termin zu verlegen oder zu vertagen, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Einem Antrag auf Terminsverlegung oder -vertagung ist daher regelmäßig aufgrund Vorliegens eines erheblichen Grunds stattzugeben. Ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung oder -vertagung und damit eine unverschuldete Säumnis können vorliegen, wenn der Prozessbevollmächtigte kurzfristig und nicht vorhersehbar an der Wahrnehmung des Termins gehindert ist und das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen.    

Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers schon zu Beginn der zweiten Verhandlung in Essen um 11.30 Uhr bei Wahrnehmung dieses Termins nicht mehr von einer rechtzeitigen Ankunft beim LG Aachen ausgehen durfte. Denn der Prozessbevollmächtigte konnte weder von einem pünktlichen Beginn der Sitzung vor dem AG Essen um 11.15 Uhr noch von einer maximal 20minütigen Dauer der dortigen Verhandlung sicher ausgehen. Allein das Vorbringen in der Berufungsbegründung, wonach in der vorhergehenden Verhandlung vor dem LG Essen lediglich Anträge hätten gestellt und in der nachfolgenden Verhandlung vor dem Amtsgericht in Essen bei einem dem Verfahren zugrundeliegenden "einfachen" Sachverhalt nur eine Videoaufzeichnung mit einer Dauer von weniger als zwei Minuten in Augenschein habe genommen werden sollen, rechtfertigte nicht die Annahme, dass die Sitzung vor dem AG Essen zu dem in der Ladung angegebenen Zeitpunkt um 11.15 Uhr beginnen und dann binnen 20 Minuten beendet werden würde. Denn der zeitliche Verlauf einer Sitzung lässt sich - wie der tatsächliche Beginn der Sitzung um 11.30 Uhr und deren Dauer von anderthalb Stunden zeigen - erfahrungsgemäß grundsätzlich nicht zuverlässig voraussagen. Ein Prozessbevollmächtigter muss daher bei seiner Zeitplanung einkalkulieren, dass ein Sitzungstermin eine gewisse, im Voraus nicht sicher absehbare Zeit in Anspruch nehmen wird. Ihm ist zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs bei den Gerichten grundsätzlich zuzumuten, sich während einer - nach den Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalls zu bestimmenden - angemessenen Zeit über den in der Ladung vorgesehenen Verhandlungsbeginn hinaus bei Gericht bereitzuhalten. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers musste deshalb nicht nur einen späteren Beginn der zweiten Sitzung in Essen - von hier lediglich einer Viertelstunde -, sondern auch eine längere Verhandlungsdauer vorsorglich einplanen. Für ihn war deshalb spätestens um 11.30 Uhr absehbar, dass er schon bei einer (einzukalkulierenden) geringfügigen Überschreitung der von ihm angesetzten Verhandlungsdauer selbst unter Berücksichtigung einer möglichen Wartezeit von etwa 15 Minuten nach Aufruf der Sache vor dem LG Aachen, innerhalb derer der gegnerische Prozessbevollmächtigte kein Versäumnisurteil erwirken würde, nicht mehr rechtzeitig in dem Einspruchstermin würde erscheinen können. Allein mit dem späteren Beginn und der tatsächlichen Dauer der Verhandlung vor dem AG Essen konnte der Prozessbevollmächtigte deshalb sein Fernbleiben in dem Einspruchstermin nicht entschuldigen, zumal er auch während der Verhandlung in Essen gegebenenfalls Maßnahmen zur Verhinderung seiner Säumnis hätte ergreifen können und müssen.    

Das Landgericht war auch nicht gehalten, den Einspruchstermin wegen der (absehbaren) Kollision mit dem Verhandlungstermin in Essen auf Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers zu verlegen. Die Verhinderung des Prozessbevollmächtigten einer Partei aufgrund eines bereits zuvor anberaumten kollidierenden Verhandlungstermins kann einen erheblichen Grund für eine Terminsverlegung darstellen. Eine Kollision setzt voraus, dass die Wahrnehmung beider Termine zeitlich nicht möglich ist. In die Entscheidung über die Terminsverlegung sind alle Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls einzubeziehen, beispielsweise die Art des kollidierenden Gerichtstermins und des Zeitpunkts seiner Bestimmung, die Besonderheiten der Mandatsbeziehung, die Möglichkeit, den kollidierenden Termin zu verlegen oder einen der Termine durch einen Vertreter wahrnehmen zu lassen. Ausnahmsweise kann auch ein später anberaumter Termin Vorrang vor einem früher bestimmten Termin genießen, etwa wenn ein Verhandlungstermin bereits verlegt worden ist, prozessuale Gründe die Durchführung dieses Termins gebieten, es sich um einen Termin zur Durchführung einer aufwendigen Beweisaufnahme oder ein besonders eilbedürftiges Verfahren handelt. Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger bereits einen erheblichen Grund iSv. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO für die Verlegung des Einspruchstermins in Aachen nicht schlüssig dargelegt. Der Berufungsbegründung ist nicht zu entnehmen, dass der zunächst auf 11.15 Uhr bestimmte Gerichtstermin in Essen vor dem Einspruchstermin anberaumt worden ist oder besondere Gründe eine Verlegung des Termins in Aachen erforderlich gemacht hätten. Vielmehr hat der Kläger selbst vorgetragen, dem in Essen verhandelten Rechtsstreit habe ein einfach gelagerter Sachverhalt zugrunde gelegen und es habe lediglich eine kurze Videoaufnahme in Augenschein genommen werden sollen. Zudem war der Prozessbevollmächtigte nicht Sachbearbeiter dieses Verfahren, sondern hat die Sitzung lediglich als Vertreter für seinen erkrankten Sozietätskollegen wahrgenommen. Das Berufungsgericht hat deshalb jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, dass eine Verlegung des Einspruchstermins aufgrund des von dem Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Sachverhalts nicht in Betracht kam.  

Es kommt vor diesem Hintergrund auch nicht darauf an, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers - wie in der Berufungsbegründung geltend gemacht - schon um 11.30 Uhr seine Mitarbeiter gebeten hat, das Landgericht in Aachen über seine voraussichtliche Verspätung aufgrund des Gerichtstermins in Essen zu informieren und um eine Terminsverlegung zu ersuchen. Das Berufungsgericht hat diesen Vortrag zu Recht als unerheblich angesehen. Es hat insofern zutreffend darauf hingewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte nicht darauf vertrauen durfte, seinem (behaupteten) Verlegungsantrag werde entsprochen. Denn (allein) der von einer Partei gestellte Antrag auf Verlegung eines Verhandlungstermins - ohne Darlegung eines erheblichen Grunds - entschuldigt eine Versäumnis nach § 337 ZPO nicht, weil die Termine zur mündlichen Verhandlung der Parteidisposition entzogen sind.

3. Kontext der Entscheidung

Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von der Schlüssigkeit der Darlegung hängt die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab. Der Sachverhalt, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels rechtfertigen soll, ist vollständig und schlüssig innerhalb der Frist der Berufungsbegründung vorzutragen. Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen, die die Zulässigkeit der Berufung rechtfertigen sollen, innerhalb der Frist zur Berufungsbegründung so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie, ihre Richtigkeit unterstellt, den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Dabei dürfen die Gerichte die Anforderungen an den auf § 514 Abs. 2 ZPO gestützten Parteivortrag mit Blick auf den verfassungsrechtlichen garantierten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz und auf rechtliches Gehör nicht überspannen (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2022 – VII ZB 58/21 –, Rn. 13 - 14, mwN.). Erscheint die Partei nach rechtzeitigem Einspruch gegen das erste Versäumnisurteil erneut nicht zur mündlichen Verhandlung über den Einspruch oder erscheint sie zwar, ist aber nicht ordnungsgemäß vertreten oder verhandelt nicht, hat das Gericht nur noch die Voraussetzungen der wiederholten Säumnis, insbesondere die ordnungsgemäße Ladung zum Termin, zu prüfen, bevor es nach § 345 ZPO den Einspruch durch zweites Versäumnisurteil zu verwerfen hat. Eine darüber hinausgehende Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts besteht nicht. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil kann folglich nicht darauf gestützt werden, dass bei Erlass des ersten Versäumnisurteils ein Fall der Säumnis nicht vorgelegen habe oder die Klage nicht schlüssig sei (BGH, Beschluss vom 18. Februar 2020 – XI ZB 11/19 –, Rn. 11 – 12). Gegen ein zweites Versäumnisurteil des Berufungsgerichts findet die Revision nach § 565 Satz 1 iVm. § 514 Abs. 2 ZPO ohne Zulassung und ohne Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstands statt (BGH, Urteil vom 08. Oktober 2015 – III ZR (Ü) 1/15 –, Rn. 7). Das folgt aus § 565 ZPO. Diese Norm erklärt hinsichtlich der Anfechtbarkeit von Versäumnisurteilen die Vorschriften des Berufungsverfahrens für entsprechend anwendbar. Im Hinblick auf § 514 Abs. 2 Satz 2 ZPO bedeutet dies, dass wie die Berufung (§ 511 Abs. 2 ZPO), auch die Revision ohne Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstandes oder eine Zulassung zulässig ist (BGH, Beschluss vom 03. März 2008 – II ZR 251/06 –, Rn. 3).

4. Auswirkungen für die Praxis

Terminsverlegungsanträgen muss im Regelfall stattgegeben werden, wenn ein erheblicher Grund glaubhaft gemacht wird. Werden Kollisionen mit schon anberaumten anderen gerichtlichen Terminen vorgebracht, sind diese durch Vorlage der Ladung zu dem anderen Termin glaubhaft zu machen. Weiterhin ist, sofern der Terminsverlegung beantragende Rechtsanwalt nicht als Einzelanwalt tätig ist, zu begründen, warum die Wahrnehmung des Termins, dessen Verlegung beantragt wird, nicht durch einen anderen Rechtsanwalt aus der Kanzlei des Antragstellers möglich ist. Bei Terminen, die in den Zeitraum vom 1. Juli – 31. August fallen, braucht, sofern nicht einer der Ausnahmefälle des § 227 Abs. 3 Satz 2 ZPO betroffen ist, ein Terminsverlegungsantrag nicht begründet zu werden, wenn er innerhalb einer Frist von einer Woche nach Zugang der Ladung gestellt wird (§ 227 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Die persönliche Verhinderung des Prozessbevollmächtigten wegen anderweitiger Verpflichtungen, insbesondere wegen beruflich wahrzunehmender Termine, ist regelmäßig ein erheblicher Grund iSd. § 227 Abs. 1 ZPO, weil die vertretene Partei erwarten darf, im Termin von demjenigen Anwalt vertreten zu werden, der die Sachbearbeitung des Mandats übernommen hat und ihr Vertrauen genießt (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2022 – VII ZB 58/21 –, Rn. 22). Die Erkrankung der anwaltlich vertretenen Partei selbst - bei einer juristischen Person die ihres Vertretungsorgans - zwingt nicht zu einer Terminsverlegung, wenn nicht gewichtige Gründe die persönliche Anwesenheit der Partei erfordern. Die Partei hat die gewichtigen Gründe substantiiert vorzutragen (BGH, Urteil vom 14. September 2023 – IX ZR 219/22).

14.3.2024
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BGH: Anwaltliche Sorgfaltspflichten beim beA-Versand

Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen mittels des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) verlangen, dass der Rechtsanwalt in seiner Kanzlei das zuständige Personal dahingehend anweist, dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO zu kontrollieren ist. Die Kontrollpflichten erstrecken sich zudem unter anderem darauf, ob die Übermittlung vollständig und an das richtige Gericht erfolgte sowie ob die richtige Datei übermittelt wurde.

BGH, Beschluss vom 30. Januar 2024 – VIII ZB 85/22

1. Problemstellung

Der VIII. Zivilsenat hatte den Umfang der anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätze mittels des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) zu klären.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin hat gegen ein Urteil des Amtsgerichts fristgerecht Berufung eingelegt. Ihr Antrag auf Verlängerung der am 1. September 2022 ablaufenden Berufungsbegründungsfrist ist erst am Folgetag bei dem Berufungsgericht eingegangen. Den Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist hat das Berufungsgericht ebenso wie den Antrag auf Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung zurückgewiesen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist sei unbegründet, da die Klägerin nicht ohne das ihr zuzurechnende Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) an der Wahrung dieser Frist gehindert gewesen sei. Zwar seien die Angestellten des Prozessbevollmächtigten der Klägerin angewiesen, zweimal am Tag zu prüfen, ob die gefertigten Schriftsätze von den Rechtsanwälten mit einer digitalen Signatur versehen worden seien, die Schriftsätze danach unverzüglich über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) zu versenden und sich von der erfolgreichen Zustellung zu überzeugen. Hinsichtlich des Schriftsatzes, mit dem die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragt worden sei, habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ferner an eine Kanzleiangestellte eine Einzelanweisung zum Versand erteilt. Jedoch stelle sich die seitens der Klägerin dargelegte Organisation zum Versand fristgebundener Schriftsätze in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten verschuldet als nicht ausreichend dar, was zu der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist geführt habe. Es wäre ein Fristenkalender zu führen gewesen, in dem eine zu wahrende Frist eingetragen und erst dann gestrichen werde, wenn die erforderliche Handlung auch tatsächlich ausgeführt worden sei. Anhand einer abendlichen Kontrolle des Fristenkalenders wäre zu überprüfen gewesen, ob die an dem Tag ablaufenden Fristen als erledigt anzusehen seien. Es sei nicht erkennbar, dass diese Sorgfaltspflichten eingehalten worden seien. Es sei nicht ersichtlich, ob in der Kanzlei ein Fristenkalender existiere und wer aufgrund welcher Anweisungen in diesem Eintragungen und Streichungen vornehme beziehungsweise auf wen die Verantwortung für die abschließende Kontrolle des Fristenkalenders delegiert worden sei. Der Antrag auf Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung sei zurückzuweisen, da dieser erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eingegangen sei; eine abgelaufene Frist könne nicht verlängert werden.    

Die Rechtsbeschwerde ist als unzulässig zu verwerfen (§ 577 Abs. 1 ZPO). Soweit sich die Klägerin gegen die Zurückweisung des Antrags auf Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung wendet, ist die Rechtsbeschwerde bereits nicht statthaft. Denn gemäß § 225 Abs. 3 ZPO findet eine Anfechtung der Entscheidung, durch die das Gesuch um Verlängerung einer Frist zurückgewiesen wird, nicht statt. Soweit die Rechtsbeschwerde die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung betrifft, ist das Rechtsmittel unzulässig. Denn die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf noch erfordert sie eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Insbesondere verletzt die angegriffene Entscheidung nicht die Verfahrensgrundrechte der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden beziehungsweise die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Gemessen hieran verletzt die Versagung einer Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist die Klägerin in ihren vorgenannten Verfahrensgrundrechten nicht, da die Fristversäumung auf einem der Klägerin gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden anwaltlichen Organisationsmangel (§ 233 Satz 1 ZPO) bei der Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten beruht. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen. Prozessbevollmächtigte müssen in ihrem Büro eine Ausgangskontrolle schaffen, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig hinausgehen. Bei der Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax kommt der Rechtsanwalt seiner Verpflichtung, für eine wirksame Ausgangskontrolle zu sorgen, nur dann nach, wenn er seinen dafür zuständigen Mitarbeitern die Weisung erteilt, sich einen Einzelnachweis ausdrucken zu lassen, auf dieser Grundlage die Vollständigkeit der Übermittlung zu prüfen und die Frist erst nach Kontrolle des Sendeberichts zu löschen.    

Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen mittels des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) entsprechen denjenigen bei der Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Auch hier ist es unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen. Daher hat der Rechtsanwalt in seiner Kanzlei das zuständige Personal dahingehend anzuweisen, dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO zu kontrollieren ist. Die Kontrollpflichten erstrecken sich zudem unter anderem darauf, ob die Übermittlung vollständig und an das richtige Gericht erfolgte sowie ob die richtige Datei übermittelt wurde. Dass in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine den vorstehenden Maßstäben gerecht werdende Ausgangskontrolle besteht, hat diese weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht. Der darin liegende Organisationsmangel ist für die Fristversäumung auch ursächlich geworden. Die Klägerin hat in ihrem Wiedereinsetzungsgesuch nichts zur Führung eines Fristenkalenders vorgebracht, anhand dessen eine den vorgenannten Anforderungen genügende Ausgangskontrolle durchgeführt wird. Sie hat lediglich ausgeführt, in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten bestehe die Arbeitsanweisung, dass die Mitarbeiterinnen sich davon zu überzeugen hätten, dass ein - per beA - versandtes Schriftstück erfolgreich zugestellt worden sei. Ungeachtet bereits fehlender Angaben zur Führung eines Fristenkalenders ergibt sich weder aus den vorgenannten Ausführungen noch aus dem Vorbingen der Klägerin in der Rechtsbeschwerde, in welcher erstmals (allgemein) von einer Eingangsbestätigung die Rede ist, nach deren Eingang die Frist erst zu streichen sei, wie die Überprüfung der erfolgreichen Zustellung genau erfolgt. Insbesondere ist nichts dazu vorgetragen, ob diese den Erhalt sowie den Inhalt der elektronischen Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO umfasst. Überdies lässt sich den Ausführungen der Klägerin nicht entnehmen, dass in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten eine Anweisung besteht, wonach erst nach einer solchen Überprüfung der Eingangsbestätigung eine Frist im Fristenkalender als erledigt vermerkt beziehungsweise gestrichen werden darf.    

Aufgrund dieses Organisationsverschuldens kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, es liege allein ein Verschulden der zuständigen Mitarbeiterin vor, die es (lediglich) versäumt habe, "auf den Knopf" zum Versenden der beA-Nachricht mit dem Fristverlängerungsantrag "zu drücken". Zwar ist der bloße Versand der (qualifiziert signierten, § 130a Abs. 3 ZPO) beA-Nachricht durch eine Kanzleiangestellte nicht vom Rechtsanwalt zu kontrollieren und stellt ein diesbezüglicher Fehler der Angestellten ein schlichtes, der Partei nicht zuzurechnendes und bei fehlendem eigenen Verschulden des Rechtsanwalts - etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens - ein der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht entgegenstehendes Büroversehen dar. Jedoch sind in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten der Klägerin entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht "sämtliche Maßnahmen zur Fristerledigung" getroffen, sondern fehlt es - wie ausgeführt - an einer ordnungsgemäßen Ausgangskontrolle. Dieses Versäumnis ist nicht nach den Grundsätzen zum Verschulden eines Prozessbevollmächtigten bei Vorliegen einer konkreten Einzelanweisung deshalb unerheblich, weil die Kanzleiangestellte "noch einmal gesondert" angewiesen wurde, den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist am Tag deren Ablaufs dem Gericht per beA zu übermitteln. Auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen kommt es dann nicht an, wenn ein Rechtsanwalt für einen bestimmten Fall eine konkrete Einzelanweisung erteilt hat, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte. In einem solchen Fall darf ein Rechtsanwalt grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, diese konkrete Einzelanweisung befolgt. Deshalb ist er im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung seiner Weisung zu vergewissern. Wird die Anweisung jedoch - wie hier - nur mündlich erteilt, müssen allerdings ausreichende Vorkehrungen dagegen getroffen werden, dass die Erledigung in Vergessenheit gerät. Dafür genügt im Regelfall die klare und präzise Anweisung, die Erledigung sofort vorzunehmen, insbesondere wenn zudem eine weitere allgemeine Büroanweisung besteht, einen solchen Auftrag stets vor allen anderen auszuführen. Die Gefahr, dass eine solche sofort auszuführende Weisung sogleich vergessen oder aus sonstigen Gründen nicht befolgt wird, macht eine nachträgliche Kontrolle ihrer Ausführung dann nicht erforderlich. Der Rechtsanwalt muss aber, wenn er nicht die sofortige Ausführung seiner Anweisung anordnet, durch allgemeine Weisung oder besonderen Auftrag Vorkehrungen gegen das Vergessen treffen. Hieran fehlt es vorliegend. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hatte weder einen besonderen Auftrag zur sofortigen Erledigung erteilt noch besteht - wie ausgeführt - in der Kanzlei eine ausreichende allgemeine Weisung bezüglich der Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze. Daher hätte sich die Einzelanweisung in gleicher Weise wie allgemeine Organisationsanweisungen auf die gebotene Ausgangskontrolle, insbesondere auf die Kontrolle des Erhalts sowie des Inhalts der automatisierten Eingangsbestätigung (§ 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO) erstrecken müssen. Dies war nach dem Vorbringen der Klägerin in ihrem Wiedereinsetzungsgesuch jedoch nicht der Fall. Hiernach sei die Kanzleiangestellte lediglich "noch einmal gesondert" darauf hingewiesen worden, den Fristverlängerungsantrag weiterzuleiten. Konkrete Anweisungen, die an die Stelle einer allgemeinen Ausgangskontrolle hätten treten können, fehlen somit.

Die Pflichtverletzung in Form einer ungenügenden Ausgangskontrolle war für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch ursächlich. Hätte in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine Organisation bestanden, die die ordnungsgemäße Prüfung des Eingangs sowie des Inhalts der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO gewährleistet hätte, wäre nach gewöhnlichem Lauf der Dinge bei ansonsten pflichtgemäßem Verhalten der Beteiligten die nicht erfolgte Übermittlung des Fristverlängerungsantrags bekannt geworden und hätte - noch am Tag des Ablaufs der Frist zur Begründung der Berufung - eine Versendung unternommen werden können.

3. Kontext der Entscheidung

Die Überprüfung der ordnungsgemäßen Übermittlung fristgebundenen Schriftsätze erfordert stets die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt wurde. Die Eingangsbestätigung soll dem Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind (BGH, Beschluss vom 11. Mai 2021 – VIII ZB 9/20 –, Rn. 22, mwN.). Die Eingangsbestätigung nach  § 130a Abs. 5 ZPO wird automatisch erstellt, wenn die Nachricht auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist. Mit dem Begriff „für den Empfang bestimmte Einrichtung des Gerichts“ ist der Server gemeint, den die Justiz zur Nutzung des ERV verwendet. Im Regelfall handelt es sich dabei um den zentralen Intermediär-Server des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP). Ist eine automatisierte Eingangsbestätigung vom Gericht übermittelt worden, so erscheint im Ordner „Gesendet“ in der Zeile unterhalb des Nachrichtentexts unter dem Punkt „Meldungstext“ der Eintrag „request executed“ und unter dem Punkt „Übermittlungsstatus“ die Meldung „erfolgreich“. Wird das rot umkreiste Lupensymbol angeklickt, erhält man die „vollständige Zustellantwort“, die ebenfalls das Zugangsdatum mit Uhrzeit enthält. Dieses Zugangsdatum ist das maßgebliche Kriterium, um den Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung vom Gericht nachzuweisen. Gesendete Nachrichten sollten stets aus dem Ordner „Gesendet“ exportiert und im lokalen PC-System in der elektronischen Handakte abgespeichert oder ausgeduckt und in die Papierakte überführt werden. Beim Export wird eine *.zip-Datei angelegt, die unter anderem die Datei *_export.html enthält. In dieser sind u.a. das Zugangsdatum, der Vermerk „request executed“ und die vollständige Zustellantwort enthalten. Die Datei kann im Bedarfsfall dem Gericht zu Beweiszwecken vorgelegt werden.

4. Auswirkungen für die Praxis

Eine wirksame Fristenkontrolle erfordert zudem die Notierung von Vorfristen. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2023 – VI ZB 53/22 –, Rn. 9, mwN.). In dem Unterlassen der Weisung, eine Vorfrist im Fristenkalender zu notieren, liegt ein einer Prozesspartei nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden ihres Verfahrensbevollmächtigten. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Verfahrenshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies bei Rechtsmittelbegründungen regelmäßig der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2023 – XII ZB 418/22 –, MDR 2023, 1267). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zu wahrenden Frist kommt nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt bei pflichtgemäßer Notierung einer Vorfrist die Fehlerhaftigkeit der notierten Frist hätte erkennen und die Frist wahren können (BGH, Beschluss vom 13. September 2018 – V ZB 227/17).

13.3.2024
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BGH: WEG-Verwalterhaftung bei pflichtwidrigen Zahlungen

1. Hat eine Gemeinschaft der Wohnungseigentümer mit einem Werkunternehmer einen Vertrag zur Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums geschlossen, gehört es zu den Pflichten des Verwalters, Erhaltungsmaßnahmen am Gemeinschaftseigentum wie ein Bauherr zu überwachen. Bei der Bewirkung von Zahlungen ist er verpflichtet, wie ein Bauherr im Interesse der Wohnungseigentümer sorgfältig zu prüfen, ob bestimmte Leistungen erbracht und Abschlags- oder Schlusszahlungen gerechtfertigt sind.

2a. Zahlt der Verwalter im Zuge der Vornahme von Erhaltungsmaßnahmen pflichtwidrig Abschläge, kann für die Ermittlung des Schadens der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nicht allein auf die durch die Abschlagszahlungen hervorgerufene Minderung des Gemeinschaftsvermögens abgestellt werden. In den Gesamtvermögensvergleich einzubeziehen ist vielmehr auch, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Werkleistungen vertragsgerecht erbracht worden sind. Die Beweislast dafür, dass den gezahlten Abschlägen keine werthaltigen Leistungen gegenüberstehen, trifft die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer.

2b. Eine Haftung des Verwalters wegen pflichtwidriger Abschlagszahlungen scheidet aus, solange eine vertragsgerechte Leistung noch im Wege der (Nach-)Erfüllung durch den Werkunternehmer herbeigeführt werden kann.

2c. Ist dagegen die (Nach-)Erfüllung ausgeschlossen und das Vertragsverhältnis zwischen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer und dem Werkunternehmer in ein Abrechnungsverhältnis übergegangen, haftet der Verwalter für die durch die pflichtwidrigen Abschlagszahlungen entstandenen Schäden neben dem Werkunternehmer. Der Verwalter ist in diesem Fall aber nur Zug um Zug gegen Abtretung der auf Geldzahlung gerichteten Ansprüche der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer gegen den Werkunternehmer zu Schadensersatz verpflichtet.

BGH, Urteil vom 26. Januar 2024 – V ZR 162/22

1. Problemstellung

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte zu entscheiden, in welchem Umfang der Verwalter einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer haftet, wenn er auf Abschlagsrechnungen von Werkunternehmern, die mit Arbeiten zur Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums beauftragt sind, pflichtwidrig Abschläge zahlt.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Beklagte war Verwalter der Klägerin, einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE, früher: WEG). Im Juli 2019 beschlossen die Wohnungseigentümer die Erneuerung der Dacheindeckung. Nach der Vergabe der Arbeiten mit einem Gesamtvolumen von 116.497,85 € brutto stellte der beauftragte Werkunternehmer eine Abschlagsrechnung für Material in Höhe von 61.872 €; dieser Rechnung beigefügt war ein Angebot einer anderen Firma aus April 2019 über die Lieferung von Baumaterial. Im Oktober 2019 zahlte der Beklagte aus Mitteln der Klägerin einen - auf fünf Teilzahlungen aufgeteilten - Betrag von 70.000 €. Nach dem Beginn der Arbeiten zahlte er im November 2019 einen weiteren - auf sechs Teilzahlungen aufgeteilten - Betrag von 34.500 €, ohne dass insoweit Abschlagsrechnungen gestellt wurden. Die Arbeiten an dem Dach wurden bei einem Baufortschritt von etwa 85-90 % eingestellt. Ein von der Klägerin in Auftrag gegebenes Privatgutachten bezeichnet die erbrachten Arbeiten als mangelhaft und unbrauchbar; zur Beseitigung der Mängel sei der Abriss der bisherigen Arbeiten erforderlich. In einem anderen Verfahren nimmt die Klägerin den Werkunternehmer im Wege der offenen Teilklage auf Rückzahlung geleisteter Abschläge in Anspruch. Mit der Klage verlangt die Klägerin von dem Beklagten Zahlung von 104.500 € nebst Zinsen, hilfsweise Zug um Zug gegen Abtretung ihrer Ansprüche gegen den Werkunternehmer. Mit einem zweiten Hilfsantrag begehrt sie die Feststellung, dass der Beklagte alle Schäden zu ersetzen habe, die ihr durch die Auszahlung des Betrages von 104.500 € im Zusammenhang mit dem Bauvorhaben entstehen. Das Amtsgericht hat der Klage nur im ersten Hilfsantrag stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landgericht dieses Urteil aufgehoben und die Klage unter Zurückweisung der gegen die Abweisung des unbedingten Zahlungsantrags und hilfsweise auf die Feststellung von Annahmeverzug gerichteten Anschlussberufung der Klägerin abgewiesen. Das Berufungsgericht verneint einen Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen einer Verletzung von Pflichten aus dem Verwaltervertrag. Es meint, die Klägerin habe, eine Pflichtverletzung des Beklagten unterstellt, nicht hinreichend dargelegt, dass der Vermögensabfluss von 104.500 € ihrem Schaden entspreche, denn sie lasse den Gesichtspunkt der Vorteilsausgleichung außer Betracht. Das Privatgutachten enthalte lediglich die nicht ausreichende pauschale Feststellung, dass die erbrachten Werkleistungen unbrauchbar seien; es verhalte sich nicht dazu, ob die von dem Beklagten gezahlten Gelder nicht auch einen Vermögenszufluss bei der Klägerin verursacht hätten. Außerdem bleibe der Klägerin der von dem Werkunternehmer vorgenommene Abriss des alten Daches als Vorteil erhalten, und es könne eventuell Material bei einer Beseitigung der behaupteten Mängel (wieder-)verwendet werden. Im Übrigen hätten sich unterstellt vorzeitige Abschlagszahlungen nicht kausal ausgewirkt. Denn ein rechtmäßiges Alternativverhalten des Beklagten, das in Zahlungen auf berechtigte Abschlagsforderungen zu sehen wäre, hätte die Klägerin nicht vor einem Schaden durch die behauptete mangelhafte Werkausführung bewahrt. Der Beklagte verfüge auch nicht über bausachverständige Fertigkeiten, so dass nur der Maßstab angelegt werden könne, welcher der üblichen Sorgfalt eines Wohnungseigentümers entspreche.

Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung. Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung kann der geltend gemachte Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit dem Verwaltervertrag wegen pflichtwidriger Abschlagszahlungen nicht verneint werden. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe - eine Pflichtverletzung des Beklagten unterstellt - den Gesichtspunkt der Vorteilsausgleichung außer Acht gelassen und infolgedessen nicht hinreichend dargelegt, dass der Vermögensabfluss von 104.500 € ihrem Schaden entspreche, ist unzutreffend. Das Berufungsgericht verkennt insoweit die Darlegungs- und Beweislast. Für die tatsächlichen Voraussetzungen der Vorteilsausgleichung ist der Schädiger darlegungs- und beweispflichtig. Wären die von dem beauftragten Werkunternehmer erbrachten Leistungen, wie das Berufungsgericht annimmt, unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen, müsste nicht die Klägerin, sondern der Beklagte darlegen und beweisen, ob und in welchem Umfang bei der Klägerin mit Rücksicht auf die erbrachten Leistungen des Werkunternehmers ein Vorteil verblieben sein könnte. Aber auch von seinem Standpunkt aus durfte das Berufungsgericht den Vortrag der Klägerin nicht als unsubstantiiert erachten. Ein Sachvortrag ist schlüssig und ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen. In Fallgestaltungen, in denen ein erfolgversprechender Parteivortrag fachspezifische Fragen betrifft und besondere Sachkunde erfordert, dürfen an den klagebegründenden Sachvortrag der Partei nur maßvolle Anforderungen gestellt werden. Die Partei darf sich in diesem Fall auf den Vortrag von ihr zunächst nur vermuteter Tatsachen beschränken. Zur Ermittlung von Umständen, die ihr nicht bekannt sind, ist eine Partei im Zivilprozess grundsätzlich nicht verpflichtet. Daran gemessen ist der Vortrag der Klägerin, wonach pflichtwidrigen Abschlagszahlungen insgesamt unbrauchbare Werkleistungen gegenüberstehen, die (auch) den Abriss des neuen Daches erfordern, ohne jeden Zweifel schlüssig und hinreichend substantiiert. Der Umstand, dass die Klägerin zur Untermauerung ihres Vortrags ein aus Sicht des Berufungsgerichts unzureichendes Privatgutachten eingereicht hat, ändert hieran nichts. Denn bei einem Privatgutachten handelt es sich nur um (substantiierten) Parteivortrag. Durch die Beauftragung eines Privatgutachters hat die Klägerin mehr veranlasst, als prozessual von ihr verlangt werden kann. Dass das Privatgutachten keine detaillierten Ausführungen zu den einzelnen Mängeln enthalten mag, rechtfertigt es daher nicht, den klägerischen Vortrag als unerheblich anzusehen; deshalb wären auch dann, wenn die Klägerin darlegungs- und beweisbelastet wäre, genauere Angaben zu einzelnen Mängeln und dem Umfang der Mangelbeseitigung nicht erforderlich gewesen.

Der Klage kann der Erfolg entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht mit dem Verweis auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten, also auf einen fehlenden Kausalzusammenhang zwischen einer - unterstellten - Pflichtverletzung des Beklagten und einem - unterstellt wegen der mangelhaften Werkleistungen eingetretenen - Schaden der Klägerin versagt werden. Die Berufung des Schädigers auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten, das heißt der Einwand, der Schaden wäre auch bei einer ebenfalls möglichen, rechtmäßigen Verhaltensweise entstanden, kann für die Zurechnung eines Schadenserfolgs beachtlich sein. Die Erheblichkeit des Einwandes richtet sich nach dem Schutzzweck der jeweils verletzten Norm. Voraussetzung ist zudem, dass derselbe Erfolg effektiv herbeigeführt worden wäre; die bloße Möglichkeit, ihn rechtmäßig herbeiführen zu können, reicht nicht aus. Hiervon ausgehend liegen die Voraussetzungen rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht vor. Das Berufungsgericht unterstellt zugunsten der Klägerin, dass die Abschlagszahlungen von dem Beklagten pflichtwidrig vorgenommen worden sind. In diesem Fall wäre aber die unter dem Gesichtspunkt des rechtmäßigen Alternativverhaltens zu prüfende Handlungsalternative allein die Nichtvornahme der Zahlungen gewesen; dadurch wäre der - unterstellte - Schaden gerade nicht gleichermaßen entstanden, sondern vielmehr verhindert worden. Demgegenüber knüpft die Annahme, dass der Beklagte berechtigte Abschlagsforderungen des Werkunternehmers bei pflichtgemäßen Verhalten zu erfüllen gehabt hätte, nicht (nur) - wie es aber Voraussetzung eines solchen Einwands wäre - an ein rechtmäßiges Alternativverhalten des Beklagten an, sondern setzt außerdem ein fiktives Alternativverhalten eines Dritten, nämlich des Werkunternehmers, voraus.    

Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben; es ist aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Sie ist nicht zur Endentscheidung reif, weil weitere Feststellungen zu treffen sind. Dazu weist der Senat auf Folgendes hin: Das Berufungsgericht wird zunächst zu prüfen haben, ob der Beklagte seine Pflichten als Verwalter der Klägerin verletzt hat (§ 280 Abs. 1 BGB). Hat eine GdWE mit einem Werkunternehmer einen Vertrag zur Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums geschlossen, gehört es zu den Pflichten des Verwalters nach Maßgabe des hier noch anwendbaren § 27 Abs. 1 Nr. 2 WEG in der bis zum 30. November 2020 geltenden Fassung (jetzt § 27 Abs. 1 Nr. 1 WEG, Erhaltungsmaßnahmen am Gemeinschaftseigentum wie ein Bauherr zu überwachen. Bei der Bewirkung von Zahlungen gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 5 WEG aF ist er verpflichtet, wie ein Bauherr im Interesse der Wohnungseigentümer sorgfältig zu prüfen, ob bestimmte Leistungen erbracht und Abschlags- oder Schlusszahlungen gerechtfertigt sind; für ihn erkennbare Mängel muss er hierbei berücksichtigen. Der Verwalter einer GdWE hat demnach zu prüfen, ob eine von dem mit einer Erhaltungsmaßnahme beauftragten Werkunternehmer verlangte Abschlagszahlung dem Grunde und der Höhe nach berechtigt ist. Daraus folgt, dass der Verwalter im Regelfall (auch) die Voraussetzungen des § 632a BGB, der weitgehend § 16 Abs. 1 VOB/B entspricht, beachten muss. Hierzu gehört u.a. das in § 632a Abs. 1 Satz 5 BGB geregelte Erfordernis einer Aufstellung, die eine rasche und sichere Beurteilung der Leistungen ermöglicht; ohne sie ist ein Anspruch auf Abschlagszahlung nicht gegeben. Der Verwalter muss die Abschlagsrechnung außerdem daraufhin durchsehen, ob sie zu dem Auftrag und dem Leistungsstand passt. Eine Abschlagszahlung für Stoffe oder Bauteile, die angeliefert oder eigens angefertigt und bereitgestellt sind, erfordert - abgesehen davon, dass die Stoffe oder Bauteile den vertraglichen Vorgaben entsprechen müssen - außerdem gemäß § 632a Abs. 1 Satz 6 BGB, dass dem Besteller nach seiner Wahl Eigentum an den Stoffen oder Bauteilen übertragen oder entsprechende Sicherheit hierfür geleistet wird.    

Von einer Verletzung der Pflicht, die verlangten Abschlagszahlungen auf ihre Berechtigung zu überprüfen, dürfte nach den bisherigen Feststellungen auszugehen sein. So fehlt es für einen erheblichen Teil der Zahlungen an einer Abschlagsrechnung beziehungsweise einer Aufstellung, die eine sichere Beurteilung der erbrachten Leistungen ermöglichen würde; damit bestand insoweit von vorneherein kein Anspruch des Werkunternehmers. Soweit für andere Teilzahlungen eine Abschlagsrechnung für Material vorhanden ist, hätte der Beklagte jedenfalls stichprobenartig überprüfen müssen, ob diese zu dem Auftrag und dem angelieferten Material passt und ob das Material übereignet oder Sicherheit geleistet worden ist; nach den bisherigen Feststellungen kann hiervon nicht ausgegangen werden. Auf die Frage, ob die in dem Privatgutachten genannten Mängel der Werkleistungen für den Beklagten erkennbar waren, kommt es demnach (zunächst) nicht an. Sollte sich im Verlauf des weiteren Verfahrens allerdings herausstellen, dass der Beklagte seinen Pflichten bei Überprüfung der vorhandenen Abschlagsrechnung genügt hat, hätte sich das Berufungsgericht damit zu befassen, ob sich ein Verwalter, der nicht selbst über die erforderlichen Kenntnisse für die Prüfung der Werkleistungen verfügt, überhaupt auf eine allein auf mangelnder Fachkunde beruhende fehlende Erkennbarkeit von Mängeln der Werkleistung berufen kann. Das kann insbesondere dann zu verneinen sein, wenn es der Verwalter bei einer mit erheblichem Kostenrisiko verbundenen umfangreichen baulichen Maßnahme unterlassen hat, die Wohnungseigentümer auf seine fehlende Fachkompetenz hinzuweisen und eine Beschlussfassung über eine überwachende Tätigkeit durch Sonderfachleute vorzubereiten.

Das Berufungsgericht wird, wenn sich Pflichtverletzungen des Beklagten bestätigen sollten, weiter zu prüfen haben, ob das Verhalten des Beklagten zu einem Schaden der Klägerin geführt hat. Ob ein zu ersetzender Vermögensschaden vorliegt, ist nach der sogenannten Differenzhypothese durch einen Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die sich ohne dieses Ereignis ergeben hätte, zu beurteilen. Zahlt der Verwalter im Zuge der Vornahme von Erhaltungsmaßnahmen pflichtwidrig Abschläge, kann für die Ermittlung des Schadens der GdWE, allerdings nicht allein auf die durch die Abschlagszahlungen hervorgerufene Minderung des Gemeinschaftsvermögens abgestellt werden. In den Gesamtvermögensvergleich einzubeziehen ist vielmehr auch, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Werkleistungen vertragsgerecht erbracht worden sind. Die Beweislast dafür, dass den gezahlten Abschlägen keine werthaltigen Leistungen gegenüberstehen, trifft die GdWE. Das folgt allerdings nicht daraus, dass es sich bei den erbrachten Werkleistungen um unmittelbar in die Schadensberechnung einzubeziehende Vorteile handelte. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass Vorteile - auch Steuervorteile - nur im Wege der auf dem Gedanken von Treu und Glauben beruhenden Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen sind; diese kommt nur in Betracht, wenn zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Vorteil ein adäquater Kausalzusammenhang besteht, was der Schädiger darzulegen und zu beweisen hat (Nachweise in Rn. 22). Hier ergeben sich etwaige Vorteile, sofern sie bei der Klägerin überhaupt eingetreten sind, allein infolge des Bauvertrags. Sie beruhen nicht kausal auf der Verletzung der Verwalterpflichten des Beklagten im Zusammenhang mit der Erbringung von Abschlagszahlungen, sondern auf den Leistungen des beauftragten Werkunternehmers, die ohne die Zahlungen auch nicht zwangsläufig entfielen. Ob eine pflichtwidrige Abschlagszahlung zu einem Schaden geführt hat, hängt aber gleichwohl davon ab, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Werkleistungen vertragsgerecht erbracht worden sind. Diese Frage stellt sich schon im Rahmen des Gesamtvermögensvergleichs, weil sich die Differenzhypothese auch einer normativen Kontrolle zu unterziehen hat. Entscheidend ist insoweit, dass es sich bei den Abschlagszahlungen um vorläufige Zahlungen handelt. Die in § 632a BGB bzw. § 16 Abs. 1 VOB/B geregelte Abschlagszahlung bezweckt, den nach § 641 Abs. 1 Satz 1 BGB vorleistungspflichtigen Werkunternehmer zu entlasten und die gerade bei Bauleistungen mit der Vorfinanzierung verbundenen wirtschaftlichen Nachteile auszugleichen. Der Anspruch auf Abschlagszahlungen ist auf Anzahlungen in Bezug auf den Vergütungsanspruch für das Gesamtwerk gerichtet. Die Abschlagsforderungen und auch die Anzahlungen haben keinen endgültigen Charakter, sondern sind nur vorläufig. Der Werkunternehmer hat daher über die ihm zustehende endgültige Vergütung unter Berücksichtigung der geleisteten Abschlagszahlungen mit der Schlussrechnung abzurechnen. Erbrachte Abschlagszahlungen sind dabei lediglich Rechnungsposten, die nicht auf einzelne Leistungspositionen des Vertrags bezogen werden können. Zur Rückzahlung ist der Unternehmer aus dem geschlossenen Vertrag (nur) verpflichtet, soweit die Summe der Abschlagszahlungen die ihm zustehende Gesamtvergütung übersteigt. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze besteht ein Schaden der GdWE aufgrund pflichtwidrig erbrachter Abschlagszahlungen des Verwalters nur, soweit deren Summe die dem Werkunternehmer zustehende Gesamtvergütung übersteigt.    

Demnach wird zum einen aufzuklären sein, ob die durch den Werkunternehmer erbrachten Leistungen, wie die Klägerin, gestützt auf das Privatgutachten, hinreichend substantiiert behauptet, unbrauchbar sind. Die Beweislast trifft, da es um die tatsächlichen Voraussetzungen des Gesamtvermögensvergleichs geht, die Klägerin. Zum anderen kann der Verwalter nur dann erfolgreich wegen pflichtwidriger Abschlagszahlungen in Anspruch genommen werden, wenn das Vertragsverhältnis zwischen dem Werkunternehmer und der GdWE in ein Abrechnungsverhältnis übergegangen ist; auch hierzu fehlt es bislang an Feststellungen. Eine Haftung des Verwalters wegen pflichtwidriger Abschlagszahlungen scheidet aus, solange eine vertragsgerechte Leistung noch im Wege der (Nach-)Erfüllung durch den Werkunternehmer herbeigeführt werden kann. Es entspricht einhelliger Ansicht, dass eine Inanspruchnahme des Verwalters wegen pflichtwidrig veranlasster Abschlagszahlungen die Nichtdurchsetzbarkeit von Ansprüchen gegen den beauftragten Werkunternehmer voraussetzt. Diese Auffassung trifft grundsätzlich zu. Allerdings scheidet die Inanspruchnahme des Verwalters nur aus, wenn noch durchsetzbare (Nach-)Erfüllungsansprüche gegen den Werkunternehmer bestehen. Solange besteht nämlich die Möglichkeit, dass der Werkunternehmer im Wege der (Nach-)Erfüllung ein vertragsgemäßes Werk erbringt, wozu ihn der Verwalter in Erfüllung seiner ihm gegenüber der GdWE obliegenden Pflichten auch anhalten muss. In diesem Stadium lässt sich wegen des vorläufigen Charakters der Abschlagszahlungen noch nicht beurteilen, ob - und ggf. in welcher Höhe - die pflichtwidrigen Abschlagszahlungen einen Schaden verursacht haben. Ist dagegen die (Nach-)Erfüllung ausgeschlossen und das Vertragsverhältnis zwischen der GdWE und dem Werkunternehmer in ein Abrechnungsverhältnis übergegangen, haftet der Verwalter für die durch die pflichtwidrigen Abschlagszahlungen entstandenen Schäden neben dem Werkunternehmer. Der Verwalter ist in diesem Fall aber nur Zug um Zug gegen Abtretung der auf Geldzahlung gerichteten Ansprüche der GdWE gegen den Werkunternehmer zu Schadensersatz verpflichtet.    

Ist das Vertragsverhältnis zwischen der GdWE und dem Werkunternehmer in ein Abrechnungsverhältnis übergegangen, bestehen zwischen der GdWE und dem Werkunternehmer nur noch Zahlungsansprüche. Insoweit sind die Abschlagszahlungen als Rechnungsposten einzustellen, und es lässt sich nunmehr feststellen, ob und in welcher Höhe der GdWE ein Schaden entstanden ist. Infolgedessen gilt im Verhältnis der GdWE zu dem pflichtwidrig Abschläge zahlenden Verwalter der allgemeine Grundsatz, wonach sich ein Geschädigter nicht darauf verweisen lassen muss, dass er (auch) einen Anspruch gegen einen Dritten hat; es steht dem Geschädigten vielmehr grundsätzlich frei, wen er in Anspruch nimmt. Dadurch soll der Geschädigte den mit der Durchsetzung des anderen Anspruchs verbundenen Aufwand und das Insolvenzrisiko des Dritten auf den Schädiger verlagern können. Nimmt die GdWE in diesem Fall den Verwalter in Anspruch, ist der Verwalter wegen pflichtwidriger Abschlagszahlungen aber entsprechend § 255 BGB nur Zug um Zug gegen Abtretung der auf Geldzahlung gerichteten Ansprüche der GdWE gegen den Werkunternehmer zu Schadensersatz verpflichtet. Zwar betrifft § 255 BGB unmittelbar (nur) die Schadensersatzpflicht wegen des Verlusts einer Sache oder eines Rechts gegen Abtretung der Ansprüche, die dem Ersatzberechtigten auf Grund des Eigentums an der Sache oder auf Grund des Rechts gegen Dritte zustehen. Die Vorschrift beruht aber auf der grundsätzlichen Überlegung, dass einer von mehreren Schädigern dem Schaden ferner steht und deshalb im Innenverhältnis in vollem Umfang bei dem anderen Schuldner Regress nehmen können soll; der Gläubiger wiederum soll die Leistung nicht doppelt erhalten. Sie ist deshalb über ihren Wortlaut hinaus auf vergleichbare Fälle entsprechend anzuwenden. Die Inanspruchnahme des Verwalters durch die GdWE wegen pflichtwidriger Abschlagszahlungen an einen Werkunternehmer, dem gegenüber die GdWE (nur noch) Zahlungsansprüche hat, gebietet die entsprechende Anwendung von § 255 BGB. Denn der Verwalter steht dem Schaden ferner als der Werkunternehmer. Eine gesamtschuldnerische Haftung nach § 421 BGB zwischen dem Verwalter und dem Werkunternehmer besteht mangels Gleichstufigkeit der Verpflichtungen des Verwalters und des Werkunternehmers nicht. Die GdWE wiederum soll die Zahlungen nicht doppelt erlangen können. Einer Erhebung der Zug-um-Zug-Einrede durch den Beklagten bedarf es jedenfalls nicht. Denn die Klägerin trägt dem Zurückbehaltungsrecht des Beklagten bereits durch ihre ausdrücklich so formulierte „hilfsweise“ Antragstellung Rechnung, auch wenn es sich nicht um einen Hilfsantrag im Sinne einer von einer innerprozessualen Bedingung abhängigen eventuellen Klagehäufung, sondern um ein in dem Hauptantrag ohnehin enthaltenes „Minus“ handelt.

3. Kontext der Entscheidung

Der Verwalter muss zur Vorbereitung der Beschlussfassung über Maßnahmen der Instandhaltung und Instandsetzung des Gemeinschaftseigentums die verschiedenen Handlungsoptionen aufzeigen; dabei hat er die Wohnungseigentümer auf mögliche Gewährleistungsansprüche und auf eine drohende Verjährung dieser Ansprüche hinzuweisen. Den mit dem Bauträger identischen, von ihm eingesetzten, mit ihm verbundenen oder von ihm abhängigen Verwalter (sog. Bauträgerverwalter) treffen die gleichen Pflichten hinsichtlich der Vorbereitung einer sachgerechten Beschlussfassung der Wohnungseigentümer über Maßnahmen der Instandhaltung und Instandsetzung des Gemeinschaftseigentums wie jeden anderen Verwalter; er muss somit auch auf Gewährleistungsansprüche „gegen sich selbst“ und eine drohende Verjährung dieser Ansprüche hinweisen. Hat der Verwalter Anhaltspunkte dafür, dass ein Mangel am Gemeinschaftseigentum entgegen einer Erklärung des Bauträgers nicht beseitigt ist, muss er die Wohnungseigentümer hierüber unterrichten und auf einen sachgerechten Beschluss über das weitere Vorgehen hinwirken (BGH, Urteil vom 19. Juli 2019 – V ZR 75/18).

4. Auswirkungen für die Praxis

Nicht entscheidungserheblich war, ob sich ein Verwalter, der nicht selbst über die erforderlichen Kenntnisse für die Prüfung der Werkleistungen verfügt, überhaupt auf eine allein auf mangelnder Fachkunde beruhende fehlende Erkennbarkeit von Mängeln der Werkleistung berufen kann. Der Senat weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass dies insbesondere dann zu verneinen sein kann, wenn es der Verwalter bei einer mit erheblichem Kostenrisiko verbundenen umfangreichen baulichen Maßnahme unterlassen hat, die Wohnungseigentümer auf seine fehlende Fachkompetenz hinzuweisen und eine Beschlussfassung über eine überwachende Tätigkeit durch Sonderfachleute vorzubereiten (BGH, Urteil vom 26. Januar 2024 – V ZR 162/22 –, Rn. 18, mwN.). Bei Verstößen des Verwalters gegen seine den Wohnungseigentümern gegenüber bestehenden Überwachungs-, Kontroll- und Unterrichtungspflichten hinsichtlich des Gemeinschaftseigentums besteht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass die Pflichtverletzung für den Eintritt des Schadens kausal war. Es ist nämlich nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass die Wohnungseigentümer hinsichtlich der Instandhaltung und Instandsetzung des Gemeinschaftseigentums Beschlüsse fassen, die ordnungsmäßiger Verwaltung entsprechen, wenn der Verwalter sie zutreffend und ausreichend unterrichtet und eine sachgerechte Beschlussfassung hinreichend vorbereitet. Daran ändert es nichts, dass den Wohnungseigentümern auch bei ausreichender Unterrichtung durch den Verwalter zumeist mehrere Handlungsalternativen zur Verfügung stehen (BGH, Urteil vom 19. Juli 2019 – V ZR 75/18 –, Rn. 39, mwN.).

8.3.2024
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BGH: Verhinderung an Terminswahrnehmung

1. Ein Verfahrensbevollmächtigter, der kurzfristig und unvorhersehbar an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, hat alles ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Verlegung oder Vertagung des Termins zu ermöglichen.

2. Nach § 117 Abs. 2 Satz 1 FamFG iVm. § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist die Beschwerde gegen einen zweiten Versäumnisbeschluss, der einem weiteren Einspruch nicht unterliegt (§ 113 Abs. 1 FamFG iVm § 345 ZPO), nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass ein Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe. Von der Schlüssigkeit der Darlegung, dass der Termin nicht schuldhaft versäumt worden sei, hängt die Zulässigkeit der Beschwerde ab.

BGH, Beschluss vom 24. Januar 2024 – XII ZB 171/23

1.    Problemstellung

Ergeht in einem Rechtsstreit eine zweite Sämnisentscheidung, ist gegen diese ein Rechtsmittel nur gegeben, wenn dieses darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe. Von der Schlüssigkeit der Darlegung hängt die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab, wie der XII. Zivilsenat (erneut) festgestellt hat.

2.    Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Antragsteller macht gegen die Antragsgegnerin, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, einen Anspruch auf Zahlung von 44.000 € geltend. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht ist für die Antragsgegnerin niemand erschienen, woraufhin antragsgemäß ein dem Begehren des Antragstellers stattgebender Versäumnisbeschluss ergangen ist. Gegen diesen hat die Antragsgegnerin Einspruch eingelegt. Zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung über den Einspruch und die Hauptsache am 23. November 2022 um 10:00 Uhr ist für die Antragsgegnerin erneut niemand erschienen. Nachdem das Amtsgericht bis 10:55 Uhr zugewartet und die Sache wiederholt aufgerufen hatte, hat es antragsgemäß einen zweiten Versäumnisbeschluss erlassen, durch den der Einspruch der Antragsgegnerin „zurückgewiesen“ worden ist. Hiergegen hat die Antragsgegnerin mit der Begründung Beschwerde eingelegt, dass eine schuldhafte Säumnis nicht vorgelegen habe. Ihre Verfahrensbevollmächtigte sei am 23. November 2022 rechtzeitig in Berlin losgefahren, um den Gerichtstermin in Frankfurt (Oder) um 10:00 Uhr wahrzunehmen. Während der Fahrt habe sie jedoch unvermittelt plötzlich „schubweise schwere krampfhafte Zustände“ verbunden mit Brechreiz und Durchfall bekommen. Sie habe ihre Fahrt deshalb für ca. zwei Stunden unterbrechen müssen. Mehrfache Versuche, das Amtsgericht vor 10:00 Uhr telefonisch zu erreichen, seien erfolglos geblieben. Erst gegen Mittag habe die Verfahrensbevollmächtigte ihre Fahrt fortsetzen können und sich direkt zu einem Arzt begeben. „In der Zwischenzeit“ habe auch die Kanzleimitarbeiterin der Verfahrensbevollmächtigten vergeblich versucht, die Geschäftsstelle des Amtsgerichts telefonisch zu erreichen. Schließlich habe die Kanzleimitarbeiterin die „Vermittlung“ des Amtsgerichts angerufen. Diese habe ihr mitgeteilt, dass die Verhandlung bereits vorbei sei, und sie mit der zuständigen Richterin verbunden. Die Richterin habe erklärt, dass sich der gegnerische Anwalt bei ihr gemeldet und angekündigt habe, staubedingt zu spät zu kommen. Da die Richterin „vom Büro der Antragsgegnerin“ keine Benachrichtigung erhalten habe, sei ein Versäumnisbeschluss ergangen. Mit Schriftsatz vom 27. Februar 2023 hat die Antragsgegnerin ihren Vortrag dahingehend ergänzt, dass ihre Verfahrensbevollmächtigte am 23. November 2022 mit dem PKW um 7:15 Uhr in Berlin losgefahren sei und diese Fahrt ca. gegen 9:00 Uhr auf dem Parkplatz Briesenluch habe unterbrechen müssen. Eine Weiterfahrt sei nicht möglich gewesen. Das OLG hat die Beschwerde als unzulässig verworfen, weil die Antragsgegnerin nicht schlüssig dargelegt habe, dass ihre Verfahrensbevollmächtigte kein Verschulden an der Versäumung des Einspruchstermins am 23. November 2022 treffe.  

Die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin hat keinen Erfolg. Nach § 117 Abs. 2 Satz 1 FamFG iVm § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist die Beschwerde gegen einen zweiten Versäumnisbeschluss, der einem weiteren Einspruch nicht unterliegt (§ 113 Abs. 1 FamFG iVm § 345 ZPO), nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass ein Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe. Von der Schlüssigkeit der Darlegung, dass der Termin nicht schuldhaft versäumt worden sei, hängt die Zulässigkeit der Beschwerde ab. Die Verschuldensfrage ist dabei nach denselben Maßstäben zu beurteilen wie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Wird die fehlende oder unverschuldete Säumnis nicht schlüssig dargelegt, ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen. Der Sachverhalt, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels rechtfertigen soll, ist vollständig und schlüssig innerhalb der Rechtsmittelbegründungsfrist vorzutragen. Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie - ihre Richtigkeit unterstellt - den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Gemessen hieran hat das Beschwerdegericht die Beschwerde der Antragsgegnerin zu Recht als unzulässig verworfen. Das Beschwerdegericht ist zutreffend von einem der Antragsgegnerin nach § 113 Abs. 1 FamFG iVm § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden ihrer Verfahrensbevollmächtigten ausgegangen, ohne dabei überhöhte Anforderungen an die Darlegung des fehlenden Verschuldens gestellt zu haben. Für die Entscheidung kann unterstellt werden, dass die Verfahrensbevollmächtigte der Antragsgegnerin am 23. November 2022 erkrankungsbedingt nicht zum Einspruchstermin vor dem Amtsgericht erscheinen konnte. Dieser Umstand genügt aber nicht für die Annahme, die Verfahrensbevollmächtigte habe diesen Termin unverschuldet versäumt. Denn eine schuldhafte Säumnis liegt auch dann vor, wenn ein Verfahrensbevollmächtigter, der kurzfristig und unvorhersehbar an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Verlegung oder Vertagung des Termins zu ermöglichen. Nur wenn diese Mitteilung aus unverschuldeten Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist, steht ihre Unterlassung der Zulässigkeit einer Beschwerde nicht entgegen.    

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Antragsgegnerin nicht schlüssig dargelegt, dass ihre Verfahrensbevollmächtigte den Termin am 23. November 2022 ohne Verschulden versäumt habe. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Beschwerdebegründung zwar vorgetragen, dass ihre Verfahrensbevollmächtigte nach dem plötzlichen Auftreten der gesundheitlichen Beeinträchtigungen mehrfach erfolglos versucht habe, das Amtsgericht vor 10:00 Uhr telefonisch zu erreichen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um hinreichend substantiierten Vortrag. Das Beschwerdegericht hat mit Recht moniert, dass die Antragsgegnerin bis zum Ende der Beschwerdebegründungsfrist keine konkreten Angaben zum Ablauf der Fahrt ihrer Verfahrensbevollmächtigten und deren Bemühungen um eine Kontaktaufnahme mit dem Amtsgericht nach der krankheitsbedingten Fahrtunterbrechung gemacht habe. Ihrem Vorbringen sei nicht zu entnehmen, wann genau und wie oft ihre Verfahrensbevollmächtigte unter welcher Telefonnummer versucht habe, das Amtsgericht über ihre Verhinderung in Kenntnis zu setzen. Insbesondere habe die Antragsgegnerin nicht konkret behauptet, dass ihre Verfahrensbevollmächtigte etwa versucht habe, die zuständige Geschäftsstelle des Amtsgerichts telefonisch zu erreichen, bzw. dass sie - im Falle des Nichtzustandekommens eines Gesprächs mit der Geschäftsstelle - die zentrale Rufnummer des Amtsgerichts gewählt habe. Die bloße Behauptung mehrerer erfolgloser Kontaktversuche vor 10:00 Uhr ist so pauschal und ungenau, dass nicht beurteilt werden kann, ob die Verfahrensbevollmächtigte ausreichende Bemühungen entfaltet hat, um ihrer Obliegenheit, dem Gericht rechtzeitig ihre Verhinderung mitzuteilen, nachzukommen. Hierfür wäre zumindest die Angabe erforderlich gewesen, wann genau die Verfahrensbevollmächtigte welche Rufnummer kontaktiert hat. Denn hätte sie etwa eine falsche Telefonnummer gewählt oder erst wenige Minuten vor 10:00 Uhr Kontaktversuche unternommen, obwohl sie ihre Fahrt nach eigenen Angaben bereits um 9:00 Uhr unterbrochen hat, wären ihre Bemühungen ersichtlich unzureichend gewesen. Auch der (erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist eingegangene) Schriftsatz vom 27. Februar 2023 enthält keinerlei Ergänzungen zu den von der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin ergriffenen Maßnahmen. In Ermangelung substantiierten Vortrags zu eigenen Kontaktaufnahmeversuchen ihrer Verfahrensbevollmächtigten hat das Beschwerdegericht auch den Vortrag der Antragsgegnerin in den Blick genommen, die Kanzleimitarbeiterin ihrer Verfahrensbevollmächtigten habe „in der Zwischenzeit“ zunächst vergeblich versucht, die Geschäftsstelle des Amtsgerichts telefonisch zu erreichen, und sei dann über die „Vermittlung“ des Amtsgerichts mit der zuständigen Richterin verbunden worden. Das Beschwerdegericht hat insoweit ausgeführt, dass es zumutbar und naheliegend gewesen wäre, die Kanzleimitarbeiterin unverzüglich nach Eintritt der Fahrtunterbrechung telefonisch anzuweisen, die Richterin über die Verhinderung zu informieren und hierfür sowohl die Rufnummer der Geschäftsstelle als auch die zentrale Rufnummer des Amtsgerichts zu benutzen. Dass die Verfahrensbevollmächtigte ihrer Mitarbeiterin diese Weisung rechtzeitig erteilt habe, sei dem Beschwerdevorbringen allerdings nicht zu entnehmen. Vielmehr sei lediglich vorgetragen worden, dass die Mitarbeiterin die Richterin über die zentrale Rufnummer des Amtsgerichts zu einem nicht näher dargelegten Zeitpunkt nach der um 10:55 Uhr erfolgten Verkündung des zweiten Versäumnisbeschlusses erreicht und diese über die Verhinderung unterrichtet habe. Das nachträgliche Bemühen, die Information über die Verhinderung der Verfahrensbevollmächtigten weiterzugeben, genüge indes nicht. Ob die Verfahrensbevollmächtigte der Antragsgegnerin ihre Kanzleimitarbeiterin tatsächlich unverzüglich nach der Fahrtunterbrechung zur Kontaktaufnahme mit dem Amtsgericht hätte anhalten müssen oder ob sie zunächst eigene Kontaktversuche unternehmen durfte, kann letztlich dahinstehen. Denn die Verfahrensbevollmächtigte hätte ihre Mitarbeiterin jedenfalls im Falle der Erfolglosigkeit ihrer eigenen Kontaktversuche rechtzeitig vor dem Termin anweisen müssen, ebenfalls telefonisch Kontakt zum Amtsgericht aufzunehmen. Dass eine solche Weisung vor 10:00 Uhr erfolgt ist, hat die Antragsgegnerin jedoch nicht vorgetragen. Die Rechtsbeschwerde macht insoweit zu Unrecht geltend, dass sich die Rechtzeitigkeit der Weisung der Verfahrensbevollmächtigten aus der eidesstattlichen Versicherung ihrer Kanzleimitarbeiterin ergebe, wonach die Mitarbeiterin zum Zeitpunkt des Telefonats mit der zuständigen Richterin bereits seit mehr als 30 Minuten versucht habe, jemanden zu erreichen. Wann genau dieses Telefonat geführt wurde, ist hingegen nicht angegeben worden. Aus der eidesstattlichen Versicherung kann daher allenfalls abgeleitet werden, dass das Telefonat nach 10:55 Uhr stattgefunden hat, nicht jedoch, wann die Kontaktversuche der Mitarbeiterin begonnen haben, und insbesondere nicht, dass sie - auf eine entsprechende Weisung hin - bereits vor 10:00 Uhr erfolgt wären. Wenn aber Versuche, das Gericht über die kurzfristige Verhinderung der Verfahrensbevollmächtigten zu informieren, erst nach der vorgesehenen Terminsstunde unternommen werden, erfolgen sie schuldhaft zu spät.

3.    Kontext der Entscheidung

Auch die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von der Schlüssigkeit der Darlegung hängt die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab. Der Sachverhalt, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels rechtfertigen soll, ist vollständig und schlüssig innerhalb der Frist der Berufungsbegründung vorzutragen. Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen, die die Zulässigkeit der Berufung rechtfertigen sollen, innerhalb der Frist zur Berufungsbegründung so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie, ihre Richtigkeit unterstellt, den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Dabei dürfen die Gerichte die Anforderungen an den auf § 514 Abs. 2 ZPO gestützten Parteivortrag mit Blick auf den verfassungsrechtlichen garantierten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz und auf rechtliches Gehör nicht überspannen (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2022 – VII ZB 58/21 –, Rn. 13 - 14, mwN.). Erscheint die Partei nach rechtzeitigem Einspruch gegen das erste Versäumnisurteil erneut nicht zur mündlichen Verhandlung über den Einspruch oder erscheint sie zwar, ist aber nicht ordnungsgemäß vertreten oder verhandelt nicht, hat das Gericht nur noch die Voraussetzungen der wiederholten Säumnis, insbesondere die ordnungsgemäße Ladung zum Termin, zu prüfen, bevor es nach § 345 ZPO den Einspruch durch zweites Versäumnisurteil zu verwerfen hat. Eine darüber hinausgehende Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts besteht nicht. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil kann folglich nicht darauf gestützt werden, dass bei Erlass des ersten Versäumnisurteils ein Fall der Säumnis nicht vorgelegen habe oder die Klage nicht schlüssig sei (BGH, Beschluss vom 18. Februar 2020 – XI ZB 11/19 –, Rn. 11 – 12, mwN.).

4.    Auswirkungen für die Praxis

Auf der Grundlage des Gebots eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 MRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Versäumnis eines Termins dann als entschuldigt anzusehen ist, wenn die Partei und ihr Prozessbevollmächtigter auf die erfolgte Stattgabe eines Verlegungsantrags vertrauen dürfen (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2017 – III ZB 137/15 –, Rn. 11). Eine schuldhafte Säumnis liegt jedoch vor, wenn der Prozessbevollmächtigte, der kurzfristig und nicht vorhersehbar an der Wahrnehmung des Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen (BGH, Urteil vom 3. November 2005 – I ZR 53/05 –, Rn. 14). Krankheit des Rechtsanwalts kann Säumnis entschuldigen und Grund sein zu vertagen. Unvorhergesehene, plötzliche Erkrankungen, die zeitnah mitgeteilt werden, entschuldigen in der Regel. Bei länger andauernden Erkrankungen muss aber für Vertretung gesorgt sein (Herget in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 337 Rn. 3 mwN.).

29.2.2024
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BGH: Glaubhaftmachung einer beA-Störung

1. Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Hieran fehlt es, wenn die glaubhaft gemachten Tatsachen jedenfalls auch den Schluss zulassen, dass die Unmöglichkeit nicht auf technischen, sondern auf in der Person des Beteiligten liegenden Gründen beruht.

2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn nach den glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit offenbleibt, dass die Fristversäumung von dem Beteiligten beziehungsweise seinem Verfahrensbevollmächtigten verschuldet war.

BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – XII ZB 88/23 

1. Problemstellung

Welche Voraussetzungen einer vorübergehende Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument nach § 130d Satz 2 ZPO vorliegen müssen und wie diese glaubhaft zu machen sind (§ 130d Satz 3 ZPO), hatte der XII. Zivilsenat zu entscheiden.

 

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Gegen den ihr am 3. März 2022 zugestellten Beschluss des Amtsgerichts, mit dem Antrag der Antragstellerin auf Zugewinnausgleich nur teilweise stattgegeben wurde, hat diese fristgerecht Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründungsfrist hat das OLG auf ihren Antrag bis zum 3. Juni 2022 verlängert. Mit zwei Schriftsätzen, die am 27. Mai 2022 beim OLG schriftlich eingegangen sind, hat die Antragstellerin, die sich nach der Mandatsniederlegung ihres bisherigen Verfahrensbevollmächtigten als Rechtsanwältin selbst vertritt, ihre Beschwerde begründet und - anwaltlich versichert - dargelegt, weshalb sie ihre Beschwerdebegründung nicht über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) eingereicht hat. Diese Ausführungen hat sie durch einen weiteren Schriftsatz ergänzt, der per Fax am 30. Mai 2022 beim Oberlandesgericht eingegangen ist. Das OLG hat nach entsprechendem Hinweis den mit Schriftsatz vom 19. Januar 2023 hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Beschwerde verworfen.  

Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. Das Beschwerdegericht ist zutreffend zu der Auffassung gelangt, dass die Beschwerdebegründungsschrift nicht form- und fristgerecht eingereicht worden ist. Gemäß §§ 112 Nr. 2, 113 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG, §§ 520 Abs. 5, 130 d Satz 1 ZPO war die von der Antragstellerin als Rechtsanwältin eingereichte Beschwerdebegründung grundsätzlich als elektronisches Dokument zu übermitteln. Zwar ist nach § 130 d Satz 2 ZPO eine Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig, wenn eine elektronische Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist. In diesem Fall ist die vorübergehende Unmöglichkeit nach § 130 d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO jedoch bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Dies ist der Antragstellerin nicht gelungen. Die Glaubhaftmachung einer vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument setzt eine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände voraus, deren Richtigkeit der Rechtsanwalt unter Bezugnahme auf seine Standespflichten anwaltlich versichern muss. Glaubhaft zu machen ist die technische Unmöglichkeit einschließlich ihrer vorübergehenden Natur, wobei eine (laienverständliche) Schilderung und Glaubhaftmachung der tatsächlichen Umstände genügt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Ursache für die vorübergehende technische Unmöglichkeit in der Sphäre des Gerichts oder in der Sphäre des Einreichenden zu suchen ist. Technische Gründe liegen aber nur bei einer Störung der für die Übermittlung erforderlichen technischen Einrichtungen vor, nicht dagegen bei in der Person des Einreichers liegenden Gründen. Entsprechend stellen Verzögerungen bei der Einrichtung der technischen Infrastruktur keinen vorübergehenden technischen Grund dar.

Die Antragstellerin hat zur Glaubhaftmachung geltend gemacht, die Nutzungspflicht nach § 130 d ZPO sei ihr bekannt. Indessen sei ihr eine elektronische Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, was sie anwaltlich versichere. Ihr Fehlbedienungszähler sei abgelaufen. Sie habe sich daher an die zuständige Zertifizierungsstelle der Bundesnotarkammer gewandt. Wie der von ihr beauftragte Dienstleister ihr am 24. Mai 2022 per E-Mail bestätigt habe, zeige ihre beA-Karte an, dass der Fehlbedienungszähler abgelaufen sei. Um diesen zurückzusetzen, sei vergeblich versucht worden, das „Secure Framework“ zu starten, weil dies gemeldet habe, dass es „ein Update will was aber auch nicht geht“. Auch der nachfolgende Versuch der Deinstallation der bei der Antragsgegnerin installierten Version sei gescheitert, weil „Probleme am PC sind“. Aus diesem Grund habe auch keine neue Version installiert werden können. Mit E-Mail vom 25. Mai 2022 habe die Zertifizierungsstelle mitgeteilt: „Wie telefonisch besprochen übersenden wir Ihnen die Anleitung. Sollten Sie Ihre PIN dreimal falsch eingegeben haben, wird die PIN-Eingabe gesperrt. Um die PIN-Eingabe wieder freizuschalten, wird die PUK aus dem PIN-Brief benötigt.“ Diesen Ausführungen habe sich eine Anleitung zur Zurücksetzung des Fehlbedienungszählers angeschlossen. Mit der Sachbearbeiterin bei der Bundesnotarkammer habe sie noch am selben Tag einen Termin mit einem IT-Fachmann der Zertifizierungsstelle für den Nachmittag vereinbart. In dem für sie eingestellten zweistündigen Slot habe sich aber niemand bei ihr gemeldet. Auf Anraten der Zertifizierungsstelle habe sie der Bundesnotarkammer einen Sperrauftrag mit der Begründung „falscher Zugangscode“ erteilt und (kostenpflichtig) eine neue beA-Karte beantragt, deren Erstellung und Zusendung aber ein bis zwei Wochen in Anspruch nehmen könnten. Mit Schriftsatz vom 4. Juli 2022 hat die Antragstellerin abschließend mitgeteilt, dass die vorübergehende technische Störung behoben worden und das besondere elektronische Anwaltspostfach jetzt vollumfänglich funktionstüchtig sei.    

Dieses Vorbringen wird den Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer aus technischen Gründen vorübergehenden Unmöglichkeit iSd. § 130 d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO nicht gerecht, weil aus den Ausführungen der Antragstellerin nicht in sich schlüssig und nachvollziehbar hervorgeht, ob sie die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente vorgehalten hat. Eine Störung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs oder des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) sowie der temporäre Ausfall der Netzwerkkarte führt grundsätzlich zu einer vorübergehenden technischen Unmöglichkeit. Eine solche Konstellation liegt hier indessen nicht vor. Denn nach dem von der Antragstellerin gehaltenen Vortrag besteht nicht die zur Glaubhaftmachung erforderliche überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die behauptete Unmöglichkeit auf technischen und nicht auf in der Person der Antragstellerin liegenden Gründen beruht. Eine technische Unmöglichkeit ist dann nicht glaubhaft gemacht, wenn die Angaben auch den Schluss zulassen, dass der zugelassene Übermittlungsweg noch nicht in Betrieb genommen oder eingerichtet und dessen Funktionsfähigkeit vor der erstmaligen Nutzung nicht überprüft worden ist. Professionelle Einreicher werden durch § 130 d ZPO nicht von der Notwendigkeit entbunden, die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente vorzuhalten. Zu den notwendigen technischen Einrichtungen gehört dabei nicht nur ein entsprechendes Endgerät (Hardware), sondern auch die für den Betrieb des Endgeräts und die Einreichung elektronischer Dokumente jeweils erforderliche Software in der jeweils aktuellen Version. Die Antragstellerin hat sich jedoch in den Schriftsätzen vom 27. und 30. Mai 2022 nicht dazu geäußert, ob sie die so verstandenen technischen Einrichtungen vorgehalten hat. Sie ist auch nicht darauf eingegangen, ob sie - wie von der Zertifizierungsstelle vorgeschlagen - überhaupt versucht hat, mittels der ihr übersandten PUK die PIN-Eingabe zu entsperren, um anschließend entsprechend der Anleitung der Zertifizierungsstelle den Fehlbedienungszähler zurückzusetzen, gegebenenfalls auch unter Aktualisierung der Betriebssoftware des Endgeräts und der Betriebssoftware für die Einreichung von elektronischen Dokumenten. Vielmehr hat sie mit E-Mail vom 30. Mai 2022 an die Zertifizierungsstelle der Bundesnotarkammer mitgeteilt, dass „keine Dokumente signiert“ worden seien, „somit die übersandte PIN vom 15.02.2022 nicht eingesetzt und infolge auch nicht geändert“ worden sei. Danach legen die Angaben der Antragstellerin den Schluss nahe, dass es sich bei der gescheiterten Übermittlung der Beschwerdebegründung über das besondere elektronische Anwaltspostfach offensichtlich um den erstmaligen Versuch der Verwendung der im Februar 2022 übersandten PIN und damit - zumindest möglicherweise - auch um den erstmaligen Versuch der Übermittlung eines elektronischen Dokuments an ein Gericht handelte und diese an der mangelnden Aktualisierung der Betriebssoftware gescheitert sein könnte. Dabei kann dahinstehen, ob ein Rechtsanwalt in jedem Einzelfall dazu vorzutragen und glaubhaft zu machen hat, dass die technischen Einrichtungen zur elektronischen Übermittlung ursprünglich gegeben und funktionstüchtig waren. Denn jedenfalls in den Fällen, in denen - wie hier - auf der Grundlage des Vorbringens des Rechtsanwalts davon auszugehen ist, dass Anlass zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs bestand, diese jedoch unterblieben ist, muss der Rechtsanwalt darlegen, dass die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente ursprünglich vorhanden und einsatzfähig waren. Fehlt wie hier die Glaubhaftmachung nach § 130 d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO, so ist auch die Ersatzeinreichung unwirksam.    

Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat das Beschwerdegericht der Antragstellerin eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn nach den glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit offenbleibt, dass die Fristversäumung von dem Beteiligten beziehungsweise seinem Verfahrensbevollmächtigten verschuldet war. Dies ist hier der Fall, nachdem als Ursache für die Fristversäumung nicht ausgeschlossen werden kann, dass die sich als Rechtsanwältin selbst vertretende Antragstellerin die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente nicht vorgehalten hat.

3. Kontext der Entscheidung

Es entspricht mittlerweile ständiger Rechtsprechung des BGH, dass die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände bedarf, deren Richtigkeit der Rechtsanwalt unter Bezugnahme auf seine Standespflichten anwaltlich versichern muss (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 – V ZB 11/22 –, Rn. 11, mwN.). Stellt der Rechtsanwalt erst kurz vor Fristablauf fest, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich ist, und verbleibt bis zum Fristablauf keine Zeit mehr, die Unmöglichkeit darzutun und glaubhaft zu machen, ist die Glaubhaftmachung unverzüglich (ohne schuldhaftes Zögern) nachzuholen. Unverzüglich ist die Glaubhaftmachung nur dann, wenn sie zeitlich unmittelbar erfolgt. Anders als bei § 121 BGB ist keine gesonderte Prüfungs- und Überlegungszeit zu gewähren, sondern der Rechtsanwalt hat die Glaubhaftmachung abzugeben, sobald er zu einer geschlossenen Schilderung in der Lage ist (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 – V ZB 11/22 –, Rn. 11, mwN.) Eine Prozesspartei muss es sich als Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten (§ 233 Satz 1, § 85 Abs. 2 ZPO) zurechnen lassen, wenn dieser sich nicht hinreichend mit den technischen Möglichkeiten der Übermittlung von Schriftsätzen als elektronisches Dokument vertraut gemacht hatte (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 – V ZB 11/22 –, Rn. 20, mwN.).

4. Auswirkungen für die Praxis

Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen. Einem Rechtsanwalt muss bekannt gewesen sein, dass ihn ab dem 01.01.2022 nicht nur wie bereits zuvor die („passive“) Pflicht trifft, elektronische Zustellungen und Erklärungen über das von ihm vorzuhaltende elektronische Anwaltspostfach zu empfangen (§ 31a Abs. 6 BRAO), sondern eine („aktive“) Nutzungspflicht bezüglich des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten. Die entsprechende Bestimmung des § 130d Satz 1 ZPO gehört zum verfahrensrechtlichen Grundwissen eines im Zivilprozess tätigen Rechtsanwalts (BGH, Beschl. v. 10.01.2023 - VIII ZB 41/22). Daher war jeder Rechtsanwalt verpflichtet, sich mit den technischen Voraussetzungen der ab dem 1.02.2022 einzig zulässigen Übermittlung von Schriftsätzen als elektronisches Dokument vertraut zu machen. Dazu gehört auch die Installation der regelmäßig angebotenen Updates.

29.2.2024
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BGH: Zur Ersatzeinreichung bei beA-Störung

Ein Gericht überspannt die sich aus § 130d Satz 3 ZPO ergebenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer auf technischen Gründen beruhenden vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument, wenn es eine anwaltliche Versicherung des Scheiterns einer solchen Übermittlung für zwingend erforderlich erachtet, ohne den vorgelegten aktuellen Ausdruck der Internetseite bea.expert zu berücksichtigen, aus der die Meldung der Bundesrechtsanwaltskammer betreffend die Störung des EGVP hervorgeht.  

BGH, Beschluss vom 25. Januar 2024 – I ZB 51/23 

1. Problemstellung

Ist Rechtsanwälten die obligatorische Übermittlung von Schriftsätzen als elektronisches Dokument aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig (§ 130d Satz2 ZPO). Nur für diesen Fall ist die Übermittlung von Schriftsätzen in gedruckter Form oder als Faxschreiben weiterhin möglich. Mit den Anforderungen an eine wirksame Ersatzeinreichung hatte sich der I. Zivilsenat zu befassen.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 20. Februar 2023 zugestellte Urteil des Landgerichts hat die Klägerin Berufung eingelegt. Mit einem am 20. April 2023 um 16:37 Uhr per Telefax eingereichten Schriftsatz hat die Klägerin beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. In einem zeitgleich versandten weiteren Schriftsatz hat sie ausgeführt, eine Versendung des Fristverlängerungsantrags über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) sei nicht möglich. Es bestehe seit 9:00 Uhr "eine Störung von beA im Bundesgebiet Nordrhein-Westfalen". Zur Glaubhaftmachung hat sie einen als "Störmeldung der BRAK" bezeichneten zweiseitigen Ausdruck der am 20. April 2023 auf der Internetseite bea.expert veröffentlichten Informationen vorgelegt. Auf dieser Internetseite werden einerseits von Nutzern gemeldete Störungen erfasst, andererseits Inhalte der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) zu aktuellen beA-Störungen wiedergegeben. Der von der Klägerin vorgelegte Ausdruck der Internetseite bea.expert beginnt mit der Mitteilung zum Stand vom 20. April 2023 16:19 Uhr: "keine beA-Störung gemeldet oder festgestellt." Weiter ist auf dem Ausdruck eine Störungsmeldung der BRAK, veröffentlicht auf der Internetseite https://portal.beasupport.de/→Aktuelles, Stand 16:00 Uhr, wiedergegeben, nach der im Land Nordrhein-Westfalen im Justizbereich eine Störung seit dem 19. April 2023, 14:12 Uhr, bestehe. Mit Verfügung vom 27. April 2023, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am selben Tag zugegangen, hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass eine vorübergehende Unmöglichkeit der fristgemäßen Übermittlung des Antrags auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist auf elektronischem Wege nicht im Einzelnen dargelegt und glaubhaft gemacht worden sei. Demnach komme eine Verwerfung der Berufung als unzulässig in Betracht, weil sie nicht fristgerecht begründet worden sei und dem nicht formgerecht gestellten Fristverlängerungsantrag nicht stattgegeben werden könne. Daraufhin hat die Klägerin mit einem am 12. Mai 2023 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz vorgetragen und glaubhaft gemacht, der letzte Übermittlungsversuch des Fristverlängerungsantrags über das beA am 20. April 2023 um 16:18 Uhr sei erneut fehlerhaft gewesen. Deshalb habe ihr Prozessbevollmächtigter den Fristverlängerungsantrag per Telefax übermitteln müssen. Mit am 22. Mai 2023 über das beA eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin die Berufung begründet und vorsorglich einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt.    

Das Berufungsgericht hat den Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Die Berufung sei unzulässig, weil sie nicht innerhalb der hierfür geltenden zweimonatigen Frist, sondern erst mit am 22. Mai 2023 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet worden sei. Dem per Telefax am 20. April 2023 eingegangenen Fristverlängerungsantrag habe nicht entsprochen werden können, da er als elektronisches Dokument zu übermitteln gewesen wäre. Die Voraussetzungen einer zulässigen Ersatzeinreichung nach § 130d Satz 2 und 3 ZPO lägen nicht vor. Zwar sei durch eine Mitteilung des Zentralen IT-Dienstleisters der Justiz in Nordrhein-Westfalen gerichtsbekannt, dass das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) vom 19. April 2023 um 14:12 Uhr bis zum 21. April 2023 um 21:20 Uhr in Nordrhein-Westfalen gestört gewesen sei. Dies habe die Klägerin jedoch nicht von der in § 130d Satz 3 ZPO normierten Obliegenheit entbunden, die vorübergehende Unmöglichkeit der Übermittlung eines elektronischen Dokuments unverzüglich glaubhaft zu machen. Die Darstellung im Schriftsatz der Klägerin vom 20. April 2023 entspreche nicht ansatzweise den Anforderungen des § 130d Satz 3 ZPO. Die der Ersatzeinreichung beigefügte Erklärung, dass ausweislich der beigefügten Störmeldung der Bundesrechtsanwaltskammer eine Störung des beA im Gebiet von Nordrhein-Westfalen vorliege, weshalb eine Versendung über das beA nicht möglich sei, enthalte keine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Zudem sei für eine Glaubhaftmachung erforderlich, dass der Anwalt die Richtigkeit seiner Angaben anwaltlich versichere, woran es im Schriftsatz vom 20. April 2023 ebenfalls fehle. Die ergänzenden Darlegungen im am 12. Mai 2023 eingegangenen Schriftsatz nebst den eidesstattlichen Versicherungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin und seiner Mitarbeiterin seien nicht mehr unverzüglich nach der Ersatzeinreichung erfolgt. Der Klägerin könne auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, weil die Fristversäumung nicht unverschuldet gewesen sei. Die Klägerin müsse sich das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen.    

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Berufungsgericht hat der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht verwehrt. Der Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand steht kein der Klägerin zurechenbares Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist entgegen. Die Klägerin war ohne ihr Verschulden und ohne ein ihr gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist verhindert (§ 233 ZPO). Sie durfte darauf vertrauen, dass ihr am 20. April 2023 per Telefax übermittelter Antrag, die Berufungsbegründungsfrist gemäß § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO um einen Monat zu verlängern, nicht abgelehnt werde. Der Rechtsmittelführer ist generell mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung des ihm eingeräumten pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt. Im Wiedereinsetzungsverfahren kann sich der Rechtsmittelführer deshalb nur dann mit Erfolg auf sein Vertrauen in eine Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. So verhielt es sich hier. Ohne Einwilligung des Gegners kann die Frist zur Berufungsbegründung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Hier hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit seinem Fristverlängerungsantrag einen konkreten Grund für den Antrag - die Erforderlichkeit der vorrangigen Bearbeitung anderweitiger fristgebundener Angelegenheiten nach einer mehrtätigen Ortsabwesenheit des alleinigen Sachbearbeiters - geltend gemacht. Darin liegt ein erheblicher Grund, der eine Fristverlängerung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO regelmäßig rechtfertigt.

Der Fristverlängerungsantrag ist auch wirksam gestellt worden. Eine elektronische - und damit formgerechte - Übermittlung des Verlängerungsantrags vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist ist hier zwar nicht erfolgt. Allerdings waren entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung gemäß § 130d Satz 2 und 3 ZPO erfüllt. Vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, sind nach § 130d Satz 1 ZPO als elektronisches Dokument zu übermitteln. Ist dies aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt nach § 130d Satz 2 ZPO die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig. Die vorübergehende Unmöglichkeit ist nach § 130d Satz 3 ZPO bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen; auf Anforderung ist ein elektronisches Dokument nachzureichen. Das Berufungsgericht hat bereits zu Unrecht angenommen, der Schriftsatz der Klägerin vom 20. April 2023 enthalte keine ausreichende Schilderung der einen Ausnahmefall nach § 130d Satz 2 ZPO begründenden Tatsachen, nach denen es aus vorübergehenden Gründen technisch unmöglich gewesen sei, den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist elektronisch zu übermitteln. Aus dem Inhalt des per Telefax eingereichten Schriftsatzes der Klägerin vom 20. April 2023 geht unmissverständlich hervor, dass die Übersendung des Fristverlängerungsgesuchs per Telefax erfolge, weil eine Versendung des Fristverlängerungsantrags auf elektronischem Weg über das beA nicht möglich gewesen sei. Soweit der Klägervertreter in dem per Telefax übermittelten Schriftsatz angegeben hat, es liege eine Störung des beA vor, trifft dies ausweislich der auf der Internetseite bea.expert veröffentlichten Informationen, die sich aus dem mit diesem Schriftsatz vorgelegten Ausdruck ergeben, allerdings nicht zu. Es hat keine Störung des beA, sondern des EGVP im Justizbereich von Nordrhein-Westfalen gegeben. Diese Ungenauigkeit im Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist jedoch unschädlich. Im Ergebnis hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit der Angabe, das beA sei gestört, lediglich die Ursache für die Unmöglichkeit der Übermittlung auf elektronischem Weg unrichtig bezeichnet. In technischer Hinsicht trifft sein Vortrag, eine elektronische Übermittlung über das beA sei nicht möglich gewesen, zu, weil durch die Störung des EGVP eine Übermittlung von Schriftstücken über das beA an die von der EGVP-Störung betroffenen Gerichte nicht erfolgen konnte. Weiterer Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin war nicht erforderlich.  

Das Berufungsgericht hat außerdem die sich aus § 130d Satz 3 ZPO ergebenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer auf technischen Gründen beruhenden vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument überspannt, indem es eine anwaltliche Versicherung des Scheiterns einer solchen Übermittlung für zwingend erforderlich erachtet hat, ohne den von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorgelegten aktuellen Ausdruck der Internetseite bea.expert zu berücksichtigen, aus der die Meldung der Bundesrechtsanwaltskammer betreffend die Störung des EGVP hervorging. Die Vorlage dieses Ausdrucks, bei dem es sich um ein Augenscheinsobjekt im Sinne von § 371 Abs. 1 ZPO handelt, war geeignet, die behauptete Störung glaubhaft zu machen (§ 294 ZPO).

3. Kontext der Entscheidung

Die Vorlage eines Screenshots ist nur Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit gemäß § 130d Satz 3 ZPO geeignet, wenn sein Inhalt mit den Angaben in der beA-Störungsdokumentation auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) übereinstimmt und in dem Archiv der auf der Störungsseite des Serviceportals des beA-Anwendersupports veröffentlichten Meldungen für den fraglichen Zeitraum eine Störung des beA-Systems bestand, wodurch die beA-Webanwendung nicht zur Verfügung stand und eine Adressierung von beA-Postfächern bzw. eine Anmeldung am beA nicht möglich war (BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2023 – XI ZB 1/23 –, Rn. 18). Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob eine Störung angesichts der auf der Internetseite der BRAK verfügbaren Informationen als offenkundig iSv. § 291 ZPO hätte behandeln können. Tatsachen sind allgemeinkundig, wenn sie zumindest am Gerichtsort der Allgemeinheit bekannt oder ohne besondere Fachkunde – auch durch Information aus allgemein zugänglichen zuverlässigen Quellen – wahrnehmbar sind. Die Tatsache muss nicht jedermann gegenwärtig sein, es genügt vielmehr, dass man sich aus einer allgemein zugänglichen und zuverlässigen Quelle ohne besondere Fachkunde über sie sicher unterrichten kann (BGH, Beschl. v. 24.5.2023 – VII ZB 69/21). Diese Voraussetzungen sind durch die beA-Störungsdokumentation auf der Internetseite der BRAK erfüllt, so dass weitere Glaubhaftmachung nicht erforderlich ist. Angesichts der Offenkundigkeit der Störung stellte es eine überflüssige Förmelei dar, Glaubhaftmachung durch anwaltliche Versicherung zu verlangen. Auf jeden Fall reicht die Beifügung eines Screenshots aus, um den Anforderungen des § 130d Satz 3 ZPO genüge zu tun. Nach Auffassung des BAG hat der Gesetzgeber mit der Regelung in § 130d Satz 3 ZPO abweichend von § 291 ZPO eine Glaubhaftmachung zur ausnahmslosen Voraussetzung für eine zulässige Ersatzeinreichung gemacht (zu § 46g Satz 4 ArbGG: BAG, Urteil vom 25. August 2022 – 6 AZR 499/21 -, Rn. 39). Um den sichersten Weg zu beschreiten, sollte bis zur Klärung der Anwendbarkeit des § 291 ZPO auf die vorliegende Konstellation vorsorglich eine anwaltliche Versicherung abgegeben werden.

4. Auswirkungen für die Praxis

Ist eine wirksame Ersatzeinreichung vorgenommen worden, ist der betroffene Einreicher nicht mehr gehalten, sich vor Fristablauf weiter um eine elektronische Übermittlung zu bemühen und hierzu vorzutragen. § 130d Satz 2 ZPO stellt auf die vorübergehende technische Unmöglichkeit im Zeitpunkt der beabsichtigten Übermittlung des elektronisch einzureichenden Dokuments ab. Nur hierzu muss vorgetragen werden (BGH, Urteil vom 25. Mai 2023 - V ZR 134/22 -, Rn. 10). Ein elektronisches Dokument ist nach § 130d Satz 3 Halbsatz 2 ZPO bei ausreichender Ersatzeinreichung zusätzlich nur auf gerichtliche Anforderung nachzureichen. Damit unterscheidet sich die Rechtslage von der im Falle einer gescheiterten Faxübermittlung. Ein Rechtsanwalt, der Schriftsätze über Telefax an das Gericht zustellen will, muss damit rechnen, dass das Empfangsfaxgerät des Gerichts am Nachmittag stark in Anspruch genommen und besetzt ist und darf seine Übermittlungsversuche nicht vorschnell aufgeben. Die Beendigung von Übersendungsversuchen um 19:02 Uhr ist als vorschnell anzusehen; der Rechtsanwalt muss im Laufe des Abends weitere Versuche unternehmen (BGH, Beschl. v. 04.11.2014 - II ZB 25/13). Der Rechtsanwalt muss aber nicht bis Mitternacht die elektronische Übermittlung weiter versuchen, wenn ihm die Ersatzeinreichung des Schriftsatzes vorher gelingt.

26.2.2024
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Kostenfolge bei Erledigungserklärung im selbständigen Beweisverfahren

1. Eine Erledigungserklärung des Antragstellers im selbständigen Beweisverfahren ist regelmäßig in eine Antragsrücknahme mit der Kostenfolge des § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO umzudeuten.

2. Liegt der Erledigungserklärung ein außergerichtlicher Vergleich zugrunde, in dem sich Antragsteller und Antragsgegner auf eine Kostenaufhebung geeinigt haben, dann liegt darin eine nach § 269 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abweichende Regelung, die für die Kostentragungspflicht in ihrem Prozessrechtsverhältnis maßgebend ist.

Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2023 – 2 W 41/22 

1. Problemstellung

Mit Problemen einer – ausnahmsweisen – Kostenentscheidung im selbständigen Beweisverfahren hatte sich das OLG Bremen zu befassen. Dabei ging es darum, ob die regelmäßig als Antragsrücknahme zu qualifizierende Erledigungserklärung in jedem Fall dazu führen muss, dem Antragsteller die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

In einem selbständigen Beweisverfahren teilte die Antragstellerin mit, dass sie sich mit der Antragsgegnerin zu 1 geeinigt habe. Gegenstand des Vergleichs ist eine Regelung über die Mängel aus dem selbständigen Beweisverfahren. Unter Nr. 3 des Vergleichs trafen die Antragstellerin und die Antragsgegnerin zu 1 eine Regelung über die Beendigung und Kosten des selbständigen Beweisverfahrens: „Nach vollständigem Eingang der Zahlung der W. an die D. gem. Ziff. 2 erklären die D. sowie die W. das selbständige Beweisverfahren für erledigt. Die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens werden zwischen den Parteien dieser Vereinbarung gegeneinander aufgehoben. Die W. hält die D. von etwaigen Kostenerstattungsansprüchen (insbesondere Rechtsanwaltskosten) der Streitverkündeten/Nebenintervenienten, die durch Streitverkündung der W. in das Streitgegenständliche Beweisverfahren einbezogen worden sind, frei.“ Die Antragstellerin hat in dem Schriftsatz das selbständige Beweisverfahren für erledigt erklärt und die Antragsgegnerin zu 1 aufgefordert, sich der Erledigungserklärung anzuschließen. Eine entsprechende Erledigungserklärung hat die Antragsgegnerin zu 1 abgegeben. Die Antragstellerin hat ausgeführt, dass sich die weitere Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens bzw. eines späteren Hauptverfahrens überholt habe. Die Antragstellerin habe das selbständige Beweisverfahren nicht „freiwillig“ durch Rücknahme oder Ähnliches beendet. Das Landgericht hat die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens der Antragstellerin auferlegt. Im selbständigen Beweisverfahren sei zwar grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs von § 494a ZPO keine Entscheidung über die Kostentragungspflicht zu treffen. Eine Ausnahme finde jedoch dann statt, wenn der Antragsteller den Antrag auf Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens zurückgenommen habe. Gleiches gelte, wenn eine einseitige Erledigungserklärung des Antragstellers in eine Antragsrücknahme umzudeuten sei. Das sei regelmäßig der Fall, wenn nach dem Willen des Antragstellers das selbständige Beweisverfahren endgültig beendet werden solle. Eine einseitige Erledigungserklärung sei unzulässig. Die Umdeutung einer unzulässigen Erledigungserklärung entspreche regelmäßig dem mutmaßlichen Interesse des Antragsgegners. Dem stehe nicht entgegen, dass die Rücknahme mit der für den Antragsteller nachteiligen Kostentragungspflicht des § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO verbunden sei, denn diesem Gesichtspunkt komme angesichts des vorrangigen Willens, das Verfahren zu beenden, keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Für eine Anwendung von § 269 Abs. 3 S. 3 ZPO sei im selbständigen Beweisverfahren kein Raum.  

Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin, der sich die Antragsgegnerin zu 1 ausdrücklich angeschlossen hat, hat Erfolg. Die Kostenentscheidung des Landgerichts ist dahin abzuändern, dass die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens im Prozessrechtsverhältnis zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin zu 1 aufzuheben sind und die außergerichtlichen Kosten der weiteren Antragsgegnerinnen von der Antragstellerin zu tragen sind. Diese Kostentragungspflicht folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 269 Abs. 2 S. 2 ZPO. Das Landgericht hat im Ansatz zutreffend ausgeführt, dass eine einseitige Erledigungserklärung im selbständigen Beweisverfahren unzulässig und regelmäßig in eine Rücknahme des Antrags auf Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens mit der Kostenfolge aus § 269 Abs. 2 S. 2 ZPO umzudeuten ist. Das gilt auch dann, wenn übereinstimmende Erledigungserklärungen vorliegen. Eine Kostenentscheidung nach § 91a ZPO scheidet aus, da diese Vorschrift ebenso wie § 269 Abs. 3 S. 3 ZPO im selbständigen Beweisverfahren nicht anwendbar ist. Das Landgericht hat jedoch nicht berücksichtigt, dass die Rücknahmeerklärung nach § 269 Abs. 2 S. 2 ZPO nicht in jedem Falle dazu führt, dass die Kosten des Verfahrens von dem Antragsteller zu tragen sind. Nach dieser Vorschrift ist eine abweichende Kostentscheidung zu treffen, wenn sie dem Prozessgegner aus einem anderen Grund aufzuerlegen sind. Dazu gehört insbesondere auch eine von § 269 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 ZPO abweichende Regelung der prozessualen Kostenlast in einem gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich. Da § 269 Abs. 2 S. 2 ZPO bei der Rücknahme des Antrags auf Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens entsprechend anwendbar ist, sind auch in diesem Fall andere Gründe wie der Abschluss eines außergerichtlichen Vergleichs bei der Entscheidung über die Kostentragung zu berücksichtigen. Es sind auch keine Gründe ersichtlich, die eine Einschränkung der Anwendung der Regelung in § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO gebieten könnten. Soweit der Bundesgerichtshof eine entsprechende Anwendung von § 91a ZPO ausschließt, wird dies damit begründet, dass eine sachliche Prüfung im selbständigen Beweisverfahren nicht vorgesehen sei. Grundlage für die Erledigung der Hauptsache sei der Eintritt einer Tatsache mit Auswirkungen auf die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Zulässigkeit oder Begründetheit der Klage. Aus der von dem Antragsteller abgegebenen Erklärung könne kein Schluss auf eine ihn treffende materielle Kostentragungspflicht gezogen werden (BGH, Beschluss vom 9.5.2007 – IV ZB 26/06 –, Rn. 12). Ist aber – wie hier – keine streitige nach billigem Ermessen zu treffende Kostenentscheidung erforderlich, dann können auch keine Bedenken bestehen auf der Grundlage einer außergerichtlichen Einigung eine Kostenentscheidung zu treffen. Die außergerichtlichen Kosten der am Beschwerdeverfahren beteiligten Antragstellerin und Antragsgegnerin zu 1 sind entsprechend § 92 Abs. 1 ZPO gegeneinander aufzuheben.

3. Kontext der Entscheidung

Eine im selbstständigen Beweisverfahren unzulässige einseitige Erledigungserklärung des Antragstellers ist regelmäßig in eine Antragsrücknahme mit der Kostenfolge des § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO umzudeuten. Das gilt auch dann, wenn das Beweissicherungsinteresse zum Zeitpunkt der Erklärung entfallen war (BGH, Beschluss vom 24. Februar 2011 – VII ZB 20/09). Eine Kostenentscheidung in entsprechender Anwendung von § 91a ZPO kommt im selbständigen Beweisverfahren nicht in Betracht. Das gilt unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt des selbständigen Beweisverfahrens übereinstimmende Erledigungserklärungen der Parteien erfolgen. Soweit die Erklärungen der Parteien sich darauf beziehen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung eines selbständigen Beweisverfahrens weggefallen sind, besteht keine Vergleichbarkeit der Erledigung der Hauptsache in einem Rechtsstreit mit der in diesem Sinne verstandenen Erledigung eines selbständigen Beweisverfahrens. Denn in der Anordnung einer Beweiserhebung iSv. § 490 Abs. 2 ZPO liegt gerade keine Entscheidung über ein Recht oder einen Anspruch, noch ergeht eine solche Anordnung zum Nachteil des Antragsgegners. Eine kostenrechtliche Bewertung des selbständigen Beweisverfahrens danach, ob der Beweisantrag bis zum Eintritt des in diesem Sinne das Beweisverfahren erledigenden Ereignisses zulässig und begründet gewesen sei, widerspräche dem Grundsatz, dass sich die Kostentragungspflicht auch bei einem zulässigen und begründeten Beweissicherungsantrag nach dem materiellen Ergebnis des Hauptsacheprozesses und der Notwendigkeit der Kosten für die Rechtsverfolgung beurteilt (BGH, Beschluss vom 24. Februar 2011 – VII ZB 108/08 -, Rn. 7 - 8, mwN.). Die für den Antragsteller nachteilige Kostenfolge des § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO lässt sich, wenn Antragsteller und Antragsgegner einig sind, durch eine Kostenregelung im Vergleich vermeiden. Denn bei Rücknahme der Klage nach einem Vergleich geht die im Vergleich getroffene Kostenregelung - auch im Verhältnis zum Streithelfer - der gesetzlichen Regelung des § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO vor (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2004 – VII ZB 4/04). Dasselbe muss für das selbständige Beweisverfahren gelten. Um Kostenerstattungsansprüchen etwaiger Streithelfer zu entgehen, sollten Antragsteller und Antragsgegner sich auf Kostenaufhebung einigen (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2004 – VII ZB 4/04 –, Rn. 9, mwN.).

4. Auswirkungen für die Praxis

Die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens gehören grundsätzlich zu den Kosten des anschließenden Hauptsacheverfahrens und werden von der darin zu treffenden Kostenentscheidung mit umfasst. Nur ausnahmsweise, wenn trotz Fristsetzung keine Hauptsacheklage erhoben worden ist, kann im selbständigen Beweisverfahren gemäß § 494a Abs. 2 Satz 1 ZPO eine Kostenentscheidung ergehen. Verzichtet der Antragsteller - etwa wegen des für ihn ungünstigen Ergebnisses der Beweisaufnahme - auf die Hauptsacheklage, soll dies nicht dazu führen, dass er der Kostenpflicht entgeht, die sich aus der Abweisung der Klage in der Hauptsache ergäbe. Dabei ist § 494a ZPO als Ausnahmevorschrift eng auszulegen (BGH, Beschluss vom 9. Mai 2007 – IV ZB 26/06 –, Rn. 6, mwN.).

26.2.2024
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Zum Verjährungsbeginn bei Bauhandwerkersicherung

Für die Berechnung der Verjährungsfrist des Anspruch auf Stellung einer Bauhandwerkersicherung nach § 648a BGB a.F., bei dem es sich um einen sog. verhaltenen Anspruch handelt, ist nicht taggenau auf den Zeitpunkt der erstmaligen Geltendmachung des Sicherungsverlangens abzustellen, sondern es findet die Regelung des § 199 Abs. 1 BGB Anwendung, wonach die regelmäßige Verjährungsfrist, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, (erst) mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, beginnt.

OLG München, Urteil vom 21. November 2023 – 9 U 301/23 Bau e

1. Problemstellung

Der VII. Zivilsenat des BGH hat mit Urteil vom 25. März 2021 entschieden, dass die Verjährungsfrist des Anspruchs auf Stellung einer Bauhandwerkersicherung nach § 648a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. (jetzt § 650f Abs. 1 Satz 1 BGB) nicht vor dem Verlangen des Unternehmers nach Sicherheit beginnt (BGH, Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20; dazu: Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 12/2021 Anm. 3 und Thode, jurisPR-PrivBauR 12/2021 Anm. 3). Bei dem Anspruch auf Stellung einer Bauhandwerkersicherung handelt es sich somit um einen sog. verhaltenen Anspruch, dessen Fälligkeit erst eintritt, wenn der Gläubiger den Anspruch geltend macht. Ob auf diesen Anspruch die Ultimo-Regelung des § 199 Abs. 1 BGB Anwendung findet oder ob für den Beginn der Verjährung taggenau auf den Tag der erstmaligen Geltendmachung abzustellen ist, ist bisher höchstrichterlich nicht geklärt.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Stellung einer Sicherheit nach § 648a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. für Honorar aus einem von der Beklagten zu 3 gekündigten Generalplanervertrag und dessen Nachträgen in Anspruch. Die Beklagten zu 1 und zu 2 sind Eigentümer nebeneinander gelegener Grundstücke. Sie schlossen sich zu einer GbR (Beklagte zu 3) zusammen, die eine zeitgleiche, aufeinander bezogene Umnutzung und Umbebauung der beiden Grundstücke als Bauherrin in die Hand nahm. Am 12.10.2015 schlossen die Parteien einen Generalplanervertrag (GVP) für die Baumaßnahme ab. Auftraggeber war die Beklagte zu 3. Die bestehenden Büro- und Gewerbegebäude sollten in zwei Wohngebäude für Studenten und Auszubildende sowie anteilige gewerbliche Nutzung umgebaut werden. Mit Nachtrag Nr. 02 vom 16.05.2018 vereinbarten die Parteien u.a. zusätzliche Honoraransprüche und waren sich einig, dass die Planung nunmehr auf die Errichtung eines Aparthotels bzw. Boardinghauses angepasst bzw. geändert werden sollte. In der Folge stritten die Parteien vermehrt über die von der Klägerin gestellten Abschlagsrechnungen und von ihr geltend gemachter Nachtragsforderungen. Am 15.10.2018 forderte die Klägerin von der Beklagten zu 3 die Stellung einer Sicherheit nach § 648a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. in Höhe von insgesamt 1.443.590,21 €. Die Beklagte zu 3 stellte keine Sicherheit, sondern kündigte den Vertrag mit der Klägerin mit Schreiben vom 29.10.2018 fristlos aus wichtigem Grund. Die Klägerin ließ die Kündigung mit anwaltlichem Schreiben zurückweisen, verwies gleichzeitig darauf, dass sie von einer freien Kündigung ausgehe und verlangte von der Beklagten zu 3 die Abnahme der erbrachten Leistungen.  

Unstreitig hat die Beklagtenseite bislang 1.765.703,73 € an die Klägerin bezahlt. Unter dem 14.06.2021 stellte die Klägerin Schlussrechnung, mit welcher sie für erbrachte Leistungen (5.033.730,73 € abzüglich der geleisteten Abschlagszahlungen von 1.765.703,73 € =) 3.268.027,01 € sowie für nicht erbrachte Leistungen abzüglich ersparter Aufwendungen 657.512,58 € geltend machte, mithin insgesamt 3.925.739,59 €. Zeitgleich mit der Schlussrechnung forderte die Klägerin von der Beklagten erneut die Stellung einer Sicherheit bis zum 28.06.2021 für erbrachte Leistungen zuzüglich 10 % für Nebenforderungen, mithin in Höhe eines Betrages von 3.594.000 €. Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Anspruch der Klägerin auf Stellung einer Sicherheit nach § 648a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. bereits vor Klageerhebung verjährt gewesen sei. Bei dem Anspruch nach § 648a BGB a.F. handle es sich um einen verhaltenen Anspruch mit der Folge, dass der Lauf der Verjährungsfrist durch die erstmalige Geltendmachung durch den Gläubiger in Gang gesetzt werde. Für den Lauf der Verjährung sei nicht das Kalenderjahr, in dem der Anspruch geltend gemacht wurde, sondern taggenau der Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs bestimmend und von einer Gesamtanalogie zu den Vorschriften der §§ 604 Abs. 5, 695 Satz 2 und 696 Satz 3 BGB auszugehen. Die Regelung des § 199 Abs. 1 BGB finde auf verhaltene Ansprüche keine Anwendung.  

Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat gegenüber den Beklagten einen Anspruch auf Stellung einer Bauhandwerkersicherheit gemäß § 648a BGB a.F. in der geltend gemachten Höhe. Der Anspruch ist auch nicht verjährt. Entgegen der Rechtsmeinung des Erstgerichts ist der geltend gemachte Anspruch auf Stellung einer Bauhandwerkersicherung nach § 648a BGB a.F., bei dem es sich um einen sog. verhaltenen Anspruch handelt, nicht verjährt, da für die Berechnung der Verjährungsfrist nicht taggenau auf den Zeitpunkt der erstmaligen Geltendmachung des Sicherungsverlangens abzustellen ist, sondern die Regelung des § 199 Abs. 1 BGB Anwendung findet, wonach die regelmäßige Verjährungsfrist, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, (erst) mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, beginnt. Das Ersturteil weicht insoweit von obergerichtlichen Entscheidungen ab, in denen (zutreffend) davon ausgegangen wird, dass die Vorschrift des § 199 Abs. 1 BGB bei einem Anspruch nach § 648a BGB a.F. nicht verdrängt wird, sondern zur Anwendung kommt (OLG Köln, Urteil vom 17. Juni 2020 – I-11 U 186/19). Auch in anderen obergerichtlichen Entscheidungen, in denen es um andere verhaltene Ansprüche, wie z.B. § 666 Alt. 2 BGB (Auskunftserteilung auf Verlangen) geht, in denen ebenfalls der Verjährungsbeginn nicht ausdrücklich im Gesetz abweichend von § 199 Abs. 1 BGB geregelt ist, geht die obergerichtliche Rechtsprechung ganz selbstverständlich von der Anwendung des § 199 Abs. 1 BGB aus (BGH, Urteil vom 1.12.2011 – III ZR 71/11, Rn. 12; OLG Hamm, Urteil vom 5.4.2016 - I – 4 U 36/15, Rn. 56 f.; OLG Köln, Urteil vom 23.8.2013 – I – 6 U 27/13, Rn. 41). Das Erstgericht bleibt eine nachvollziehbare Begründung, weshalb zwingend von einer taggenauen Berechnung der Verjährungsfrist bei § 648 BGB a.F. auszugehen ist und § 199 Abs. 1 BGB keine Anwendung finden soll, schuldig. Die streitentscheidende Frage, ob auf sog. verhaltene Ansprüche die Regelung des § 199 Abs. 1 BGB anwendbar ist oder sich die Verjährungsfrist taggenau ab Geltendmachung berechnet, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt für den Anspruch aus § 648a BGB a.F. bzw. § 650f BGB. Ganz überwiegend wird in Rechtsprechung und Literatur von einer Anwendung des § 199 Abs. 1 BGB ausgegangen. Bei der vom Landgericht vertretenen Auffassung handelt es sich um eine Mindermeinung. Diese hält jedoch einer kritischen Prüfung nicht stand und kann sich auch nicht auf das Grundsatzurteil des BGH vom 25.03.2021 (BGH, Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20) berufen. Denn dort hat der VII. Senat des BGH lediglich entschieden, dass die Verjährung des Anspruchs auf Stellung einer Bauhandwerkersicherung nach § 648a BGB a.F. (jetzt § 650f BGB) nicht vor dem Verlangen des Unternehmers nach Sicherheit zu laufen beginnt und dieser Anspruch als sog. „verhaltener“ Anspruch zu qualifizieren ist, jedoch ausdrücklich die Frage offengelassen, ob sich die Verjährungsfrist taggenau oder nach § 199 Abs. 1 BGB berechnet, da dies für den dort entschiedenen Fall nicht streitentscheidend war. Das Landgericht stellt vom Ausgangspunkt her zutreffend fest, dass sich der BGH im Urteil vom 25.03.2021 zur vorliegenden Streitfrage (taggenaue Berechnung der Verjährungsfrist oder Anwendung des § 199 Abs. 1 BGB) explizit nicht geäußert hat, was demgegenüber die Beklagten grundsätzlich verkennen, wenn sie ständig wiederholen, der BGH sei in dieser Entscheidung von der taggenauen Berechnung der Verjährungsfrist bei § 648a BGB a.F. ausgegangen. Dies ist unzutreffend und beruht auf einer unzulässigen Gleichsetzung einer Qualifizierung eines Anspruchs als „verhalten“ und einer sich daraus angeblich ergebenden taggenauen Berechnung der Verjährungsfrist. Dieser Schluss ist aber weder zwingend noch zutreffend, weil sich eine taggenaue Berechnung der Verjährungsfrist nur in den vom Gesetzgeber angeordneten Ausnahmefällen zu § 199 Abs. 1 BGB ergibt, im Übrigen aber § 199 Abs. 1 BGB gilt. Das Erstgericht bleibt eine nachvollziehbare Begründung, weshalb zwingend von einer taggenauen Berechnung der Verjährungsfrist bei § 648 BGB a.F. auszugehen ist und § 199 Abs. 1 BGB keine Anwendung finden soll, schuldig. Die streitentscheidende Frage, ob auf sog. verhaltene Ansprüche die Regelung des § 199 Abs. 1 BGB anwendbar ist oder sich die Verjährungsfrist taggenau ab Geltendmachung berechnet, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt für den Anspruch aus § 648a BGB a.F. bzw. § 650f BGB. Der VII. Senat des BGH hat lediglich entschieden, dass die Verjährung des Anspruchs auf Stellung einer Bauhandwerkersicherung nach § 648a BGB a.F. (jetzt § 650f BGB) nicht vor dem Verlangen des Unternehmers nach Sicherheit zu laufen beginnt und dieser Anspruch als sog. „verhaltener“ Anspruch zu qualifizieren ist, jedoch ausdrücklich die Frage offengelassen, ob sich die Verjährungsfrist taggenau oder nach § 199 Abs. 1 BGB berechnet, da dies für den dort entschiedenen Fall nicht streitentscheidend war (BGH, Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20 -, Rn. 27).    

Das Landgericht stellt vom Ausgangspunkt her zutreffend fest, dass sich der BGH im Urteil vom 25.03.2021 zur vorliegenden Streitfrage (taggenaue Berechnung der Verjährungsfrist oder Anwendung des § 199 Abs. 1 BGB) explizit nicht geäußert hat, was demgegenüber die Beklagten grundsätzlich verkennen, wenn sie ständig wiederholen, der BGH sei in dieser Entscheidung von der taggenauen Berechnung der Verjährungsfrist bei § 648a BGB a.F. ausgegangen. Dies ist unzutreffend und beruht auf einer unzulässigen Gleichsetzung einer Qualifizierung eines Anspruchs als „verhalten“ und einer sich daraus angeblich ergebenden taggenauen Berechnung der Verjährungsfrist. Dieser Schluss ist aber weder zwingend noch zutreffend, weil sich eine taggenaue Berechnung der Verjährungsfrist nur in den vom Gesetzgeber angeordneten Ausnahmefällen zu § 199 Abs. 1 BGB ergibt, im Übrigen aber § 199 Abs. 1 BGB gilt. Dies lässt sich bereits dem Wortlaut und der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Gesetzessystematik entnehmen, wonach nur in den vom Gesetzgeber ausdrücklich geregelten Fällen abweichend von § 199 Abs. 1 BGB eine taggenaue Berechnung der Verjährungsfrist in Betracht kommt, es aber ansonsten bei der Regelung des § 199 Abs. 1 BGB verbleiben soll, die vom Gesetzgeber gerade als allgemeine Auffangregelung für alle sonstigen, nicht ausdrücklich anders geregelten Fällen geschaffen wurde. Da der Gesetzgeber bei § 648a BGB a.F. bzw. § 650f BGB gerade nicht ausdrücklich angeordnet hat, dass die Verjährungsfrist bereits mit erstmaliger Geltendmachung des Sicherungsverlangens taggenau zu laufen beginnt, verbleibt es bei der Geltung der allgemeinen Auffangregelung des § 199 Abs. 1 BGB. Da die Anwendung des § 199 Abs. 1 BGB zudem zu keinem unangemessenen Ergebnis führt und insbesondere kein Bedürfnis nach einer noch kürzeren Verjährungsfrist, als sie § 199 Abs. 1 BGB vorsieht, besteht, ist von der Anwendung dieser Vorschrift auszugehen. Selbst wenn der Gesetzgeber von der Vorstellung geleitet gewesen sein sollte, dass bei verhaltenen Ansprüchen generell eine taggenaue Berechnung der Verjährungsfrist angezeigt wäre, hätte er dies in der von ihm schließlich getroffenen Regelung nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht, sondern vielmehr für den Rechtsanwender den Eindruck erweckt, dass es für die Berechnung der Verjährungsfrist bei allen von ihm nicht ausdrücklich abweichend von § 199 Abs. 1 BGB geregelten Fällen - und somit auch bei allen übrigen verhaltenen Ansprüchen - bei der gesetzlichen Regelung des § 199 Abs. 1 BGB sein Bewenden hat. Denn wenn der Gesetzgeber wirklich gewollt hätte, dass bei verhaltenen Ansprüchen generell eine taggenaue Berechnung zu erfolgen hat, hätte er dies als allgemeine Regelung im Gesetz ausdrücklich regeln können und auch müssen, z.B. mit der Formulierung: „Bei verhaltenen Ansprüchen beginnt abweichend von § 199 Abs. 1 BGB die Verjährung taggenau mit der erstmaligen Geltendmachung des Anspruchs“. Da eine solche Formulierung aber im Gesetz fehlt, scheint der Wille des Gesetzgebers letztlich doch nicht dahin zu gehen, dass bei verhaltenen Ansprüchen generell eine taggenaue Berechnung der Verjährungsfrist zur Anwendung kommen soll, sondern eben nur in den ausdrücklich von ihm geregelten Fällen verhaltener Ansprüche, da er nur in diesen Fällen überhaupt einen Regelungsbedarf erkannt hat und ihm in allen übrigen Fällen die gesetzlich vorgesehene Anwendung des § 199 Abs. 1 BGB offenbar nicht als unangemessene Rechtsfolge erschienen ist. Jedenfalls ist es im Rahmen der Gesetzesauslegung nicht möglich, unter Verweis auf einen etwaigen, verborgen gebliebenen, subjektiven Willen des Gesetzgebers sich soweit vom Regelungsgehalt einer Vorschrift zu entfernen, dass diese in ihr Gegenteil verkehrt wird. Für die behauptete doppelte Analogie zu einzelnen, vom Gesetzgeber als „verhalten“ identifizierter Ansprüche aus dem Leih- und Verwahrungsvertragsrecht (§§ 604 Abs. 3, 695 S. 1 und 696 S. 3 BGB) fehlt es bereits an einer Regelungslücke sowie an einer vergleichbaren Interessenlage. Das Landgericht unterstellt dem Gesetzgeber zunächst, er habe bei der Einführung und Neufassung des § 648a BGB (und nochmals bei der Einführung von § 650f BGB) nicht erkannt, dass es sich hierbei um einen verhaltenen Anspruch handele. Es unterstellt darüber hinaus, dass der Gesetzgeber dann, wenn er zu dieser Erkenntnis gekommen wäre, als Ausnahme zur Regel des § 199 Abs. 1 BGB eine besondere Regelung zum Beginn des Verjährungslaufs des dortigen Anspruchs in der Weise getroffen hätte, dass es – ebenso wie für die Regelungen in §§ 604 Abs. 5, 695 S.2, 696 S. 3 BGB – für den Beginn des Verjährungslaufs auf den Zeitpunkt der erstmaligen Geltendmachung des Sicherheitsverlangens ankomme. Beide vom Landgericht an den Gesetzgeber adressierten Unterstellungen sind gleichermaßen unberechtigt. Es gibt keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber verkannt haben soll, dass es sich bei dem Anspruch des Unternehmers aus § 648a BGB a. F./ § 650f BGB um einen verhaltenen Anspruch handelt, zu dessen Entstehung und Fälligkeit tatbestandlich seine Geltendmachung erforderlich ist. Hingegen hat der Gesetzgeber nachweislich keinen Zweifel daran gelassen, dass dann, wenn kein anderer Verjährungsbeginn durch ihn positiv bestimmt wurde, die regelmäßige Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem der Anspruch entstanden bzw. fällig geworden ist. Mit der Neufassung des § 199 Abs. 1 BGB wollte der Gesetzgeber – u. a. in Fällen wie dem vorliegenden – im Zuge der Schuldrechtsreform die Unsicherheit bei der Voraussehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen beseitigen. Das war und ist der Zweck des § 199 Abs. 1 BGB. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers sollte durch die einfache, auf den Schluss eines Kalenderjahres bezogene, einheitliche Feststellung des Verjährungseintritts Klarheit und Vorhersehbarkeit geschaffen werden. Ausnahmen vom Grundsatz des § 199 Abs. 1 BGB gerade durch Richterrecht sind daher nicht zuzulassen, da solchen durch Richterrecht geschaffenen Ausnahmen sowohl die vom Gesetzgeber gewählte Gesetzessystematik als auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und -klarheit entgegenstehen. Gerade letztgenanntem Grundsatz kommt vorliegend bei der Verjährung von Ansprüchen besondere Bedeutung zu, da sich für den Rechtsanwender ohne weiteres durch einen einfachen Blick ins Gesetz ergeben muss, welche Verjährungsfrist hinsichtlich des in Betracht kommenden Anspruchs zur Anwendung kommt und wie diese grundsätzlich zu berechnen ist. Soll sich dies erst durch einen Rückgriff auf eine im Gesetz nicht geregelte „doppelte Analogie“ oder „Gesamtanalogie“ ergeben, fehlt es an jeglicher Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit für den einem solchen Recht unterworfenen Rechtsanwender. Für eine Erweiterung expliziter Ausnahmeregelungen durch demnach ungerechtfertigte „Gesamtanalogien“ auf Basis unzutreffender Unterstellungen gegenüber dem Gesetzgeber ist daher kein Raum. Bei den Vorschriften der §§ 604 Abs. 5, 695 S. 2 und 696 S. 3 BGB handelt es sich um Ausnahmevorschriften, welche die allgemeine Vorschrift zur „Ultimo Verjährung“ in § 199 Abs. 1 BGB modifizieren. Ausnahmevorschriften sind jedoch nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht analogiefähig. Das Landgericht hat nach Auffassung des Senats daher contra legem entschieden. Es gibt keine Rechtfertigung für eine Abweichung von § 199 Abs. 1 BGB im vorliegenden Fall.  

3. Kontext der Entscheidung

§ 199 BGB gilt für die Verjährung von Ansprüchen, die keiner besonderen Verjährungsfrist unterstellt sind und damit der regelmäßigen Frist unterliegen, und für Ansprüche, die ausdrücklich der regelmäßigen Verjährungsfrist unterstellt sind. § 199 BGB gilt auch nicht, wenn der Anspruch zwar der regelmäßigen Verjährungsfrist unterliegt, deren Beginn aber besonders geregelt ist. Beispiele hierfür sind die Ansprüche auf Rückgabe aus Leihe und Verwahrung, die zwar in der Frist des § 195 BGB verjähren, deren Beginn aber in §§ 604 Abs. 5, 695 Satz 2 und 696 Satz 2 BGB besonders geregelt ist (Schmidt-Ränsch in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 199 Rn. 2). Verhaltene Ansprüche waren nach vor der Schuldrechtsreform herrschenden Ansicht (BGH, Urteil vom 17. Dezember 1999 – V ZR 448/98) nach Eintritt der sonstigen Voraussetzungen entstanden, auch wenn der Gläubiger das Erfüllungsverlangen nicht aussprach, was auch sachgerecht war, da ein Abstellen auf die Geltendmachung zu einer beträchtlichen Verlängerung der ohnehin schon langen Verjährungsfrist von regelmäßig 30 Jahren geführt und es auch erlaubt hätte, das Verbot einer Erschwerung der Verjährung nach § 225 a.F. BGB zu unterlaufen. Mit der Schuldrechtsform haben sich die Bedingungen jedoch grundlegend verändert: Die Verjährungsfrist beträgt heute nur noch drei Jahre und würde den Gläubiger zwingen, zur Rechtswahrung ein Schuldverhältnis zu beenden, das er fortsetzen möchte. Außerdem besteht das Erschwerungsverbot nicht mehr. Der Gesetzgeber hat zwar davon abgesehen, das Entstehen des Anspruchs in solchen Fällen explizit anders zu regeln. Er hat aber bei den Hauptanwendungsfällen, Leihe und Verwahrung, durch Sondervorschriften bestimmt, dass die Verjährung mit der Geltendmachung des Anspruchs beginnen soll. Hieraus ist das allgemeine Prinzip zu entnehmen, dass verhaltene Ansprüche generell erst mit der Geltendmachung entstehen (Schmidt-Ränsch in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 199 Rn. 4a). Für den Anspruch auf Stellung einer Bauhandwerkersicherheit enthielt weder § 648a BGB a.F. noch enthält § 650f BGB eine den zitierten Vorschriften vergleichbare Regelung. Dann aber liegt es in Hinblick auf die Gesetzgebungshistorie nahe, den Beginn der Verjährungsfrist verallgemeinernd für andere verhaltene Ansprüche, für die der Verjährungsbeginn nicht ausdrücklich geregelt ist, anknüpfend an das Erfüllungsverlangen des Gläubigers zu bestimmen, wie der BGH ausgeführt hat (BGH, Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20 –, Rn. 26). Einer vernünftigen Begründung entbehrte es dann, den Beginn der Verjährungsfrist zwar in dem Erfüllungsverlangen des Gläubigers zu sehen, aber für den Anspruch aus § 648a BGB a.F. bzw. § 650f BGB die Ultimo-Regel des § 199 Abs. 1 BGB anzuwenden, wie das OLG München meint. Es ist nicht zu rechtfertigen, warum für die gesetzlich geregelten Fälle verhaltener Ansprüche die Verjährungsfrist taggenau beginnt und für den Anspruch auf Bauhandwerkersicherheit eine Ausnahme gelten sollte.  

4. Auswirkungen für die Praxis

Das OLG Köln als Vorinstanz zum BGH war in seiner Entscheidung, deren Überprüfung Gegenstand des Urteils des BGH vom 25. März 2021 (BGH, Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20; dazu: Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 12/2021 Anm. 3 und Thode, jurisPR-PrivBauR 12/2021 Anm. 3) war, ist ohne nähere Begründung davon ausgegangen, dass die Ultimo-Regelung des § 199 Abs. 1 BGB anwendbar ist: Konkret bedeutet das, dass die dreijährige Verjährungsfrist gem. § 195 BGB am Ende des Jahres beginnt, in dem das Sicherungsverlangen erstmals gestellt wurde,§ 199 Abs. 1 BGB.“ (OLG Köln, Urteil vom 17. Juni 2020 – I-11 U 186/19 –, Rn. 63). Der BGH, der die Qualifizierung des Anspruchs als verhaltenen Anspruch durch das OLG gebilligt hat, hat formuliert: „Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung im Wesentlichen stand.“ (BGH, Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20 –, Rn. 12). Daraus kann gefolgert werden, dass die Anwendbarkeit der Ultimo-Regel der rechtlichen Nachprüfung nicht standhält. Da im entschiedenen Fall die dreijährige Verjährungsfrist, berechnet vom Zugang des Anspruchsschreibens noch nicht abgelaufen war, brauchte der BGH nicht zu entscheiden, ob die Ultimo-Regel anwendbar ist. Wörtlich heißt es dazu im Urteil: „Auf die Frage, ob die Verjährungsfrist - wie das Berufungsgericht angenommen hat - mit Ablauf des Jahres 2018 begonnen hat, kommt es hiernach nicht an.“ (BGH, Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20 –, Rn. 27). Mit diesem obiter dictum hat der BGH angedeutet, dass die Verjährung mit dem Zugang der der Aufforderung des Unternehmers beginnt (Thode, jurisPR-PrivBauR 12/2021 Anm. 3). Die Praxis ist somit gut beraten, den sichersten Weg einzuschlagen und von der taggenauen Berechnung der Verjährungsfrist auszugehen.

15.2.2024
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BGH: Vorrang der Verfahrenskostenhilfeentscheidung

Der verfahrenskostenhilfebedürftige Rechtsmittelführer ist auch dann unverschuldet an der rechtzeitigen Einlegung des Rechtsmittels gehindert, wenn er ein wegen bestehenden Anwaltszwangs unzulässiges persönliches Rechtsmittel eingelegt und dafür Verfahrenskostenhilfe beantragt hat. Das Rechtsmittelgericht hat auch in diesem Fall zunächst über die beantragte Verfahrenskostenhilfe zu entscheiden, bevor es das Rechtsmittel als unzulässig verwirft.

BGH, Beschluss vom 10. Januar 2024 – XII ZB 510/23

1. Problemstellung

Der XII. Zivilsenat hatte – erneut (zuvor: BGH, Beschluss vom 4. November 2015 – XII ZB 289/15) zu entscheiden, ob ein Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen ist, wenn eine verfahrenskostenhilfebedürftige Partei ein wegen bestehenden Anwaltszwangs unzulässiges persönliches Rechtsmittel eingelegt und dafür Verfahrenskostenhilfe beantragt.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Antragsgegner hat gegen einen seinem damaligen Verfahrensbevollmächtigten am 25. Mai 2023 zugestellten Beschluss des Amtsgerichts (Familiengericht) mit am 15. Juni 2023 beim Amtsgericht eingegangenem Schreiben vom 12. Juni 2023 persönlich Beschwerde eingelegt und diese begründet. Gleichzeitig hat er die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Mit am 25. Juni 2023 beim OLG eingegangenem Schreiben hat der Antragsgegner die Beschwerde erneut eingelegt und begründet sowie nochmals Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts gestellt. Das OLG hat die Beschwerde als unzulässig, weil nicht durch einen Rechtsanwalt eingelegt, verworfen und zugleich das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners wegen fehlender Erfolgsaussichten zurückgewiesen, weil die Beschwerde unzulässig sei.  

Die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Das OLG hätte die Beschwerde nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen dürfen, dass diese entgegen § 114 FamFG nicht von einem Rechtsanwalt eingelegt worden ist. Denn der Antragsgegner hat mit Schreiben vom 12. Juni 2023 innerhalb der Beschwerdefrist die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe beantragt. Ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsfrist Verfahrenskostenhilfe beantragt hat, ist bis zur Entscheidung über seinen Antrag als unverschuldet verhindert anzusehen, das Rechtsmittel wirksam einzulegen oder rechtzeitig zu begründen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Das gilt auch dann, wenn neben dem Verfahrenskostenhilfegesuch ein unzulässiges Rechtsmittel eingelegt worden ist. Da der Verfahrenskostenhilfe beantragende Beteiligte wegen seiner Bedürftigkeit gehindert ist, einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen, ist ihm, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste, nach Entscheidung über die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Beschwerdegericht hat dementsprechend zunächst über das Verfahrenskostenhilfegesuch zu entscheiden.

Daran gemessen durfte das OLG die Beschwerde nicht gleichzeitig mit der Entscheidung über das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners verwerfen. Es hätte vielmehr zunächst über die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe entscheiden müssen, weil dem Antragsgegner - bei Nachholung der formwirksamen Beschwerdeeinlegung und -begründung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist - Wiedereinsetzung in den Lauf der Beschwerde- und der Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren gewesen wäre. Der Antragsgegner musste nach den gegebenen Umständen insbesondere nicht mit der Ablehnung seines Verfahrenskostenhilfeantrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen, weil er ausweislich der innerhalb der Beschwerdefrist vorgelegten Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und der beigefügten Belege als Empfänger von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch nicht in der Lage war, die Verfahrenskosten selbst zu tragen.

Entgegen der Ansicht des OLG stand einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch nicht entgegen, dass ein Wiedereinsetzungsantrag nicht innerhalb der nach § 113 Abs. 1 FamFG für die Beschwerdeeinlegung maßgeblichen Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingegangen ist. Die Frist zur Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beginnt bei einem innerhalb der Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsfrist gestellten Verfahrenskostenhilfeantrag regelmäßig nicht vor der Zustellung der Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag. Früher beginnt die Frist nur, wenn der Beteiligte - etwa wegen eines gerichtlichen Hinweises, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nicht vorliegen - schon zuvor nicht mit einer Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe rechnen konnte. Mangels vorheriger Entscheidung des OLG über das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners war das durch dessen Bedürftigkeit bedingte Hindernis, einen Rechtsanwalt für das Beschwerdeverfahren zu beauftragen, nicht behoben und hatte daher die Frist für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den Lauf der Beschwerdefrist - und der Beschwerdebegründungsfrist - entgegen der Ansicht des OLG vor der Verwerfungsentscheidung nicht zu laufen begonnen (§ 113 Abs. 1 FamFG iVm § 234 Abs. 2 ZPO). Der Antragsgegner musste auch nicht wegen des zuvor ergangenen Hinweises des OLG auf die Unzulässigkeit der Beschwerde bereits zu einem früheren Zeitpunkt mit einer Versagung von Verfahrenskostenhilfe rechnen. Er durfte darauf vertrauen, dass das OLG der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach bei rechtzeitig gestelltem Verfahrenskostenhilfeantrag zunächst über die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zu entscheiden ist, entsprechen und ihn nicht durch eine gleichzeitige Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag und die Verwerfung der Beschwerde rechtlos stellen würde.

3. Kontext der Entscheidung

Der Senat bestätigt seine bisherige Rechtsprechung. Danach ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittelfrist oder Rechtsmittelbegründungsfrist Prozesskostenhilfe (oder Verfahrenskostenhilfe) beantragt hat, bis zur Entscheidung über seinen Antrag als unverschuldet verhindert anzusehen, das Rechtsmittel wirksam einzulegen oder rechtzeitig zu begründen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Das gilt auch dann, wenn neben dem Verfahrenskostenhilfegesuch ein unzulässiges Rechtsmittel eingelegt worden ist. Da der Verfahrenskostenhilfe beantragende Beteiligte wegen seiner Verfahrenskostenhilfebedürftigkeit gehindert ist, einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen, ist ihm, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste, nach Entscheidung über die Verfahrenskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (BGH, Beschluss vom 4. November 2015 – XII ZB 289/15 –, Rn. 6 mwN.)  

4. Auswirkungen für die Praxis

Hat eine Partei in einer Familienstreitsache innerhalb der Beschwerdefrist Verfahrenskostenhilfe beantragt, ist sie nur so lange als schuldlos an der Fristwahrung gehindert anzusehen, wie sie nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit einer die Verfahrenskostenhilfe ablehnenden Entscheidung rechnen muss, weil sie sich für bedürftig halten darf und aus ihrer Sicht alles Erforderliche getan hat, damit ohne Verzögerung über ihr Verfahrenskostenhilfegesuch entschieden werden kann (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn.13). Die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist beginnt daher, sobald dem Beteiligten ein gerichtlicher Hinweis zugeht, dass die Voraussetzungen für eine Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nicht vorliegen. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt muss der Antragsteller mit der Ablehnung des Verfahrenskostenhilfegesuchs rechnen; er darf deswegen mit seinem Wiedereinsetzungsgesuch und der Nachholung der versäumten Verfahrenshandlung nicht über die 14tägige Frist (§§ 234 Abs. 1 Satz 1, 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) hinaus zuwarten, bis das Gericht über sein Gesuch entscheidet (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn. 24).  Wird in einer Familienstreitsache die Beschwerde anstatt bei dem gemäß § 64 Abs. 1 FamFG für ihre Entgegennahme zuständigen Amtsgericht beim Beschwerdegericht eingelegt, hat das angerufene Gericht die Beschwerdeschrift im ordentlichen Geschäftsgang an das Amtsgericht weiterzuleiten, wenn ohne weiteres die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts erkennbar und - damit regelmäßig - die Bestimmung des zuständigen Gerichts möglich ist. Geht der Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Amtsgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf ein Verfahrensbeteiligter darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig dort eingeht (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn. 28). Unterbleibt die gebotene Weiterleitung der Beschwerdeschrift an das Amtsgericht, ist weitere Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung, dass die bei einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang verbleibende Zeit für die Fristwahrung ausreichend gewesen wäre. Dies hat grundsätzlich der die Wiedereinsetzung begehrende Beteiligte darzulegen und glaubhaft zu machen ( BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn. 30).

15.2.2024
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BGH: Keine Gutachtenverwertung nach Gutachterablehnung

1. Gemäß § 412 Abs. 2 ZPO kann das Gericht die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist. In diesem Fall darf ungeachtet des Wortlauts des § 412 Abs. 2 ZPO ("kann") das Gutachten des abgelehnten Sachverständigen grundsätzlich nicht mehr verwertet werden.

2. Die erfolgreiche Ablehnung des Sachverständigen steht der Verwertbarkeit seines Gutachtens jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Partei, die sich auf die Befangenheit des Sachverständigen beruft, den Ablehnungsgrund in rechtsmissbräuchlicher Weise provoziert hat und gleichzeitig kein Anlass zu der Besorgnis besteht, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei Erstellung seiner bisherigen Gutachten beeinträchtigt gewesen ist.

BGH, Urteil vom 5. Dezember 2023 - VI ZR 34/22

1. Problemstellung

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte zu entscheiden, ob ein Gericht nach erfolgreicher Ablehnung eines Sachverständigen dessen Gutachten noch verwerten darf, wenn dieser erst wegen seiner die Grenzen der gebotenen Neutralität und Sachlichkeit überschreitenden Stellungnahme zum Befangenheitsantrag für befangen erklärt worden ist.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin nimmt die Beklagte nach ärztlicher Behandlung auf Schadensersatz in Anspruch. Der Sachverständige hat sein schriftliches Gutachten vom 5. Juli 2020 im Verhandlungstermin vor dem Landgericht am 4. Februar 2021 mündlich erläutert. Die Klägerin hat den Sachverständigen im Termin als befangen abgelehnt und dies anschließend in einem Schriftsatz begründet. Mit Schreiben vom 18. April 2021 hat der Sachverständige dazu Stellung genommen. Daraufhin hat die Klägerin ihr Befangenheitsgesuch mit einem neuen Schriftsatz auch darauf gestützt, dass der Sachverständige in seiner Stellungnahme vom 18. April 2021 in unangemessener Weise Kritik am Befangenheitsantrag sowie an ihrem Prozessbevollmächtigten und dessen Verhalten in der mündlichen Verhandlung geübt habe. Das Landgericht hat das Gesuch der Klägerin, den Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin hat das OLG (4. Zivilsenat) das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt. Es könne dahinstehen, ob die zunächst geltend gemachten Gründe rechtzeitig angebracht worden seien, da es jedenfalls zu diesem Zeitpunkt an einem Befangenheitsgrund gemangelt habe. Jedoch habe der Sachverständige mit seiner Stellungnahme vom 18. April 2021 die Grenzen der gebotenen Neutralität und Sachlichkeit überschritten, indem er das Prozessverhalten und die Persönlichkeitsstruktur des Klägervertreters analysiert und negativ bewertet habe.  

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das OLG (5. Zivilsenat) die Berufung zurückgewiesen. Die Klägerin habe einen Behandlungsfehler oder eine fehlerhafte Aufklärung nicht nachgewiesen. Das Gutachten des Sachverständigen vom 5. Juli 2020 und das Ergebnis der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens vom 4. Februar 2021 seien weiterhin verwertbar. Das Landgericht sei nicht verpflichtet gewesen, ein neues Gutachten eines anderen Sachverständigen einzuholen. Da der Sachverständige und der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vor der Erstellung des Gutachtens nicht aufeinandergetroffen seien, bestehe auch aus Sicht einer vernünftig denkenden Partei kein Anlass zu der Besorgnis, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei der Erstellung des Gutachtens beeinträchtigt gewesen sei. Darüber hinaus sei das Ablehnungsgesuch der Klägerin gegen den Sachverständigen rechtsmissbräuchlich, weil sie damit verfahrensfremde Zwecke verfolge. Ablehnungsanträge, welche ausschließlich zur Prozessverschleppung oder zur Verfolgung anderer verfahrensfremder Zwecke gestellt würden, seien aufgrund fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig. Im vorliegenden Fall sei die Verfolgung verfahrensfremder Zwecke aus dem Prozessverlauf ersichtlich.  

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht keine Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen angeordnet (§ 412 Abs. 2 ZPO) und seine Entscheidung auf die Ausführungen des abgelehnten Sachverständigen gestützt hat. Gemäß § 412 Abs. 2 ZPO kann das Gericht die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist. In diesem Fall darf ungeachtet des Wortlauts des § 412 Abs. 2 ZPO („kann“) das Gutachten des abgelehnten Sachverständigen grundsätzlich nicht mehr verwertet werden.  

Gründe für eine Ausnahme von dieser Regel liegen nicht vor. Das Berufungsgericht hat nicht annehmen dürfen, dass das Ablehnungsgesuch der Klägerin unzulässig sei. Es hat ausgeführt, dass das Ablehnungsgesuch der Klägerin gegen den Sachverständigen rechtsmissbräuchlich sei, weil sie damit verfahrensfremde Zwecke verfolge. Ablehnungsanträge, welche ausschließlich zur Prozessverschleppung oder zur Verfolgung anderer verfahrensfremder Zwecke gestellt würden, seien aufgrund fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig. Die Verfolgung verfahrensfremder Zwecke sei aus dem Prozessverlauf ersichtlich. In ihrer Stellungnahme zum Sachverständigengutachten habe sich die Klägerin noch einige seiner Aussagen zu eigen gemacht und lediglich die fehlerhafte Zugrundelegung eines falschen Sachverhalts gerügt. Als der Sachverständige jedoch bei seinen der Klägerin ungünstigen Feststellungen geblieben sei, sei der Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit angebracht worden. Danach sei offensichtlich, dass die Klägerin die ihr unliebsame Folge der Beweisaufnahme dadurch zu umgehen versucht habe, durch die Ablehnung des Sachverständigen die Einholung eines neuen Gutachtens zu erreichen. Diese unzulässige, weil rechtsmissbräuchliche Prozesstaktik bzw. dieses Ziel ergebe sich schließlich auch aus der Berufungsbegründung, in der die Klägerin mitgeteilt habe, sie hätte ein eigenes Gutachten eingeholt, wenn das Landgericht – statt direkt die Klage abzuweisen – darauf hingewiesen hätte, dass es das Sachverständigengutachten verwerten wolle. Diese Beurteilung des Berufungsgerichts widerspricht der Bindungswirkung der im Ablehnungsverfahren getroffenen Entscheidung. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin hat ein anderer Zivilsenat des OLG das Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen für begründet erklärt. Diese Entscheidung unterliegt gemäß § 512, § 406 Abs. 5 ZPO nicht der Beurteilung des Berufungsgerichts, das an sie gebunden ist. Im Übrigen trägt der Verfahrensablauf nicht die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass das Ablehnungsgesuch der Klägerin gegen den Sachverständigen rechtsmissbräuchlich gewesen sei. Das Prozessverhalten der Klägerin stellt entgegen der Beurteilung des Berufungsgerichts keine rechtsmissbräuchliche Prozesstaktik dar, um eine unliebsame Folge der Beweisaufnahme zu umgehen, sondern die Wahrnehmung eines prozessualen Rechts. Denn es steht einer Partei frei, vom Ablehnungsrecht (§ 406 Abs. 1 Satz 1 ZPO iVm. § 42 Abs. 2 ZPO) in den durch § 406 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 ZPO bestimmten zeitlichen Grenzen Gebrauch zu machen.

Zwar steht die erfolgreiche Ablehnung des Sachverständigen der Verwertbarkeit seines Gutachtens jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Partei, die sich auf die Befangenheit des Sachverständigen beruft, den Ablehnungsgrund in rechtsmissbräuchlicher Weise provoziert hat und gleichzeitig kein Anlass zu der Besorgnis besteht, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei Erstellung seiner bisherigen Gutachten beeinträchtigt gewesen ist. Die Entscheidung über die Frage der weiteren Verwertbarkeit ist nicht mehr Teil des Ablehnungsverfahrens. Ein Ablehnungsgesuch ist ein einheitlich zu behandelnder Antrag, der entweder insgesamt zurückzuweisen ist oder zur Feststellung der Befangenheit des Abgelehnten führt. Welche Folgen die erfolgreiche Ablehnung insbesondere im Hinblick auf die bisherige Mitwirkung des abgelehnten Sachverständigen hat, ist vom Gericht im Rahmen seiner Entscheidung, welche Beweise noch zu erheben sind, zu beurteilen. Allerdings hat das Berufungsgericht schon keine Feststellungen getroffen, aus denen sich ergibt, dass die Klägerin den Ablehnungsgrund in rechtsmissbräuchlicher Weise provoziert hat. Zudem hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft angenommen, es bestehe kein Anlass zu der Besorgnis, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei Erstellung seiner bisherigen Gutachten beeinträchtigt gewesen sei. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Klägerin habe zunächst weder in der Vorbereitung oder in der Begutachtung an sich noch in der schriftlichen Ausarbeitung des Sachverständigen vom 5. Juli 2020 einen Ablehnungsgrund gesehen. Ein Ablehnungsgesuch sei erst nach der mündlichen Erläuterung des Gutachtens durch den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 4. Februar 2021 angebracht worden. Zwar habe ein anderer Senat des Oberlandesgerichts das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt. Allerdings habe dieser eindeutig zwischen dem Verhalten des Sachverständigen bei der Begutachtung und seiner anschließenden schriftlichen Stellungnahme vom 18. April 2021 zum Befangenheitsantrag differenziert und ausgesprochen, dass ein Befangenheitsgrund erst mit seiner Stellungnahme gegeben sei. Er habe herausgearbeitet, dass es zum Zeitpunkt des Befangenheitsgesuchs an einem Befangenheitsgrund gemangelt habe. Daraus ergebe sich, dass Fehlverhaltensweisen des Sachverständigen bei der Vorbereitung der Begutachtung oder der Begutachtung selbst, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten, hier nicht vorlägen. Es sei folglich nicht rechtsfehlerhaft gewesen, dass das Landgericht das schriftliche Gutachten und dessen mündliche Erläuterung verwertet habe. Die Ausführungen des Sachverständigen hätten vor dem 18. April 2021 gelegen. Erst ab diesem Zeitpunkt wäre eine Fortsetzung der Tätigkeit des Sachverständigen nicht mehr hinnehmbar gewesen, weil er sich dem Prozessbevollmächtigten gegenüber unsachlich geäußert habe. Da der Sachverständige und der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vor der Erstellung des Gutachtens nicht aufeinandergetroffen seien und somit kein Anlass für den Sachverständigen bestanden habe, das Verhalten des klägerischen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung zu bewerten und zu kritisieren, worauf allein der Befangenheitsgrund im weiteren Schriftsatz der Klägerin gestützt sei, bestehe auch aus der Sicht einer vernünftig denkenden Partei kein Anlass zur Besorgnis, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei der Erstellung des Gutachtens beeinträchtigt gewesen sei. Aus diesen Erwägungen des Berufungsgerichts ergibt sich zunächst nur, was die Klägerin als Grund, der geeignet gewesen ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen (Befangenheitsgrund), geltend gemacht hat und was als Befangenheitsgrund angenommen worden ist. Soweit das Berufungsgericht anschließend meint, es bestehe kein Anlass zur Besorgnis, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei Erstellung des Gutachtens beeinträchtigt gewesen sei, beschränkt es sich auf den Hinweis, dass der Sachverständige und der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vor der Erstellung des Gutachtens nicht aufeinandergetroffen seien und somit kein Anlass für den Sachverständigen bestanden habe, das Verhalten des klägerischen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung zu bewerten und zu kritisieren. Das Berufungsgericht verhält sich jedoch nicht näher dazu, ob die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen bereits zuvor beeinträchtigt gewesen sein könnte. Daraus, dass eine (mögliche) Beeinträchtigung der Unvoreingenommenheit sich nicht schon früher offenbart hat, folgt nicht, dass eine solche auch nicht vorgelegen hat. Die zur Befangenheit des Sachverständigen führende Kritik am klägerischen Prozessbevollmächtigten betraf insoweit hier gerade auch dessen Verhalten in der mündlichen Verhandlung, anlässlich derer sich der Sachverständige gutachterlich geäußert hatte. Deshalb ist die Annahme nicht gerechtfertigt, dass aus Sicht einer vernünftig denkenden Partei kein Anlass zur Besorgnis bestand, die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen könne schon bei seinen mündlichen Ausführungen in der Verhandlung beeinträchtigt gewesen sein.

3. Kontext der Entscheidung

Soweit ersichtlich ist die besprochene Entscheidung die erste und einzige zur Auslegung des Wortes „kann“ in § 412 Abs. 2 ZPO. Der BGH vermag in Rn. 7 nur Kommentarliteratur zu zitieren, die übereinstimmend der Meinung ist, dass die Formulierung des § 412 Abs. 2 ZPO „Das Gericht kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist.“ so zu verstehen ist, dass die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen zwingend ist. Bei der Verwendung des Wortes „kann“ soll es sich um einen Redaktionsfehler handeln (Musielak/Voit/Huber, 20. Aufl. 2023, ZPO § 412 Rn. 2). Die von Huber zum Nachweis genannte Belegstelle „Zöller/Greger Rn. 4“ ist allerdings – zumindest in der 35. Auflage 2024 – nicht einschlägig. Vielmehr wird dort nur unter der Überschrift „Unverwertbares Gutachten infolge Ablehnung (§ 412 II)“ schlicht festgestellt: „Hier führt an der Einholung eines „weiteren“ Gutachtens kein Weg vorbei, soweit noch Beweisbedürftigkeit besteht.“ (Greger in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 412 Rn. 3). Die wörtliche und die historische Auslegung des § 412 Abs. 2 ZPO, der im Übrigen mit § 83 Abs. 2 StPO übereinstimmt, führen somit zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die teleologische Auslegung der Norm spricht jedoch für eine Verpflichtung des Gerichts, „die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen an(zu)ordnen.“ Denn die erfolgreiche Ablehnung des Sachverständigen führt dazu, dass dieser als sachverständiger Berater des Gerichts ausscheidet. Eine Differenzierung der Verwertbarkeit bereits erstatteter Gutachten danach, ab wann sie mit dem späteren Ablehnungsgrund infiziert sind, würde zu unlösbaren Schwierigkeiten führen, so die generelle Unverwertbarkeit die sachgerechte Lösung ist. Hat das Ablehnungsgesuch Erfolg, ist somit ein bereits erstattets Gutachten unverwertbar. Der abgelehnte Gutachter kann jedoch noch als sachverständiger Zeuge vernommen werden (BeckOK ZPO/Scheuch, 51. Ed. 1.12.2023, ZPO § 406 Rn. 39). Etwas anderes gilt nur, wenn das Gericht zwischenzeitlich eigene Sachkunde erworben hat, die aber nicht überwiegend aus dem Gutachten des abgelehnten Sachverständigen herrühren darf, oder wenn mehrere Sachverständige bestellt waren und das Gutachten des abgelehnten Sachverständigen verzichtbar erscheint (MüKoZPO/Zimmermann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 412 Rn. 7).

4. Auswirkungen für die Praxis

Ergibt sich der Grund zur Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit aus dem Inhalt des schriftlichen Gutachtens, läuft im Allgemeinen die Frist zur Ablehnung des Sachverständigen gleichzeitig mit der vom Gericht gesetzten Frist zur Stellungnahme nach § 411 Abs. 4 ZPO ab, wenn sich die Partei zur Begründung des Antrags mit dem Inhalt des Gutachtens auseinandersetzen muss (BGH, Beschl. v. 15.03.2005 - VI ZB 74/04). Erstaunlich ist, dass es Parteivertretern immer noch gelingt, den Sachverständigen durch scharf formulierte Kritik im Ablehnungsgesuch zu provozieren und ihn dazu zu bringen, einen Ablehnungsgrund „nachzuliefern“. So kann es aus der maßgeblichen Sicht eines Ablehnenden bereits als Voreingenommenheit des abgelehnten Sachverständigen verstanden werden, wenn dieser auf die Bitte des Gerichts um eine ergänzende Stellungnahme mitteilt, dass er dafür erneut die Akte studieren müsse, er aber bereits wisse, dass sich „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ keine neuen Erkenntnisse ergeben werden (OLG Braunschweig, Beschluss vom 9. September 2020 – 11 W 27/20).

8.2.2024
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BGH: Anforderungen an Fristverlängerungsantrag

An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden.  

Insoweit reicht der bloße Hinweis auf einen als erheblich anerkannten Grund – wie z.B. Arbeitsüberlastung - aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Die Angabe des Berufungsführers, er sei "nicht in der Lage", die Berufung fristgerecht zu begründen, reicht nicht aus.

BGH, Beschluss vom 9. Januar 2024 - VIII ZB 31/23  

(LG Mainz, Entscheidung vom 11.11.2022 - 3 O 10/22; OLG Koblenz, Entscheidung vom 21.03.2023 - 1 U 1959/22)

1. Das Problem:

Der Kläger hat gegen ein Urteil des Landgerichts fristgerecht Berufung eingelegt und mit Schriftsatz vom 12. Januar 2023 beantragt, die am 16. Januar 2023 (Montag) ablaufende Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern, da er "nicht in der Lage" sei, die Berufung fristgerecht zu begründen. Diesen Antrag hat der Vorsitzende des Berufungssenats mit Verfügung vom 13. Januar 2023 abgelehnt und den Kläger anschließend - nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist - darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Berufung mangels Eingangs einer Berufungsbegründung als unzulässig zu verwerfen. Daraufhin hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufungsbegründung eingereicht.  

Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Der Wiedereinsetzungsantrag habe keinen Erfolg, da der Kläger die Frist zur Begründung der Berufung nicht ohne - ihm zurechenbares (§ 85 Abs. 2 ZPO) - Verschulden seines Prozessbevollmächtigten versäumt habe. In einem Wiedereinsetzungsverfahren könne sich der Berufungsführer nur dann mit Erfolg auf sein Vertrauen in die Gewährung der von ihm nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO beantragten Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit habe erwartet werden können. Dies sei bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist im Allgemeinen der Fall, sofern dieser auf erhebliche Gründe iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestützt werde. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe mit seiner Ausführung, wonach er "nicht in der Lage" gewesen sei, die Berufung fristgerecht zu begründen, einen erheblichen Grund nicht dargelegt. Es werde lediglich mitgeteilt, dass die Frist nicht eingehalten werden könne, ohne hierfür überhaupt einen sachlichen Grund anzugeben. Eine Schlussfolgerung auf einen erheblichen Grund wäre eine reine Spekulation. Somit habe der Kläger nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Berufungsbegründungsfrist mit großer Wahrscheinlichkeit verlängert werde, und diese daher schuldhaft versäumt.

2. Die Entscheidung des Gerichts:

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung verletzt nicht die Verfahrensgrundrechte des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Gemessen hieran verletzen die Versagung einer Wiedereinsetzung und die Verwerfung der Berufung als unzulässig den Kläger in seinen vorgenannten Verfahrensgrundrechten nicht, da die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem dem Kläger gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruht. Denn dieser durfte mangels Darlegung eines erheblichen Grundes iSv. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht auf die Gewährung der von ihm beantragten Verlängerung der Frist vertrauen. Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt, alles ihm Zumutbare zu tun, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Erkennt er, dass er eine Frist zur Rechtsmittelbegründung nicht einhalten kann, muss er durch einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Fristverlängerung dafür Sorge tragen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch gar nicht erst notwendig wird. Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners auf Antrag um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Zwar muss ein Berufungskläger grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Berufungsgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist versagt. Ohne Verschulden im Sinne von § 233 ZPO handelt der Rechtsanwalt daher nur dann, wenn (und soweit) er auf die Fristverlängerung vertrauen durfte, das heißt, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Dies ist jedoch bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist im Allgemeinen der Fall, sofern dieser auf erhebliche Gründe iSd. des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestützt wird. An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden. Insoweit reicht der bloße Hinweis auf einen als erheblich anerkannten Grund aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Wird der Antrag auf Fristverlängerung nicht in diesem Sinne begründet, muss der Rechtsmittelführer hingegen damit rechnen, dass der Vorsitzende in einem solchen Antrag eine Verzögerung des Rechtsstreits sehen und das Gesuch deshalb ablehnen werde.    

So liegt der Fall hier. Denn der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in seinem Antrag einen erheblichen Grund für die Gewährung der von ihm begehrten Fristverlängerung nicht genannt. Er hat lediglich darauf verwiesen, dass er "nicht in der Lage" sei, die Berufung fristgerecht zu begründen, was das Berufungsgericht zu Recht als bloße Mitteilung der Nichteinhaltung der Frist angesehen hat. Ein Grund, warum der Prozessbevollmächtigte des Klägers hierzu "nicht in der Lage" gewesen sei, wird nicht genannt. Somit genügt der Fristverlängerungsantrag selbst den geringen Anforderungen nicht, welche die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an die Darlegung eines erheblichen Grundes iSv. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO stellt. Anders als der Kläger meint, kann die Erklärung seines Prozessbevollmächtigten nicht dahingehend ausgelegt werden, er habe sich konkludent darauf berufen, aufgrund einer Arbeitsüberlastung "nicht in der Lage" gewesen zu sein, die Berufung fristgerecht zu begründen. Zwar kann unter Umständen auch eine konkludente Darlegung der für eine Fristverlängerung erforderlichen Voraussetzungen genügen und zählt zu den erheblichen Gründen iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO insbesondere die Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten. Einer Auslegung des Fristverlängerungsantrags dahingehend, dass sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers konkludent auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe, steht jedoch entgegen, dass im Antrag keinerlei tatsächlichen Umstände genannt werden, aus denen der Anlass der begehrten Fristverlängerung hätte entnommen und aus denen somit ein Rückschluss auf den erheblichen Grund hätte gezogen werden können. Allein aus der unterbliebenen Angabe anderer Hinderungsgründe folgt entgegen der Ansicht des Klägers nicht, dass sich der Klägervertreter zur Begründung seines Fristverlängerungsantrags (konkludent) auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe. Denn eine solche ist - insbesondere, wenn wie hier eine längere Fristverlängerung begehrt wird - nicht ohne weiteres als erheblicher Grund im Sinne des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO zu vermuten.

3. Konsequenzen für die Praxis:

Auch wenn sich ein (erster) Fristverlängerungsantrag nicht ausdrücklich auf Arbeitsüberlastung beruft, kann ihm bei der gebotenen Auslegung eine konkludente Berufung auf eine Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten zu entnehmen sein. Bei der Auslegung von Prozesshandlungen darf eine Partei nicht am buchstäblichen Sinn ihrer Wortwahl festgehalten werden, sondern es ist davon auszugehen, dass sie mit ihrer Prozesshandlung im Zweifel dasjenige erreichen will, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage der Prozesspartei entspricht. Daher kann unter Umständen auch eine konkludente Darlegung der für eine Fristverlängerung erforderlichen Voraussetzungen ausreichend sein. So hat es der BGH die Erklärung des Prozessbevollmächtigten ausreichen lassen, er habe den Entwurf der Berufungsbegründung zwar bereits erstellt und mit seiner Partei auch besprechen können; die sich aus dem Mandantengespräch ergebenen Änderungen und Ergänzungen müssten aber noch eingearbeitet werden. "Insoweit" bedürfe es einer Fristverlängerung um eine Woche. Bei verständiger Würdigung seiner Erklärungen hat der Prozessbevollmächtigte das Fristverlängerungsgesuch konkludent auf Arbeitsüberlastung als erheblichen Grund gestützt, indem er zum Ausdruck gebracht hat, dass es ihm aus zeitlichen Gründen nicht möglich gewesen sei, die bereits im Entwurf vorliegende Berufungsbegründung rechtzeitig bei Gericht einzureichen. Dies allein würde zwar noch keinen erheblichen Grund iSv. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO darstellen. Bei lebensnaher und vernünftiger Betrachtung kommt aber allein eine Arbeitsüberlastung als Ursache für den zur Begründung der beantragten erstmaligen Fristverlängerung um (nur) eine Woche angeführten zeitlichen Engpass in Betracht. Der Prozessbevollmächtigte des Beklagten hat die beantragte Fristverlängerung weder auf eine Erkrankung noch auf eine Urlaubsabwesenheit gestützt. Ausdrücklich klargestellt hat er, dass die Fristverlängerung nicht wegen einer noch ausstehenden Rücksprache bei der Partei erforderlich ist. Wenn ein Prozessbevollmächtigter bei dieser Sachlage unter Hinweis auf eine bereits erfolgte Rücksprache mit der Partei erstmals eine kurzzeitige Fristverlängerung mit der Begründung beantragt, die nach dem Mandantengespräch erforderlich gewordenen Ergänzungen und Änderungen seien noch einzuarbeiten, "insoweit" bedürfe es einer Fristverlängerung um eine Woche, wird damit zum Ausdruck gebracht, die bis zum Fristablauf verbleibende Zeit genüge in Anbetracht des sonstigen Geschäftsanfalls des Prozessbevollmächtigten nicht, um die Berufungsbegründung fristgerecht mit der erforderlichen Sorgfalt fertigzustellen. Unter diesen Umständen für einen ausreichenden Fristverlängerungsantrag zu verlangen, dass die Wendung "Arbeitsüberlastung" ausdrücklich gebraucht wird, käme einer bloßen Förmelei gleich. (BGH, Beschluss vom 9. Mai 2017 – VIII ZB 69/16 –, MDR 2017, 895).

4. Beraterhinweis:

Bei Einwilligung des Gegners ist auch das Vertrauen des Berufungsklägers in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt. Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung erneut zu verlängern, darf er darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben wird. (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZB 15/22 -, MDR 2023, 379). Voraussetzung ist aber, dass mit dem Antrag die Einwilligung des Gegner vorgelegt oder zumindest anwaltlich versichert wird.

6.2.2024
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BGH: Zum Ausschluss der Heimfallvergütung im Erbbaurechtsvertrag

  1. Vereinbart eine Gemeinde als Grundstückseigentümerin mit einem Privaten in einem Erbbaurechtsvertrag den Ausschluss der Heimfallvergütung, verstößt dies für sich genommen nicht gegen das Gebot angemessener Vertragsgestaltung aus § 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB.
  2. Der Ausschluss der Heimfallvergütung führt dazu, dass die Geltendmachung des Heimfallanspruchs einer strengen Ausübungskontrolle im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des gemeindlichen Handelns unterliegt. Die Forderung nach der vergütungslosen Rückübertragung des Erbbaurechts kann sich insbesondere dann als unverhältnismäßig darstellen, wenn der Heimfall nicht auf einer schwerwiegenden Vertragsverletzung des Erbbauberechtigten beruht, das Bauwerk ganz oder weitestgehend fertiggestellt ist, der Erbbauberechtigte erhebliche Investitionen getätigt hat und die Gemeinde absehbar in der Lage sein wird, das Bauwerk anderweitig zu nutzen oder zu verwerten.

BGH, Urteil vom 19. Januar 2024 – V ZR 191/22

1. Problemstellung

Der V. Zivilsenat hatte darüber zu entscheiden, ob der schuldhafte Verstoß gegen die in einem Erbbaurechtsvertrag über ein städtisches Grundstück übernommene Bauverpflichtung des Erbbauberechtigten (hier: Bau einer Moschee) die vergütungslose Rückübertragung des Erbbaurechts rechtfertigt, oder ob der private Erbbauberechtigte für seinen Verstoß gegen vertragliche Pflichten damit übermäßig sanktioniert wird.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin ist eine Stadt in Baden-Württemberg, der Beklagte ein gemeinnütziger Verein, dessen Zweck darin besteht, Menschen islamischen Glaubens soziale, kulturelle und religiöse Dienste anzubieten. Um ihren muslimischen Bürgern die Ausübung ihres Glaubens in einer Moschee ermöglichen, vereinbarte die Klägerin mit dem Beklagten, dass dieser ein Grundstück der Klägerin in einem ersten Bauabschnitt mit einer Moschee und einem Kulturhaus bebauen sollte. Die Parteien schlossen am 26. November 2014 eine insgesamt als Erbbaurechtsvertrag (im Folgenden: ErbbV) bezeichnete notarielle Vereinbarung, mit der die Klägerin dem Beklagten für die Dauer von 60 Jahren und einer Verlängerungsmöglichkeit von weiteren 30 Jahren ein Erbbaurecht an ihrem Grundstück einräumte. Es wurde ein gestaffelter Erbbauzins vereinbart von anfänglich 35.336 € jährlich ab dem 1. Juli 2017. Der Beklagte verpflichtete sich, den ersten Bauabschnitt innerhalb von vier Jahren ab dem 1. November 2014 fertigzustellen. Anderenfalls sollte die Klägerin berechtigt sein, die Rückübertragung des Erbbaurechts zu verlangen (Heimfall). Eine Vergütung für das Erbbaurecht wurde für diesen Fall vertraglich ausgeschlossen, und der Beklagte sollte auf Verlangen der Klägerin verpflichtet sein, die Moschee und das Kulturhaus auf eigene Kosten zu beseitigen. In dem Vertrag unterbreitete die Klägerin dem Beklagten ein Kaufangebot für das Grundstück, das mit einer gleichlautenden Bauverpflichtung verknüpft war. Insoweit behielt sich die Klägerin für den Fall der Nichterfüllung ein Wiederkaufsrecht vor. Das Erbbaurecht wurde in das Erbbaugrundbuch eingetragen. Die Baugenehmigung wurde erteilt, Baubeginn und Bauausführung verzögerten sich jedoch. Im Juli 2018 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass er die Frist für die Fertigstellung des ersten Bauabschnitts nicht werde einhalten können. Im August 2018 nahm er das Kaufangebot für das Grundstück an und zahlte den vereinbarten Kaufpreis. Der erste Bauabschnitt war bis Ende Oktober 2018 nicht fertiggestellt. Im Dezember 2018 machte die Klägerin den Heimfallanspruch geltend und übte das Wiederkaufsrecht aus.  

Mit der Klage verlangt die Klägerin u.a. die Rückübertragung des Erbbaurechts. Der Beklagte nimmt die Klägerin widerklagend auf Übereignung des Grundstücks in Anspruch; daneben begehrt er die Feststellung, dass er nicht zur Zahlung von Erbbauzinsen verpflichtet ist, die Ausübung des Wiederkaufsrechts rechtswidrig und unwirksam ist und die Klägerin ihm den durch die Ausübung des Heimfallanspruchs und Wiederkaufsrechts entstandenen und noch entstehenden Schaden zu ersetzen hat. Das Landgericht hat der Klage in Bezug auf die Rückübertragung des Erbbaurechts und der Widerklage in Bezug auf die Feststellung stattgegeben, dass der Beklagte nicht zur Zahlung von Erbbauzinsen verpflichtet ist. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht den Beklagten darüber hinaus zur Versicherung der Moschee verurteilt und die Widerklage insgesamt abgewiesen; die Berufung des Beklagten hat es zurückgewiesen (OLG Stuttgart, Urteil vom 13. September 2022 – 10 U 278/21).

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Klägerin hat auf der Grundlage von Abschn. II Ziff. 7 ErbbV gegen den Beklagten einen auf Übertragung des Erbbaurechts gerichteten Heimfallanspruch. Der in Abschn. II Ziff. 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbbV geregelte Heimfallgrund liegt vor. Der Beklagte hat seiner Bauverpflichtung zuwidergehandelt, indem er den ersten Bauabschnitt nicht innerhalb von vier Jahren ab dem 1. November 2014, d.h. bis zum 31. Oktober 2018 fertiggestellt hat. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts beruht die Versäumung der Fertigstellungsfrist auf einem Verschulden des Beklagten. Das Berufungsgericht kommt, wenngleich mit teilweiser unzutreffender Begründung, richtigerweise zu dem Ergebnis, dass die vertragliche Heimfallregelung wirksam ist. Dabei legt das Berufungsgericht seiner rechtlichen Prüfung im Ausgangspunkt zutreffend zugrunde, dass die Wirksamkeit der Regelungen des Erbbaurechtsvertrages an dem Gebot angemessener Vertragsgestaltung zu messen ist. Allerdings bestehen Zweifel, ob - wie das Berufungsgericht meint - der hier zu beurteilende Erbbaurechtsvertrag ein städtebaulicher Vertrag im Sinne des § 11 Abs. 1 BauGB ist, auf den § 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB unmittelbar anzuwenden wäre. Denn das Berufungsgericht hat keine Feststellungen zu dem für städtebauliche Verträge erforderlichen Zusammenhang mit der gemeindlichen Bauleitplanung getroffen, und der Bebauungsplan schreibt für das Erbbaugrundstück die Errichtung einer Moschee nicht vor, sondern schließt diese lediglich nicht aus. Die Anwendbarkeit von § 11 BauGB kann im Folgenden aber unterstellt werden, da das Gebot zur angemessenen Vertragsgestaltung auf dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beruht und daher auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung für das gesamte Handeln der öffentlichen Körperschaften im Rechtsverkehr mit Privaten bestimmend ist. Das Gebot angemessener Vertragsgestaltung verlangt, dass bei wirtschaftlicher Betrachtung des Gesamtvorgangs die Gegenleistung nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung und dem Wert der von der Behörde - hier der klagenden Gemeinde - erbrachten oder zu erbringenden Leistung steht und dass die vertragliche Übernahme von Pflichten auch ansonsten zu keiner unzumutbaren Belastung für den Vertragspartner der Behörde führt.      

Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht an, dass die durch den Heimfallanspruch abgesicherte Bauverpflichtung nicht gegen das Gebot angemessener Vertragsgestaltung verstößt und auch nicht aus anderen Gründen unwirksam ist. Die dem Beklagten auferlegte und durch den Heimfall sanktionierte Pflicht, das Grundstück innerhalb von vier Jahren mit einer Moschee und einem Kulturhaus zu bebauen, verstößt nach den dargestellten Maßstäben nicht gegen das Gebot angemessener Vertragsgestaltung. Nach § 2 Ziff. 1 ErbbauRG gehören zum Inhalt des Erbbaurechts auch Vereinbarungen des Grundstückseigentümers und des Erbbauberechtigten über die Errichtung, die Instandhaltung und die Verwendung des Bauwerks. Diese Regelung erlaubt es, die Errichtung des Bauwerks zur Pflicht zu machen und Sanktionen für die Nichterfüllung dieser Pflicht, etwa den Heimfall oder eine Vertragsstrafe, festzusetzen. Die Vereinbarung einer Bebauungspflicht in einem von einer Gemeinde mit einem Privaten geschlossenen Erbbaurechtsvertrag stellt sich grundsätzlich nicht als unangemessen dar. Denn die Gemeinde verfolgt mit der Ausgabe eines Erbbaurechts in aller Regel gerade das Ziel, das Grundstück einer Nutzung zuzuführen, die öffentlichen Zwecken dient. Es muss ihr daher im Ausgangspunkt möglich sein, die Bestellung des Erbbaurechts davon abhängig zu machen, dass sich der Erbbauberechtigte zu der Errichtung des Gebäudes verpflichtet, das diese Nutzung ermöglicht. Die Pflicht zur Errichtung des Bauwerks in angemessener Zeit stellt für denjenigen, der ein Erbbaurecht erwerben möchte, regelmäßig auch keine schwerwiegende Belastung dar, denn das Recht, auf dem Grundstück ein Bauwerk zu errichten, ist bei einem unbebauten Grundstück gerade Sinn und Zweck des Erbbaurechts. Auch das eigene Interesse des Erbbauberechtigten geht regelmäßig dahin, den Erbbauzins nicht für ein unbebautes Grundstück zahlen zu müssen. So liegt es auch hier. Das Ziel der Klägerin, ihren muslimischen Bürgern die Ausübung ihres Glaubens in einer Moschee zu ermöglichen, rechtfertigte es, die Bestellung des Erbbaurechts davon abhängig zu machen, dass der Beklagte sich verpflichtet, die Moschee in angemessener Zeit zu errichten. Die Frist von vier Jahren für die Errichtung des Bauwerks stellt sich jedenfalls deshalb als nicht unangemessen dar, weil der Erbbaurechtsvertrag einen Anspruch des Beklagten auf Verlängerung der Bebauungsfrist bei unverschuldeter Verzögerung des Bauvorhabens vorsieht.    

Die vertragliche Vereinbarung über den Heimfall ist auch nicht deshalb unwirksam, weil die Vergütung für das Erbbaurecht ausgeschlossen wurde. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Ausschluss der Vergütung verstoße gegen das Angemessenheitsgebot aus § 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB, und die Regelung über den Heimfall sei nur mit der Maßgabe aufrecht zu erhalten, dass die gesetzliche Vergütungsregelung greife, trifft nicht zu. Vereinbart eine Gemeinde - wie hier - als Grundstückseigentümerin mit einem Privaten in einem Erbbaurechtsvertrag den Ausschluss der Heimfallvergütung, verstößt dies für sich genommen nicht gegen das Gebot angemessener Vertragsgestaltung aus § 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB. Die im Rahmen der Angemessenheitsprüfung zu berücksichtigende gesetzliche Regelung über die Vergütung für das Erbbaurecht (sog. Heimfallvergütung) spricht dafür, dass diese auch in Verträgen wirksam ausgeschlossen werden kann, die eine Gemeinde als Grundstückseigentümerin mit einem Privaten als Erbbauberechtigtem schließt. Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 ErbbauRG hat der Grundstückseigentümer, der von seinem Heimfallanspruch Gebrauch macht, dem Erbbauberechtigten eine angemessene Vergütung „für das Erbbaurecht“ zu gewähren. Die Vergütung ist eine Entschädigung für den Rechtsverlust, den der Erbbauberechtigte durch die Übertragung des Erbbaurechts erleidet, soll also den durch Erfüllung des Heimfallanspruchs eintretenden Vermögensnachteil ausgleichen. Sie unterscheidet sich insofern von der Entschädigung bei Erlöschen des Erbbaurechts wegen Zeitablaufs nach § 27 ErbbauRG, die nur für das Bauwerk zu zahlen ist. Die Vergütung nach § 32 Abs. 1 Satz 1 ErbbauRG umfasst neben der Entschädigung für das Bauwerk - das als wesentlicher Bestandteil des Erbbaurechts (vgl. § 12 Abs. 1 ErbbauRG) mit dessen Übertragung an den Grundstückseigentümer in Vollzug des Heimfallanspruchs mit übergeht - einen Ersatz für das Nutzungsrecht am Grund und Boden. Für die Bemessung der gesetzlichen Vergütung nach § 32 Abs. 1 Satz 1 ErbbauRG sind der reale Wert des Bauwerks, der Ertragswert des Erbbaurechts und ein gewisser Wert dafür von Bedeutung, dass die Bodennutzung wieder an den Grundstückseigentümer zurückfällt. Die Vergütung für den Heimfall kann, wie sich aus § 32 Abs. 1 Satz 2 ErbbauRG ergibt, jedenfalls individualvertraglich ausgeschlossen werden. Umstritten ist lediglich, ob ein solcher Ausschluss auch in allgemeinen Geschäftsbedingungen gegenüber einem Verbraucher vereinbart werden kann, oder ob darin eine unzulässige Vertragsstrafe i.S.v. § 309 Nr. 6 BGB liegt. Unzulässig ist der individualvertragliche Vergütungsausschluss nach § 32 Abs. 2 Satz 1 ErbbauRG nur in dem hier nicht gegebenen Fall, dass das Erbbaurecht zur Befriedigung des Wohnbedürfnisses minderbemittelter Bevölkerungskreise bestellt ist, wobei selbst in diesem Fall eine Herabsetzung der Vergütung auf zwei Drittel des gemeinen Wertes des Erbbaurechts zur Zeit der Übertragung noch zulässig ist (§ 32 Abs. 2 Satz 3 ErbbauRG). Die gesetzliche Wertung spricht dafür, dass es einer Gemeinde in anderen Fällen im Grundsatz möglich ist, die Vergütung für das Erbbaurecht beim Heimfall gänzlich auszuschließen. Dies erscheint auch sachgerecht. Denn der Heimfall tritt, anders als der Fall des Erlöschens durch Zeitablauf (§ 27 Abs. 1 ErbbauRG), nach den vertraglichen Regelungen regelmäßig nur ein, wenn der Erbbauberechtigte gegen seine vertraglichen Pflichten verstößt. Dass in diesen Fällen jedenfalls die Begrenzung der Vergütung auf eine Entschädigung für das Bauwerk möglich sein muss, liegt auf der Hand, denn es wäre nicht einzusehen, weshalb dem Erbbauberechtigten bei einem auf seinem Vertragsverstoß beruhenden Heimfall daneben zwingend auch noch ein Ersatz für das Nutzungsrecht am Grund und Boden gezahlt werden müsste. Der Umstand, dass der Heimfall regelmäßig durch einen Vertragsverstoß des Erbbauberechtigten ausgelöst wird, spricht aber darüber hinaus auch für die Zulässigkeit des vollständigen Ausschlusses der Heimfallvergütung in Verträgen von Gemeinden als Grundstückseigentümern. Denn der Erbbauberechtigte hat es bei einer solchen vertraglichen Gestaltung selbst in der Hand, den entschädigungslosen Heimfall zu vermeiden, und kann sich darauf einstellen, dass er keine Vergütung für seine Investitionen erhält, wenn er seinen vertraglichen Pflichten nicht nachkommt. Dies lässt den entschädigungslosen Heimfall im Grundsatz als ein dem Erbbauberechtigten zumutbares Ergebnis seines eigenen Handelns erscheinen. Die Gemeinde hingegen kann sich, anders als beim Erlöschen des Erbbaurechts wegen Zeitablaufs, auf den vorzeitigen Heimfall regelmäßig nicht langfristig einstellen. Sie könnte daher, wäre die Vergütung nicht ausschließbar, gezwungen sein, sehr kurzfristig erhebliche Haushaltsmittel für das Bauwerk bereitzustellen, oder auf die Geltendmachung des Anspruchs zu verzichten, weil entsprechende Mittel im Haushalt nicht zur Verfügung stehen. Zudem müsste die Gemeinde, wäre sie vergütungspflichtig, eine neue Verwendung für das Bauwerk finden. Dies kann insbesondere dann zu Schwierigkeiten führen, wenn es infolge der Marktentwicklung oder seines Zustands nicht nachgefragt ist oder wenn es sich - wie hier - um ein Bauwerk handelt, das aufgrund seines besonderen Zwecks von vornherein nicht marktgängig ist. Zwar werden sich ungünstige Nutzungs- und Verwertungsmöglichkeiten des Bauwerks regelmäßig bei der Verkehrswertermittlung niederschlagen, die Grundlage der Berechnung der Heimfallvergütung ist. Das Risiko, den ermittelten Verkehrs- bzw. Ertragswert zu realisieren, ginge aber letztlich auf die Gemeinde über, obwohl sie weder ein eigenes Interesse an dem Bauwerk noch Einfluss auf seine Gestaltung hat und auch keine Verantwortung für das Vorliegen des Heimfallgrundes trägt. Es erscheint daher nicht als unangemessen, wenn eine Gemeinde als Grundstückseigentümerin in einem Erbbaurechtsvertrag mit einem Privaten die Heimfallvergütung ausschließt. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Ausschluss der Vergütung verstoße gegen das Angemessenheitsgebot aus § 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB, und die Regelung über den Heimfall sei nur mit der Maßgabe aufrecht zu erhalten, dass die gesetzliche Vergütungsregelung greife, stellt sich somit als rechtsfehlerhaft dar. Dieser Rechtsfehler wirkt sich aber nicht aus, weil es für den von der Klägerin mit dem Hauptantrag geltend gemachten Anspruch auf Rückübertragung des Erbbaurechts allein auf die von dem Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend bejahte Wirksamkeit der Regelung über den Heimfallanspruch ankommt.

Mit der Geltendmachung des Heimfallanspruchs verstößt die Klägerin, die ungeachtet der Nutzung zivilrechtlicher Formen bei der Ausübung ihrer vertraglichen Rechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist, nicht gegen Grundrechte des Beklagten. Die Klägerin greift mit der Geltendmachung des Heimfallanspruchs nicht in den Schutzbereich der Kirchengutsgarantie aus Art. 140 GG iVm. Art. 138 Abs. 2 WRV ein. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Erbbaurecht an einem Grundstück, das mit einer Moschee bebaut werden soll, bereits vor Fertigstellung des Bauwerks - also ohne eine Widmung oder Nutzung zu religiösen Zwecken - von dem Schutzbereich der Kirchengutsgarantie umfasst ist. Denn Art. 138 Abs. 2 WRV schützt das Vermögen der Religionsgesellschaften - ob es sich bei dem Beklagten um eine solche handelt, kann hier offenbleiben - nur in dem Umfang, wie es nach Maßgabe des einschlägigen zivilen oder öffentlichen Rechts begründet ist. Es gewährleistet kirchliche Vermögensrechte in ihrem Bestand und nach Maßgabe ihrer vorhandenen rechtlichen Qualitäten, erweitert sie aber nicht. Deshalb berührt es den Gewährleistungsgehalt der Kirchengutsgarantie nicht, wenn ein Recht untergeht, weil sich eine ihm immanente Beschränkung aktualisiert hat. Räumt der Staat einer Religionsgesellschaft eine Rechtsposition nur unter bestimmten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Voraussetzungen ein, so ist es für den Schutzbereich des Art. 138 Abs. 2 WRV nicht maßgeblich, in welcher Weise der Bestand des Rechts rechtstechnisch an diese Voraussetzungen gebunden wird. Es macht keinen Unterschied, ob das Recht im Sinne einer Bedingung mit Wegfall der Voraussetzungen von selbst erlischt oder ob es dazu noch einer Erklärung als formeller Voraussetzung bedarf. Unterliegt das Recht einer ursprünglichen Beschränkung, weil es an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, und zielt die Erklärung darauf, die mit Wegfall der Voraussetzungen akut gewordene Beschränkung formal umzusetzen, greift sie nicht in den Schutzbereich ein. So liegt es auch hier. Die Klägerin hat dem Beklagten das Erbbaurecht an ihrem Grundstück nur unter der - verfassungsrechtlich wie gezeigt nicht zu beanstandenden - Voraussetzung eingeräumt, dass dieser das Grundstück innerhalb von vier Jahren mit einer Moschee bebaut, und sich für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen diese Bauverpflichtung den Heimfallanspruch vorbehalten. Mit dem durch den Verstoß des Beklagte gegen die Bauverpflichtung eingetretenen Heimfall hat sich also lediglich eine von Anfang an vorhandene Beschränkung des Erbbaurechts aktualisiert. Die Geltendmachung des Heimfallanspruchs verletzt den Beklagten - seine Grundrechtsträgerschaft insoweit unterstellt - auch nicht in seiner Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG oder in seiner Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Für den Heimfall des Erbbaurechts entfaltet die Religionsfreiheit keine über die Kirchengutsgarantie hinausgehenden Schutzwirkungen; Art. 140 GG iVm. Art. 138 Abs. 2 WRV konkretisiert den Schutz der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG im Hinblick auf kirchliches Eigentum und andere Rechte. Entsprechendes gilt für die Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Dass das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang rechtsfehlerhaft verkennt, dass nicht nur das Eigentum an dem Grundstück, sondern auch das Erbbaurecht - mit dem Bauwerk als wesentlichem Bestandteil (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 1 ErbbauRG) - von der Eigentumsgarantie umfasst ist, hat sich daher nicht ausgewirkt.

Die Geltendmachung des Heimfallanspruchs hält auch der Ausübungskontrolle stand. Die Klägerin ist nach den Grundsätzen des Verwaltungsprivatrechts bei der Ausübung ihrer vertraglichen Rechte an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Sie hat daher im Wege einer Ermessensentscheidung zu prüfen, ob die Geltendmachung des Heimfallanspruchs im Interesse der Sicherung des mit ihm verfolgten Zwecks geboten ist oder eine vermeidbare Härte darstellt. Das Berufungsgericht nimmt im Ergebnis rechtsfehlerfrei an, dass die Entscheidung der Klägerin, den Heimfallanspruch geltend zu machen, nach diesem Maßstab nicht zu beanstanden ist. Die Klägerin verfolgt mit der Geltendmachung des Heimfallanspruchs weiterhin den der Bestellung des Erbbaurechts zugrunde liegenden Zweck, ihren muslimischen Bürgern die Ausübung ihres Glaubens in einer Moschee zu ermöglichen, und will zudem - was ebenfalls legitim ist - eine Bauruine vermeiden. Da die Verzögerungen bei der Bauausführung auf einem Verschulden des Beklagten beruhen und sich die Klägerin berechtigterweise darauf beruft, sie habe das Vertrauen in den Beklagten verloren, war die Klägerin auch nicht gehalten, ihn zunächst durch Geltendmachung einer Vertragsstrafe zu einem zügigeren Weiterbau anzuhalten.  

Auch die Annahme des Berufungsgerichts, dass sich die Geltendmachung des Heimfallrechts als im engeren Sinne verhältnismäßig, d.h. als angemessen darstellt, ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden. Allerdings führt der Ausschluss der Heimfallvergütung dazu, dass die Geltendmachung des Heimfallanspruchs einer strengen Ausübungskontrolle im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des gemeindlichen Handelns unterliegt. Der Heimfall darf im Ergebnis nicht dazu führen, dass der private Erbbauberechtigte für seinen Verstoß gegen vertragliche Pflichten übermäßig sanktioniert wird, weil sich der vergütungslose Heimfall dann der Sache nach als unangemessene Vertragsstrafe darstellen würde. Somit hat die Gemeinde bei der Ausübung ihres Ermessens einerseits Art und Bedeutung des Heimfallgrundes in den Blick zu nehmen, namentlich die Schwere des Vertragsverstoßes des Erbbauberechtigten, und andererseits die Folgen, die der vergütungslose Heimfall für den Erbbauberechtigten hätte. Beides muss in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Die Forderung nach der vergütungslosen Rückübertragung des Erbbaurechts kann sich insbesondere dann als unverhältnismäßig darstellen, wenn der Heimfall nicht auf einer schwerwiegenden Vertragsverletzung des Erbbauberechtigten beruht, das Bauwerk ganz oder weitestgehend fertiggestellt ist, der Erbbauberechtigte erhebliche Investitionen getätigt hat und die Gemeinde absehbar in der Lage sein wird, das Bauwerk anderweitig zu nutzen oder zu verwerten. Andererseits ist die Gemeinde nicht verpflichtet, auch schwere und/oder andauernde Vertragsverletzungen des privaten Erbbauberechtigten hinzunehmen, nur weil dieser erhebliche Summen in das Bauwerk investiert hat und die Vergütung für das Erbbaurecht beim Heimfall zulässigerweise ausgeschlossen wurde. Der Beklagte hat insoweit geltend gemacht, dass die Moschee bereits zu 90 % fertiggestellt sei, er insgesamt 2,6 Mio. € in das Gebäude investiert habe und ihm die Insolvenz drohe, wenn die Klägerin ihren Heimfallanspruch ausübe und keine Entschädigung für die bisher errichteten Teile des Gebäudes leiste. Sollten diese Angaben zutreffen, könnten Zweifel bestehen, ob sich die Geltendmachung des Heimfallanspruchs durch die Klägerin ohne Zahlung einer Vergütung für das Bauwerk noch als verhältnismäßig darstellte. Dies bedarf indes keiner Entscheidung, weil das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend annimmt, dass dem Beklagten eine solche Vergütung zusteht.    

Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung lässt sich ein Anspruch des Beklagten gegen die Klägerin auf Zahlung einer Vergütung für die im Bau befindliche Moschee allerdings nicht bejahen. Das Berufungsgericht meint, der Ausschluss der Vergütung für das Erbbaurecht bei Ausübung des Heimfallanspruchs sei unwirksam, sodass die gesetzliche Vergütungsregelung in § 32 Abs. 1 ErbbauRG greife und der Beklagte den Verkehrswert für das teilweise fertiggestellte Gebäude erhalte. Dies trifft nicht zu, da der Vergütungsausschluss wirksam ist. Der Beklagte erhält somit keine Heimfallvergütung für das Bauwerk nach § 32 Abs. 1 ErbbauRG. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich aber insoweit im Ergebnis gleichwohl als richtig dar. Denn der Beklagte erhält die in Abschn. VII B Ziff. 9 Buchst. b) ErbbV vorgesehene Vergütung für das Gebäude als Teil des Wiederkaufspreises, den die Klägerin ihm aufgrund der wirksamen Ausübung des Wiederkaufsrechts für das Grundstück zu zahlen hat. Nach Abschn. VII B Ziff. 9 ErbbV besteht der Wiederkaufspreis aus der Summe a) des vereinbarten Kaufpreises und b) des Werts der Verwendungen auf den Vertragsgegenstand, insbesondere auf die Gebäude, soweit sie zur Zeit des Wiederkaufs einen Verkaufswert haben. Falls sich die Beteiligten nicht einigen können, ist der durch den örtlichen Gutachterausschuss auf den Tag der Ausübung des Wiederkaufsrechts festzustellende Verkehrswert maßgebend. Allerdings führten die von dem Beklagten aufgebrachten Kosten für die teilweise Errichtung der Moschee bei einer allein am Wortlaut orientierten Auslegung dieser Regelung nicht zur Erhöhung des Wiederkaufspreises. Denn sie stellen sich bei Fortbestand des Erbbaurechts als Verwendungen auf dieses (§ 12 Abs. 1 Satz 1 ErbbauRG) und nicht als Verwendungen auf das Grundstück als Vertragsgegenstand des Wiederkaufs dar, zu dessen Bestandteil das Gebäude erst mit Erlöschen des Erbbaurechts wird (§ 12 Abs. 3 ErbbauRG). Unmittelbare Verwendungen auf das Grundstück wären die für die Errichtung der Moschee aufgewandten Kosten bei wortlautgetreuer Auslegung der Regelung nur gewesen, wenn der Beklagte das Bauwerk nach Erwerb des Eigentums an dem Grundstück und Löschung des (Eigentümer-)Erbbaurechts errichtet hätte. Das Berufungsgericht legt die Regelung aber ersichtlich dahin aus, dass jedenfalls in der hier gegebenen Situation, dass die Klägerin zugleich das Wiederkaufsrecht ausübt und den Heimfallanspruch geltend macht, die für das Gebäude aufgewendeten Kosten als Verwendungen auf das Grundstück anzusehen sind, soweit sie einen Verkaufswert haben, d.h. den Verkehrswert des Grundstücks erhöhen. Dies folgt daraus, dass das Berufungsgericht die Regelung über den Wiederkauf mit der Begründung für wirksam erachtet, dass - abweichend von der Regelung zum Heimfall - ein angemessener wirtschaftlicher Ausgleich für die Verwendungen des Beklagten vorgesehen sei. Zu diesem Ergebnis hätte das Berufungsgericht nicht widerspruchsfrei kommen können, wenn es der Ansicht wäre, dass gerade in dem zur Entscheidung stehenden Fall Verwendungen nicht als Teil des Wiederkaufspreises zu ersetzen sind. Der Annahme, dass das Berufungsgericht die Regelung zum Wiederkauf auf diese Weise auslegt, steht nicht entgehen, dass es auf die dann naheliegende Frage der Konkurrenz zwischen dem Anspruch auf Verwendungsersatz als Teil des Wiederkaufspreises einerseits und als Heimfallvergütung andererseits nicht eingeht. Denn darauf kam es für das Berufungsgericht nicht an, weil keiner dieser möglichen Ansprüche Gegenstand des Verfahrens ist. Die von dem Berufungsgericht vorgenommene Auslegung ist vertretbar und Rechtsfehler werden weder von der Revision aufgezeigt noch sind sie sonst ersichtlich. Der Beklagte erhält somit im Ergebnis den Betrag, der sich aus der Berechnung gem. Abschn. VII B Ziff. 9 Buchst. b) ErbbV ergibt. Da das Berufungsgericht diesen Betrag im Rahmen tatrichterlicher Würdigung als angemessenen Ausgleich für die aufgrund der Geltendmachung des Heimfallanspruchs durch die Klägerin von dem Beklagten geschuldete Rückübertragung des Erbbaurechts ansieht, kann der Senat ausschließen, dass das Berufungsgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es - zutreffend - von der Wirksamkeit des Vergütungsausschlusses beim Heimfall ausgegangen wäre. Auf die Frage, ob der Anspruch auf den verwendungsbezogenen Teil des Wiederkaufspreises entfällt, wenn die Klägerin ihren vertraglich vereinbarten Anspruch auf Beseitigung des Bauwerks geltend macht, kommt es insoweit nicht an. Der Wegfall des Verwendungsersatzes wäre allenfalls ein Umstand, der bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines bislang nicht geäußerten Beseitigungsverlangens zu berücksichtigen wäre, führte aber nicht (nachträglich) zur Unverhältnismäßigkeit der Geltendmachung des Heimfallanspruchs. Insgesamt, insbesondere unter Berücksichtigung des schuldhaften Verstoßes des Beklagten gegen die Bauverpflichtung und der ihm für das nicht fertiggestellte Gebäude zustehenden Vergütung, erweist sich die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, dass der Heimfall für den Beklagten keine unzumutbare Härte darstellt, als rechtsfehlerfrei, auch wenn der Beklagte hierdurch (zunächst) die Möglichkeit verliert, auf dem Grundstück und - wie die Revision meint - unter Umständen auch auf dem gesamten Stadtgebiet der Klägerin, eine Moschee zu betreiben.

Die Geltendmachung des Heimfallanspruchs ist schließlich nicht gemäß § 242 BGB rechtsmissbräuchlich. Insbesondere nutzt die Klägerin damit keine ihr nur noch formal zustehende Rechtsposition aus. Es kann dahinstehen, ob der Klägerin mit der wirksamen Ausübung des Ankaufsrechts durch den Beklagten und Zahlung des Ankaufspreises die Rechte und Ansprüche als Grundstückseigentümerin aus dem Erbbaurechtsvertrag nur noch formal zustanden, weil sie verpflichtet war, dem Beklagten das Eigentum an dem Grundstück zu verschaffen. Denn jedenfalls ist dies seit dem Zeitpunkt nicht mehr der Fall, in dem die Klägerin das ihr vertraglich eingeräumte Wiederkaufsrecht wirksam ausgeübt hat.    

Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht an, dass die Parteien in dem Erbbaurechtsvertrag ein Wiederkaufsrecht der Klägerin iSv. § 456 BGB vereinbart haben, denn der Anspruch der Klägerin auf Rückübereignung des Grundstücks gegen Zahlung des ursprünglichen Kaufpreises sollte mit dem Verlangen der Klägerin entstehen. Die Vereinbarung eines Wiederkaufsrechts im Sinne dieser Norm stellt eine neben den eigentlichen - hier der mit Annahme des im Erbbaurechtsvertrag von der Klägerin abgegebenen Kaufangebots durch den Beklagten zustande gekommenen - Kaufvertrag tretende Rückkaufabrede dar, die dem Verkäufer einen aufschiebend bedingten Anspruch auf (Rück-) Übereignung des Kaufgegenstands gewährt. Durch die Wiederkaufserklärung wird der bereits bedingt abgeschlossene Wiederkaufvertrag mit dem Eintritt der Bedingung wirksam. Solange der Wiederkaufvertrag Geltung beansprucht, steht einem Rückgriff auf den ursprünglichen Kaufvertrag der Einwand des Wiederkaufs entgegen. Das Berufungsgericht geht zu Recht davon aus, dass die Vereinbarung des Wiederkaufsrechts in Abschn. VII B Ziff. 9 ErbbV wirksam ist. Dabei kommt es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht auf die von ihm bejahte Frage an, ob eine solche Vereinbarung gemäß § 2 Nr. 7 ErbbauRG dinglicher Inhalt des Erbbaurechts sein kann. Denn das Wiederkaufsrecht wurde vorliegend rein schuldrechtlich vereinbart, wie sich zweifellos aus dem von dem Berufungsgericht in Bezug genommenen Erbbaurechtsvertrag ergibt. Eine Unwirksamkeit folgt auch nicht aus der Verknüpfung mit der Vereinbarung zu den Rechtsfolgen. Die vertragliche Regelung, nach der der Beklagte bei einer Ausübung des Wiederkaufsrechts alle Lasten zu beseitigen hat, ist nicht unwirksam. Gemäß § 1 Abs. 4 Satz 2 ErbbauRG darf sich der Erbbauberechtigte zwar nicht zur Aufgabe des Erbbaurechts verpflichten. Das Berufungsgericht legt die vertragliche Regelung aber rechtsfehlerfrei und von der Revision unbeanstandet dahin aus, dass zu den zu beseitigenden Lasten nicht das Erbbaurecht gehört. Die Vereinbarung des Wiederkaufsrechts verstößt ferner nicht gegen das Gebot angemessener Vertragsgestaltung, da die Klägerin dem Beklagten mit dem Wiederkaufspreis einen angemessenen Ausgleich zu gewähren hat. Schließlich ist die Vereinbarung weder mit einer unwirksamen Bauverpflichtung verknüpft noch verstößt sie gegen Grundrechte. Vor Vertragsschluss stand dem Beklagten keine grundrechtlich geschützte Rechtsposition an dem Grundstück zu; er hatte auch keinen grundrechtlich geschützten Anspruch auf Einräumung eines Kaufrechts ohne Wiederkaufsrecht. Mit der Zuwiderhandlung des Beklagten gegen die Bauverpflichtung sind auch die Voraussetzungen des Wiederkaufsrechts erfüllt. Die Ausübung dieses Rechts verletzt den Beklagten nicht in seinen Grundrechten. Auch insoweit hat sich lediglich eine von Anfang an vorhandene (immanente) Beschränkung seines Kaufrechts aktualisiert. Entgegen der Ansicht der Revision ist die Ausübung des Wiederkaufsrechts auch verhältnismäßig. Somit stand dem Rückgriff auf den Ankaufvertrag ab dem Zeitpunkt der Ausübung des Wiederkaufsrechts der Einwand des Wiederkaufs entgegen und war die Klägerin nicht (mehr) verpflichtet, dem Beklagten das Eigentum an dem Grundstück zu übertragen. Sie hatte keine lediglich formale Rechtsposition hinsichtlich der Rechte und Ansprüche aus dem Erbbaurecht und der Erbbaurechtsvereinbarung inne, als sie - zeitgleich - das Wiederkaufsrecht ausübte und den Heimfallanspruch geltend machte.

3. Kontext der Entscheidung

Erbbaurechtsverträge sind am Gebot angemessener Vertragsgestaltung (§ 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB) zu messen. Das Gebot gilt für alle Verträge über Erbbaurechte, die von öffentlichen Körperschaften in Verfolgung eines öffentlichen Zwecks zur Ausgabe an Private bestellt werden, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Körperschaft den Erbbaurechtsvertrag mit dem Privaten schließt oder ein für sich selbst auf ihrem Grundstück bestelltes (Wohnungs-)Erbbaurecht an den Privaten veräußert. Der Erwerber ist nämlich auch im zuletzt genannten Fall an die Bestimmungen des Erbbaurechtsvertrags gebunden, weil das, was nach § 2 ErbbauRG als vertragsmäßiger Inhalt des Erbbaurechts bestimmt worden ist, mit der Bildung der Wohnungserbbaurechte auch zu deren Inhalt gehört (BGH, Urteil vom 26. Juni 2015 – V ZR 144/14 –, Rn. 15 - 16). Dem Gebot angemessener Vertragsgestaltung ist genügt, wenn bei wirtschaftlicher Betrachtung des Gesamtvorgangs die Gegenleistung nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung und dem Wert der von der Behörde erbrachten oder zu erbringenden Leistung steht und die vertragliche Übernahme von Pflichten auch ansonsten zu keiner unzumutbaren Belastung für den Vertragspartner der Behörde führt. Danach ist nicht nur - insofern weitergehend als nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen - eine Kontrolle des vertraglichen Austauschverhältnisses eröffnet, vielmehr wird auch eine Überprüfung der einzelnen Vertragsklauseln ermöglicht. Bei dieser sind die den §§ 308 und 309 BGB zugrunde liegenden Wertungen zu berücksichtigen; denn Bestimmungen, die nach diesen Vorschriften unwirksam wären, können eine durch den Vertragszweck nicht mehr gedeckte, unverhältnismäßige und damit unangemessene Belastung des Vertragspartners der Gemeinde begründen. Nichts anderes kann für die Generalklausel aus § 307 Abs. 1, 2 BGB gelten, zumal der allgemeine Grundsatz, auf dem sie beruht, selbst für öffentlich-rechtliche Verträge zu beachten ist (BGH, Urteil vom 29. November 2002 – V ZR 105/02 –, Rn. 19).

4. Auswirkungen für die Praxis

Öffentliche Körperschaften als Erbbaurechtsbesteller ist nicht nur bei der Vertragsgestaltung, sondern auch bei der Ausübung ihrer vertraglichen Rechte an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Diese Pflicht beruht allerdings nicht auf dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), dem auch Private unterworfen sind, sondern auf ihrer Bindung als öffentliche Körperschaft an die Grundsätze des Verwaltungsprivatrechts. Die Klägerin muss danach im Wege einer Ermessensentscheidung prüfen, ob die Durchsetzung des Heimfallanspruchs im Interesse der Sicherung des mit der Ausgabe des Erbbaurechts verfolgten Zwecks geboten ist oder eine vermeidbare Härte darstellt (BGH, Urteil vom 26. Juni 2015 – V ZR 144/14 –, Rn. 36).

2.2.2024
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BGH: Zur Verweigerung der Rücknahme der Kaufsache nach Rücktritt durch Käufer

Die Weigerung des Verkäufers, nach dem Rücktritt des Käufers vom Kaufvertrag die vom Käufer zum Zwecke der Rückgewähr in Natur gemäß § 346 Abs. 1 BGB angebotene mangelhafte Kaufsache zurückzunehmen, kann jedenfalls unter den besonderen Umständen des Einzelfalls (hier: Arsenbelastung großer Mengen vom Verkäufer gelieferten Recycling-Schotters) als Verletzung von Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) im Rückgewährschuldverhältnis anzusehen sein, die zu einem Schadensersatzanspruch des Käufers gegen den Verkäufer gemäß § 280 Abs. 1 BGB führen kann.

BGH, Urteil vom 29. November 2023 – VIII ZR 164/21

1. Problemstellung

Welche Rechte dem Käufer zustehen, wenn sich der Verkäufer nach Rücktritt des Käufers weigert, die mangelhafte Kaufsache zurückzunehmen, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin, die ein Bauunternehmen betreibt, wurde von einer Bauherrin) beauftragt, auf dem von dieser angemieteten Grundstück einen Park- und Containerverladeplatz zu errichten. Hierfür bestellte die Klägerin im März 2012 bei der Beklagten, einer Baustoffhändlerin, rund 22.000 t Recycling-Schotter zur Verwendung als Unterbau zu einem Kaufpreis von 156.283,29 €. Die Beklagte bezog dieses Material von einer Baustoffvertriebsgesellschaft, welche es ihrerseits bei der Herstellerin bestellte. Diese lieferte den Recycling-Schotter im Juni 2012 unmittelbar an die Baustelle der Klägerin, wo er von dieser eingebaut wurde. Die Klägerin zahlte den vereinbarten Kaufpreis an die Beklagte. Im Jahr 2016 sollte auf dem Grundstück eine Halle errichtet werden. Hierfür wurde ein Teil des von der Klägerin im Jahr 2012 eingebrachten Recycling-Schotters im Umfang von rund 8.000 t ausgebaut und auf dem Grundstück zusammengeschoben. Nach einer Beprobung des Materials beanstandete die Bauherrin gegenüber der Klägerin einen über dem tolerierbaren Wert liegenden Arsengehalt des gelieferten Recycling-Schotters. Die Klägerin zeigte daraufhin bei der Beklagten den mit den bisherigen Analyseergebnissen begründeten Anfangsverdacht einer Überschreitung der zulässigen Werte an und wies auf die Erforderlichkeit weiterer Beprobungen hin. In der Folgezeit verlangten die Grundstückseigentümerin und die Bauherrin von der Klägerin den vollständigen Ausbau des im Jahr 2012 eingebrachten Recycling-Schotters. Die Klägerin verpflichtete sich im Rahmen eines von der Bauherrin gegen sie geführten Rechtsstreits durch Prozessvergleich zur Entfernung und Entsorgung des Recycling-Schotters sowie zur fachgerechten Einbringung neuen Schotters und Erstellung eines neuen Pflasters für den gesamten Bereich. Die Klägerin nahm ihrerseits die Beklagte gerichtlich in Anspruch. Die Beklagte wurde rechtskräftig - gestützt auf die Annahme eines wirksamen Rücktritts der Klägerin vom Kaufvertrag - zur Rückzahlung des Kaufpreises verurteilt. Zudem wurde ihre Verpflichtung festgestellt, der Klägerin die Mehrkosten für die ersatzweise Beschaffung von Recycling-Schotter zu ersetzen.    

Mit Schreiben vom 27. Februar 2019 forderte die Klägerin die Beklagte unter Fristsetzung zur Abholung des von ihr bereits teilweise ausgebauten und auf dem Gelände zusammengeschobenen Recycling-Schotters von der früheren Baustelle auf. Ferner kündigte sie für den Fall einer ausbleibenden Reaktion eine Klage an, die auch auf die Feststellung einer Verpflichtung der Beklagten gerichtet sein werde, das noch auszubauende weitere Schottermaterial nach dem Ausbau abzuholen. Die Beklagte kam der Aufforderung nicht nach. Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Klägerin erstinstanzlich die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 446.896 € - entsprechend 80 % der voraussichtlichen Kosten für die im Mai 2019 von ihr begonnene Entsorgung der Teilmenge von 8.000 t - sowie die Feststellung einer Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung der darüber hinaus entstehenden Kosten für die Entsorgung des gelieferten Recycling-Schotters begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit ihrer Berufung hat die Klägerin den Zahlungsantrag - im Hinblick auf die bis zum 31. Dezember 2019 für Ausbau, Abtransport und Entsorgung des mangelhaften und den Einbau des neuen Recycling-Schotters bereits angefallenen Kosten - auf einen Betrag von 1.333.072,52 € erhöht. Ihren Feststellungsantrag hat sie nunmehr auf die Feststellung einer Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung der Kosten für die Wiederherstellung des neuen Pflasters erweitert. Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Aufgrund einer Gesamtschau des Prozessstoffs sei der Senat davon überzeugt, dass die Beklagte an der Lieferung verunreinigten Materials kein eigenes Verschulden treffe. Die Klägerin könne einen Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB auch nicht darauf stützen, dass die Beklagte eine Pflicht zur Rücknahme des Recycling-Schotters im Rückgewährschuldverhältnis nach §§ 346 ff. BGB schuldhaft verletzt habe. Die Vorschrift des § 346 Abs. 1 BGB verpflichte den Verkäufer nicht zur Rücknahme der Kaufsache, sondern gebe ihm allein einen Anspruch auf Rückgewähr. Eine entsprechende Pflicht lasse sich auch nicht für Ausnahmefälle aus einer analogen beziehungsweise "spiegelbildlichen" Anwendung von § 433 Abs. 2 BGB oder aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) herleiten (OLG Zweibrücken, Urteil vom 27. Mai 2021 – 4 U 96/20).

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte gemäß § 437 Nr. 3 BGB, § 434 Abs. 1 BGB aF, § 280 Abs. 1, 3, § 281 BGB mit der Begründung verneint, die Beklagte habe sich hinsichtlich der in der behaupteten Mangelhaftigkeit des gelieferten Recycling-Schotters liegenden Pflichtverletzung gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB entlastet. Die bislang insoweit vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen bieten keine tragfähige Grundlage für eine dahingehende Würdigung. Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass im Streitfall wegen des Vertragsschlusses im Jahr 2012 die Vorschriften der §§ 433 ff. BGB in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung Anwendung finden. Ebenso hat das Berufungsgericht zu Recht angenommen, dass im geschäftlichen Verkehr zwischen Unternehmen ein Schadensersatzanspruch des Käufers auf Erstattung der geltend gemachten Kosten für den Ausbau der Kaufsache und den Einbau einer Ersatzsache nur in Betracht kommt, wenn der Verkäufer seine Vertragspflicht zur Lieferung einer mangelfreien Sache verletzt und dies auch zu vertreten hat. Hingegen scheidet ein diesbezüglicher Schadensersatzanspruch wegen Pflichtverletzung im Rahmen der Nacherfüllung (§ 439 Abs. 1 BGB) aus, weil der Verkäufer bei solchen Verträgen im Rahmen der Nacherfüllung durch Ersatzlieferung weder den Ausbau der mangelhaften Sache noch den Einbau der neuen mangelfreien Sache schuldet. Mangels abweichender Feststellungen ist für die revisionsrechtliche Überprüfung die im Berufungsurteil wiedergegebene Behauptung der Klägerin als zutreffend zu unterstellen, dass der von der Beklagten an sie (weiter-)verkaufte Recycling-Schotter aufgrund einer unzulässig hohen Arsenbelastung im Zeitpunkt des Gefahrübergangs nicht vertragsgemäß war und die Beklagte somit ihre Vertragspflicht gegenüber der Klägerin zur Lieferung einer mangelfreien Sache verletzt hat (§ 434 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 2 BGB aF).    

Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht jedoch angenommen, die Beklagte habe die Verletzung ihrer Vertragspflicht zur Lieferung mangelfreien Recycling-Materials nicht zu vertreten (§ 280 Abs. 1, § 276 BGB). Zwar muss sich die Beklagte ein etwaiges Verschulden der Herstellerin sowie der Streithelferin als Vorlieferantin nicht gemäß § 278 BGB zurechnen lassen, weil diese nicht Erfüllungsgehilfen der Beklagten sind. Dagegen hat das Berufungsgericht auf der Grundlage unzureichender tatsächlicher Feststellungen und damit rechtsfehlerhaft angenommen, dass die Beklagte auch kein eigenes Verschulden an der Pflichtverletzung treffe. Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der sie entlastenden Umstände obliegt der Beklagten. Gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB muss der Schuldner darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass er eine Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Soweit das Berufungsgericht gemeint hat, die Klägerin treffe eine "sekundäre Behauptungslast (Substantiierungslast)" dahingehend, dass es für die Beklagte als Verkäuferin bei Gefahrübergang bestimmte Verdachtsmomente für die Mangelhaftigkeit des Schotters gegeben habe, begegnet dies zwar rechtlichen Bedenken. Denn im Rahmen des Entlastungsbeweises gibt es - auch bei auf Vorsatz beschränkter Haftung des Schuldners - keinen sachlichen Grund, dem Gläubiger des Anspruchs gemäß § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB ausnahmsweise eine Darlegungslast aufzubürden. Hierauf beruht die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte treffe kein eigenes Verschulden, jedoch nicht. Denn das Berufungsgericht hat sich die Überzeugung gebildet (§ 286 ZPO), dass es aus Sicht der Beklagten keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Arsenbelastung bei dem gelieferten Recycling-Schotter gegeben habe. Mit Recht beanstandet die Klägerin jedoch die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte habe den ihr obliegenden Entlastungsbeweis hinsichtlich eines eigenen Verschuldens gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB (erfolgreich) geführt, als rechtsfehlerhaft. Die bislang vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen tragen eine dahingehende Würdigung nicht. Da die Klägerin die Beklagte wegen fahrlässiger Unkenntnis von der Arsenbelastung des gelieferten Recycling-Schotters in Anspruch nimmt, kommt es für den Entlastungsbeweis darauf an, ob die Beklagte diese Beschaffenheit der Kaufsache im Zeitpunkt der Anlieferung auf der Baustelle der Klägerin bei Anwendung der verkehrsüblichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) hätte erkennen können. Zur Führung des Entlastungsbeweises nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB genügt es insoweit grundsätzlich, wenn der Schuldner darlegt und nachweist, dass nach dem vorgetragenen Sachverhalt ernstlich in Betracht kommende - einschließlich der von dem Gläubiger geltend gemachten - Möglichkeiten eines eigenen Verschuldens nicht bestehen, weil er insoweit alle ihm obliegende Sorgfalt beachtet hat. Von dem Verkäufer verlangt die im Verkehr erforderliche Sorgfalt zwar regelmäßig keine Untersuchung der Kaufsache. Höhere Anforderungen ergeben sich allerdings dann, wenn der Verkäufer eine Garantie übernommen hat (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB), wenn er Anhaltspunkte für die Mangelhaftigkeit der Sache hat oder wenn sonst besondere Umstände vorliegen, die eine höhere Sorgfalt gebieten. Letzteres kann bei besonders hochwertigen oder fehleranfälligen Produkten oder dann der Fall sein, wenn der Verkäufer eine besondere Sachkunde besitzt oder aufgrund konkreter Anhaltspunkte Veranlassung hat, die Vertragsgemäßheit der Lieferung anzuzweifeln. Der angefochtenen Entscheidung lässt sich nicht (ausdrücklich) entnehmen, welche Sorgfaltsanforderungen das Berufungsgericht im Streitfall aufgrund der konkreten Einzelfallumstände als seitens der Beklagten geschuldet angesehen hat. Der von ihm zur Widerlegung der gegen die Beklagte sprechenden Verschuldensvermutung (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) für maßgeblich gehaltene Umstand, dass in dem Schreiben der Klägerin vom 30. September 2016 eine "seinerzeit" erfolgte Vorlage von Prüfzeugnissen und Lieferscheinen - ohne Angabe näherer Einzelheiten - erwähnt wird, bietet für sich genommen jedenfalls ohne weitere konkrete Feststellungen keine tragfähige Grundlage für die Würdigung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe ihrerseits die mangelhafte Lieferung nicht zu vertreten, sondern auf die Richtigkeit der Prüfzeugnisse ebenso vertrauen dürfen wie auf ein redliches Verhalten der in die Lieferkette eingeschalteten Fachhändler für Baubedarf. Das Berufungsgericht hat keine (hinreichenden) Feststellungen dazu getroffen, welchen konkreten Inhalt die in dem Schreiben genannten Prüfzeugnisse hatten, insbesondere ob sie der Beklagten eine Überprüfung des tatsächlich für die Lieferung an die Klägerin vorgesehenen Materials auf die Einhaltung der vereinbarten Beschaffenheit ermöglichten, sowie in welchem Zusammenhang und zu welchem Zeitpunkt die Beklagte sie erhalten und gegebenenfalls geprüft hat. Es bleibt zudem offen, für welchen Zeitpunkt die Prüfzeugnisse eine Einhaltung der vereinbarten Güte des Recycling-Schotters bescheinigten. Aus der im Schreiben vom 30. September 2016 enthaltenen Bitte der Klägerin um "Übersendung der Prüfzeugnisse für den Zeitraum der Schotterlieferungen" ergibt sich, dass die "seinerzeit" vorgelegten Prüfzeugnisse jedenfalls nicht eine Prüfung im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der konkreten Anlieferung des Materials auf der Baustelle der Klägerin betrafen. Die Revision rügt insoweit mit Recht, hieraus könne nicht entnommen werden, dass und wie die Beklagte die Güte des angelieferten Materials ihrerseits geprüft habe.

Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann zudem ein Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte wegen schuldhafter Verletzung von Pflichten im Rahmen des Rückgewährschuldverhältnisses gemäß § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit §§ 346 ff. BGB nicht verneint werden. Ist die Klägerin wegen der Vertragswidrigkeit des gelieferten Recycling-Schotters wirksam von dem mit der Beklagten geschlossenen Kaufvertrag zurückgetreten, kann sich die Weigerung der Beklagten, den von der Klägerin ausgebauten und auf der früheren Baustelle zum Zwecke der Rückgewähr nach § 346 Abs. 1 BGB bereitgestellten Schotter - wie von der Klägerin ausdrücklich verlangt - zurückzunehmen, jedenfalls unter den gegebenen besonderen Umständen als Verletzung einer (auch) im Rückgewährschuldverhältnis bestehenden Rücksichtnahmepflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB darstellen. Nach der Vorschrift des § 346 Abs. 1 BGB sind im Falle des Rücktritts die empfangenen Leistungen zurückzugewähren und die gezogenen Nutzungen herauszugeben. Ob und unter welchen Voraussetzungen im Falle des Rücktritts des Käufers vom Kaufvertrag eine Pflicht des Verkäufers zur Rücknahme der Kaufsache besteht, ist umstritten. Nach einer Ansicht soll der Verkäufer aufgrund einer - gewissermaßen spiegelbildlichen - Anwendung der Vorschrift des § 433 Abs. 2 BGB stets zur Rücknahme der Kaufsache verpflichtet sein (Nachweise in Rn. 31). Die Gegenansicht bejaht eine Rücknahmepflicht des Verkäufers nur ausnahmsweise (Nachweise in Rn. 32). Der Senat hat zur Rechtslage vor der Schuldrechtsmodernisierung in dem sogenannten Dachziegelfall (BGH, Urteil vom 9. März 1983 – VIII ZR 11/82) dem Käufer mangelhafter Dachziegel nach Wandelung des Kaufvertrags (§ 462 BGB aF) einen Verzugsschadensersatzanspruch gegen den Verkäufer gemäß § 284 Abs. 1, § 286 Abs. 1 BGB aF (jetzt § 280 Abs. 1, 2, § 286 Abs. 1 BGB) auf Ersatz der Kosten für die versäumte Verpflichtung, die nur provisorisch auf dem Dach verlegten Dachziegel wieder abzudecken, zuerkannt. Er hat dabei ausdrücklich offen gelassen, ob der Verkäufer im Rahmen des Wandelungsvollzuges stets oder nur bei einem besonderen Interesse des Käufers zur Rücknahme der Kaufsache verpflichtet sei, weil er im damaligen Fall einen aus einem besonderen Interesse abgeleiteten - mit dem Rückgabeanspruch des Verkäufers nach §§ 467, 346 BGB aF korrespondierenden - Rücknahmeanspruch des Käufers bejaht hat. Nach dem Inkrafttreten der Schuldrechtsmodernisierung hat sich der Senat in mehreren Entscheidungen mit Inhalt und Umfang der Pflichten des Verkäufers im Rahmen der Nacherfüllung durch Ersatzlieferung (§ 439 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 BGB) befasst. Er hat die vorbezeichnete Bestimmung für die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs richtlinienkonform dahin ausgelegt, dass die Verpflichtung des Verkäufers zur "Lieferung einer mangelfreien Sache" auch den Ausbau und den Abtransport der mangelhaften Kaufsache umfasst. Um die im Falle eines Rücktritts des Käufers vom Kaufvertrag bestehenden Pflichten des Verkäufers im Rückgewährschuldverhältnis nach den Vorschriften der §§ 346 ff. BGB ging es hierbei nicht.    

In den Gesetzesmaterialien finden sich lediglich vereinzelte Äußerungen des Gesetzgebers zur Frage einer Rücknahmepflicht des Verkäufers. Im Gesetzgebungsverfahren zur Schuldrechtsmodernisierung wurde die Frage einer Verpflichtung des Verkäufers zum Ausbau der bestimmungsgemäß eingebauten Kaufsache beziehungsweise zum Ersatz von Aufwendungen der Rückabwicklung im Vergleich der beabsichtigten Regelungen zur Nacherfüllung einerseits (§ 439 BGB-E) und zum Rücktritt andererseits (§§ 346 ff. BGB-E) unter Bezugnahme auf den Dachziegelfall des Senats zwar erörtert. Indessen ist der Regierungsentwurf trotz der vom Bundesrat geäußerten Bedenken hinsichtlich möglicher Wertungswidersprüche (vgl. BT-Drucks. 14/6857, S. 25) insoweit unverändert geblieben. Nach Ansicht der Bundesregierung führte die Neuregelung nicht zu einer Änderung der Rechtslage. Der Käufer habe künftig wie bisher auch nach Verzugsgrundsätzen (§ 286 Abs. 1 BGB aF, § 280 Abs. 1 BGB-E) einen Anspruch auf Ersatz der Kosten der Rückabwicklung, wenn der Verkäufer die Nicht-Rücknahme der Sache zu vertreten habe. In der Begründung des Regierungsentwurfs zum Gesetz zur Regelung des Verkaufs von Sachen mit digitalen Elementen und anderer Aspekte des Kaufvertrags vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2133), mit dem der Gesetzgeber anlässlich der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie unter anderem eine ausdrückliche Verpflichtung des Verkäufers zur Rücknahme der im Rahmen der Nacherfüllung durch Ersatzlieferung ersetzten Sache auf seine Kosten angeordnet hat (vgl. § 439 Abs. 6 Satz 2 BGB nF), heißt es zwar, dass eine solche Pflicht nicht gänzlich neu sei, "da sie sich schon nach geltendem Recht in vielen Fällen etwa aus § 242 BGB ergeben haben dürfte" (vgl. BT-Drucks. 19/27424, S. 27). Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung zur Rücknahmepflicht des Verkäufers trifft indessen allein die Bestimmung zur kaufrechtlichen Nacherfüllung (§ 439 BGB). Ob der Verkäufer vor diesem Hintergrund im Falle des Rücktritts des Käufers vom Kaufvertrag im Rahmen des Rückgewährschuldverhältnisses nach den Vorschriften der §§ 346 ff. BGB zur Rücknahme der Kaufsache verpflichtet ist und unter welchen Voraussetzungen gegebenenfalls eine solche Rücknahmepflicht besteht, bedarf im Streitfall keiner abschließenden Entscheidung. Die Klägerin begehrt eine dahingehende Verurteilung der Beklagten nicht. Der von ihr (allein) geltend gemachte Schadensersatzanspruch kann sich unter den hier gegebenen besonderen Umständen - einen wirksamen Rücktritt der Klägerin vom Kaufvertrag unterstellt - ohne weiteres bereits aufgrund einer von der Beklagten zu vertretenden Verletzung von Rücksichtnahmepflichten im Rückgewährschuldverhältnis (§ 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB) ergeben. Die Weigerung des Verkäufers, nach dem Rücktritt des Käufers vom Kaufvertrag die vom Käufer zum Zwecke der Rückgewähr in Natur gemäß § 346 Abs. 1 BGB angebotene mangelhafte Kaufsache zurückzunehmen, kann jedenfalls unter den besonderen Umständen des Einzelfalls als Verletzung von Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) im Rückgewährschuldverhältnis anzusehen sein, die zu einem Schadensersatzanspruch des Käufers gegen den Verkäufer nach § 280 Abs. 1 BGB führen kann.      

Gemäß § 241 Abs. 2 BGB kann ein Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. Der Inhalt der Schutz- und Rücksichtnahmepflichten ist - bei Fehlen entsprechender Absprachen - jeweils nach der konkreten Situation unter Bewertung und Abwägung der beiderseitigen Interessen zu bestimmen. Schutzpflichten sollen die gegenwärtige Güterlage jedes an dem Schuldverhältnis Beteiligten vor Beeinträchtigungen bewahren. Insbesondere hat sich jede Vertragspartei bei der Abwicklung des Schuldverhältnisses so zu verhalten, dass Person, Eigentum und sonstige Rechtsgüter - einschließlich bloßer Vermögensinteressen - des anderen Teils nicht verletzt werden. Der von der Rücksichtnahmepflicht bezweckte Schutz dieses sogenannten Erhaltungs- oder Integritätsinteresses beruht auf den mit dem Schuldverhältnis verbundenen besonderen Einwirkungsmöglichkeiten der einen Partei auf die Interessensphäre der anderen. Derartige Schutz- und Rücksichtnahmepflichten bestehen auch im Rückgewährschuldverhältnis nach den §§ 346 ff. BGB. Der Rücktritt wandelt den Vertrag in ein Abwicklungsverhältnis mit vertraglicher Grundlage um. Er ist auf eine Rückabwicklung des Leistungsaustauschs gerichtet. Die vor dem Vertragsschluss bestehende Rechtslage soll wiederhergestellt werden. Zu diesem Zweck sind beide Vertragsteile gemäß § 346 Abs. 1 Alt. 1 BGB in erster Linie zur Rückgewähr der empfangenen Leistungen in Natur verpflichtet. Auch im Rahmen des Rückgewährschuldverhältnisses besteht ein schutzwürdiges Interesse jeder Partei daran, dass sich ihre gegenwärtige Güterlage - mit Ausnahme der jeweils zurückzugewährenden Leistung - durch den Vollzug der Rückabwicklung nicht verschlechtert. Denn auch bei der Rückabwicklung ergeben sich als Folge der von den Parteien zuvor mit dem Vertrag eingegangenen schuldrechtlichen Sonderverbindung und des damit verbundenen Leistungsaustauschs erhöhte Einwirkungsmöglichkeiten auf die Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen. Insbesondere kann im Einzelfall (schon) der weitere Verbleib der - nach § 346 Abs. 1 BGB in Natur zurückzugewährenden - Kaufsache beim Käufer bis zu ihrer Rücknahme durch den Verkäufer im Hinblick auf die an die tatsächliche Verfügungsgewalt und das zunächst noch fortbestehende Eigentum anknüpfende Verantwortlichkeit für deren Zustand, Aufbewahrung und Behandlung mit erheblichen (auch finanziellen) Belastungen für den Käufer verbunden sein. Erst recht gilt dies für eine gegebenenfalls gebotene Entsorgung der mangelhaften Kaufsache. Erweisen sich in einer solchen Situation aufgrund besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls die vom Gesetzgeber allgemein zur Wahrung der Interessen des (Rückgewähr-)Schuldners einer Leistung vorgesehenen Möglichkeiten - vor allem die Regelungen zum Verwendungs- und Aufwendungsersatz (§ 347 Abs. 2 BGB), zu den Folgen eines Annahmeverzugs des Gläubigers (§§ 293 ff. BGB) mit den Erleichterungen beim Verschuldensmaß (§ 300 Abs. 1 BGB) und hinsichtlich des Umfangs der geschuldeten Nutzungsherausgabe (§ 302 BGB), dem Recht zur Besitzaufgabe (§ 303 BGB) sowie dem Anspruch auf Ersatz von Mehraufwendungen für die Aufbewahrung und Erhaltung der Sache (§ 304 BGB, § 354 HGB), ferner die Regelungen zur Hinterlegung und Versteigerung beweglicher Sachen (§§ 372 ff., 383 ff. BGB) - für den Käufer als unzureichender Schutz, wird es regelmäßig als Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht des Verkäufers anzusehen sein, wenn dieser die vom Käufer zum Zwecke der Rückgewähr gemäß § 346 Abs. 1 BGB angebotene Kaufsache nicht zurücknimmt, obwohl ihm die besondere Belastung des Käufers und die daraus folgende erhebliche Gefährdung seiner Rechte, Rechtsgüter und Interessen erkennbar geworden ist. In einem solchen Fall wird mit der an die Verletzung der Rücksichtnahmepflicht anknüpfenden Schadensersatzhaftung der Zustand hergestellt, der bei einem vollständigen Vollzug der Rückabwicklung des Kaufvertrags im Sinne des § 346 Abs. 1 BGB bestünde. Die Annahme der von dem Käufer im Rückgewährschuldverhältnis geschuldeten Leistung - die Rückgabe und Rückübereignung der Kaufsache in Natur - ist dem Verkäufer auch in einer solchen Fallkonstellation zumutbar. Zwar verlangen Rücksichtnahme- und Schutzpflichten grundsätzlich nicht, dass die verpflichtete Partei ihre eigenen Interessen unbeachtet lässt oder die Interessen der anderen Partei über ihre eigenen stellt. In dem hier in Rede stehenden Fall, in dem nur die Rückgewähr der Kaufsache iSd. § 346 Abs. 1 BGB eine Verletzung des Integritätsinteresses auf Seiten des Käufers abwenden kann, hat jedoch das Interesse des Verkäufers, gleichfalls von der mit dem Besitz oder dem Eigentum an der nunmehr lästig gewordenen Kaufsache einhergehenden besonderen Belastung verschont zu bleiben, nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf den Zweck des Rückgewährschuldverhältnisses (§ 242 BGB) zurückzustehen. Denn nach der den Vorschriften der § 437 Nr. 2, §§ 440, 323, 326 Abs. 5 BGB in Verbindung mit §§ 346 ff. BGB zugrunde liegenden gesetzgeberischen Bewertung der beiderseitigen Interessen, die auch im Rahmen der Bestimmung dessen zu berücksichtigen ist, was einer Partei billigerweise an Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen Partei zugemutet werden kann, ist die Kaufsache einschließlich der mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Belastungen im Verhältnis der Kaufvertragsparteien zueinander mit der Umgestaltung des Kaufvertrags in ein Rückgewährschuldverhältnis wert- und wertungsmäßig endgültig wieder dem Verkäufer zugewiesen.      

Hiervon ausgehend kommt es  in Betracht, dass die Beklagte mit ihrer Weigerung, den von der Klägerin sukzessiv ausgebauten und auf der früheren Baustelle zum Zwecke der Rückgewähr gemäß § 346 Abs. 1 BGB bereitgestellten Recycling-Schotter - wie von der Klägerin ausdrücklich verlangt - abzuholen, ihre Rücksichtnahmepflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB verletzt hat. Bei den verkauften insgesamt rund 22.000 t handelte es sich um eine große Menge Recycling-Schotters, deren Anlieferung mehr als 800 Lkw-Fuhren erfordert hatte. Auch war der Beklagten bekannt, dass der wegen einer unzulässig hohen Arsenbelastung als mangelhaft beanstandete Recycling-Schotter nicht auf der früheren Baustelle würde verbleiben können, weil die Grundstückseigentümerin und die frühere Bauherrin als Kundin der Klägerin dessen vollständige Entfernung verlangt hatten. Auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Beklagte hinsichtlich einer Verletzung der Rücksichtnahmepflicht von der Verschuldensvermutung gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB entlastet hat, zumal sie im Zeitpunkt der Aufforderung zur Abholung bereits in einem Vorprozess rechtskräftig zur Rückzahlung des Kaufpreises verurteilt war. Deshalb musste sie davon ausgehen, dass die Klägerin wirksam vom Kaufvertrag zurückgetreten und somit der erfolgte Leistungsaustausch auch im Übrigen - wie von der Klägerin ausdrücklich verlangt - rückabzuwickeln war. Insoweit hatte das Gericht des Vorprozesses - worauf die Klägerin in dem an die Beklagte gerichteten Schreiben vom 27. Februar 2019 ausdrücklich hingewiesen hat - ein Zurückbehaltungsrecht der Beklagten am Kaufpreis mit der Begründung verneint, dass die Klägerin mit dem Ausbau und dem Angebot einer Abholung des Recycling-Schotters durch die Beklagte ihrerseits alles zur Rückgewähr Erforderliche getan habe.

3. Kontext der Entscheidung

Das Gesetz kennt eine Rücknahmepflicht des Verkäufers für den Fall, dass dieser im Wege der Ersatzlieferung statt der mangelbehafteten Sache eine mangelfreie liefert. In diesem Fall hat der Verkäufer die ersetzte Sache auf seine Kosten zurückzunehmen, wie § 439 Abs. 6 Satz 2 BGB bestimmt. Durch die Einfügung des Satzes 2 durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. c des Gesetzes vom 25.6.2021 (BGBl. I 2133) mit Wirkung zum 1.1.2022 hat der Gesetzgeber klargestellt, dass der Verkäufer im Fall der Ersatzlieferung nicht nur einen Anspruch auf Rückgewähr der ersetzten Sache hat, sondern auch zur Rücknahme auf seine Kosten verpflichtet ist (Pammler in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 439 BGB (Stand: 01.02.2023), Rn. 255). Die umstrittene Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Falle des Rücktritts des Käufers vom Kaufvertrag eine Pflicht des Verkäufers zur Rücknahme der Kaufsache besteht, entscheidet der VIII. Zivilsenat auch mit der besprochenen Entscheidung nach sorgfältiger Analyse der Gesetzgebungsmaterialien nicht generell, sondern stellt, was auch sachgemäß sein dürfte, auf die Umstände des Einzelfalls ab: „Die Weigerung des Verkäufers, nach dem Rücktritt des Käufers vom Kaufvertrag die vom Käufer zum Zwecke der Rückgewähr in Natur gemäß § 346 Abs. 1 BGB angebotene mangelhafte Kaufsache zurückzunehmen, kann jedenfalls unter den besonderen Umständen des Einzelfalls als Verletzung von Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) im Rückgewährschuldverhältnis anzusehen sein, die zu einem Schadensersatzanspruch des Käufers gegen den Verkäufer nach § 280 Abs. 1 BGB führen kann.“ (BGH, Urteil vom 29. November 2023 – VIII ZR 164/21 –, Rn. 39).

4. Auswirkungen für die Praxis

Der Senat weist ausdrücklich darauf hin, dass das im Vorprozess ergangene rechtskräftige Urteil (Verpflichtung der Beklagten zur Rückzahlung des Kaufpreises sowie zur Erstattung der Mehrkosten für die Beschaffung von Austauschmaterial) keine Bindungswirkung für diesen Rechtsstreit entfaltet (BGH, Urteil vom 29. November 2023 – VIII ZR 164/21 –, Rn. 53). Insbesondere liegt kein Fall der sogenannten Präjudizialität vor, weil die im Vorprozess rechtskräftig entschiedene Rechtsfolge in dem vorliegenden Rechtsstreit keine Vorfrage ist.  Ist die in einem ersten Prozess rechtskräftig entschiedene Rechtsfolge in einem zweiten – einen anderen Streitgegenstand betreffenden – Prozess nicht die Hauptfrage, sondern eine Vorfrage, besteht die Wirkung der Rechtskraft in der Bindung des nunmehr entscheidenden Gerichts an die Vorentscheidung. Das nachentscheidende Gericht ist somit nach dem Grundsatz der Präjudizialität an einer abweichenden Entscheidung der rechtskräftig entschiedenen (Vor-)Frage gehindert (BGH, Urt. v. 06.12.2022 - II ZR 187/21 - Rn. 19). In Rechtskraft erwächst die im Urteil ausgesprochene Rechtsfolge, d.h. nur der vom Gericht aus dem vorgetragenen Sachverhalt gezogene Schluss auf das Bestehen oder Nichtbestehen der beanspruchten Rechtsfolge, nicht aber die Feststellung der zugrunde liegenden präjudiziellen Rechtsverhältnisse oder sonstigen Vorfragen, aus denen der Richter seinen Schluss gezogen hat (BGH, Versäumnisurteil vom 17. Februar 2023 – V ZR 212/21). Zur Klärung präjudizieller Rechtsverhältnisse steht den Parteien in der Regel der Weg der nicht an ein besonderes Feststellungsinteresse anknüpfenden Zwischenfeststellungsklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) und im Übrigen die Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO offen (BGH, Urt. v. 14.03.2008 - V ZR 13/07 -, Rn. 19). In allen prozessualen Konstellationen, in denen es auf eine Vorfrage ankommt, die über den Streitstoff des konkreten Prozesses hinaus für etwaige Folgeprozesse von Bedeutung sein kann, muss der Rechtsanwalt seiner Partei anraten, das Bestehen (oder Nichtbestehen) des entsprechenden Rechtsverhältnisses durch eine Zwischenfeststellungs(wider)klage für Folgeprozesse feststellen zu lassen (näher dazu: Thode, BauR 2012, 1178).

26.1.2024
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BGH: Anforderungen an die Substantiierung

Ein Sachvortrag ist schlüssig und ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme Einzelheiten zu klären, die für ihn im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlich erscheinen.

BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 170/22

1. Problemstellung

Wieder einmal musste der BGH die Verletzung der grundgesetzlich geschützten Verletzung des rechtlichen Gehörs durch ein Instanzgericht feststellen, das überzogene Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klagepartei gestellt hatte.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin, die ein Unternehmen für Gerüstbau betreibt, lagerte ab Mitte September 2017 Gerüstmaterial, das sich auf dem Betriebsgelände eines ehemaligen Betonteilwerks befand, zu einem Lagerplatz auf dem Gelände um. Die Beklagte, ein Abbruchunternehmen, stellte ihr dafür am 10. Oktober 2017 einen Tieflader zur Verfügung. Auf dem Betriebsgelände stand eine Halle, die von einer anderen Firma gemietet und von dieser ebenfalls zur Lagerung von Gerüstteilen genutzt wurde. Etwa ab Mitte Oktober 2017 wurde die Halle anlässlich einer Räumungsklage der Vermieterin gegen die Mieterin geräumt. Ebenfalls ab Oktober 2017 führte die Beklagte im Auftrag einer Entwicklungsgesellschaft auf dem Betriebsgelände Abbruch- und Räumungsarbeiten durch. Gestützt darauf, sie sei Eigentümerin bzw. Leasingnehmerin und Mieterin des von ihr zu dem Lagerplatz verbrachten Materials (Gerüstteile, Gerüstaufzüge) gewesen, das Material habe sich am 5. November 2017 noch dort befunden und sei zwischen dem 6. und 7. November 2017 auf Veranlassung der Beklagten verschrottet worden, verlangt die Klägerin von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von insgesamt 240.665,16 € (Wiederbeschaffungswert, Mehrkosten und entgangener Gewinn).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung durch Beschluss zurückgewiesen. Es fehle an ausreichendem Sachvortrag der Klägerin zu Schadensersatzansprüchen gegen die Beklagte aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB iVm. §§ 303, 242, 246 StGB und §§ 858, 992 BGB. Der Klägerin sei es nicht möglich gewesen darzulegen, welche in ihrem Eigentum stehenden Gerüste und Gerüstteile sich zum Zeitpunkt der Verschrottung auf dem Gelände befunden hätten und welchen Wert das Material gehabt habe. Eine Eigentumsverletzung sei nach dem eigenen Sachvortrag der Klägerin nicht nachvollziehbar. Die bloße Behauptung, nicht näher bezeichnete Gerüstteile hätten in ihrem Eigentum gestanden, lasse weder die Annahme einer Eigentumsverletzung noch die Feststellung eines Schadens zu. Es könne nicht offenbleiben, welches Gerüstmaterial der Klägerin gehört habe und welches sie geleast bzw. gemietet habe. Der Klägerin als angeblicher Eigentümerin oder Besitzerin müsse es möglich sein, die vernichteten Gegenstände konkret zu bezeichnen. Der behauptete Besitz an dem Gerüstmaterial sei weder unter Beweis gestellt noch rechtfertige dessen Verletzung einen Anspruch auf Ersatz des Wiederbeschaffungswerts und des entgangenen Gewinns. Es sei bereits nicht dargelegt und unter Beweis gestellt, welche konkrete Nutzung der Klägerin habe ermöglicht werden sollen.    

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Klägerin rügt mit Erfolg, dass die Annahme des Landgerichts, sie habe nicht dargelegt und bewiesen, dass sich das in der Klageschrift aufgeführte Gerüstmaterial am 6./7. November 2017 tatsächlich noch auf dem Betriebsgelände befunden und die Klägerin den Besitz daran ausgeübt habe, auf einer unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung beruht. Das Berufungsgericht hat diese Entscheidung rechtsfehlerhaft bestätigt, obwohl die Klägerin in der Berufungsbegründung auf ihre erstinstanzlichen Beweisangebote hingewiesen und die unterbliebene Vernehmung der angebotenen Zeugen gerügt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Klägerin hat bereits in erster Instanz vorgetragen, welche Gerüstteile sie infolge der Verschrottung vermisst. Zum Beweis dafür, dass sich die von ihr genannten Gegenstände bis zur Räumung des Lagerplatzes durch die Beklagte dort befunden hätten, hat sie die Vernehmung des Zeugen L. beantragt. Sie hat ferner Lichtbilder vorgelegt und vorgetragen, der Zeuge F., der im Auftrag des Beklagten die Gerüstteile in den Container verladen habe, habe diese Lichtbilder während der Verladung mit seiner Telefonkamera gefertigt. Die Klägerin hat zudem wiederholt geltend gemacht, sie sei zum Zeitpunkt der schädigenden Handlung jedenfalls Besitzerin des in der Klageschrift genannten Materials gewesen. Dafür hat sie die Vernehmung dreier Zeugen angeboten und ergänzend dargelegt, der Zeuge L. habe die mit der Klageschrift vorgelegte Inventarliste erstellt und könne deren Richtigkeit bezeugen. Nach ihrem konkretisierten Sachvortrag hat nur sie und kein anderes Gerüstbauunternehmen Zugriff auf den Lagerbestand gehabt.    

Das Landgericht - und mit ihm das Berufungsgericht - durfte von der Beweiserhebung nicht mit der Begründung absehen, es bestünden Zweifel an dem Sachvortrag der Klägerin, weil deren Vorbringen zu den Eigentumsverhältnissen an dem Gerüstmaterial und zu der Inventarliste widersprüchlich sei. Das folgt schon daraus, dass auch der Besitz, wie das Berufungsgericht selbst erkennt, ein Schutzgut im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist. Zudem beseitigt die aufgezeigte Widersprüchlichkeit die Schlüssigkeit des Vortrags der Klägerin zum Vorhandensein des Gerüstmaterials auf dem Lagerplatz bis unmittelbar vor der Verschrottung am 6. und 7. November 2017 nicht. Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

Auch mit der Rüge, das Berufungsgericht habe - wie zuvor das Landgericht - den Vortrag der Klägerin zu den Eigentumsverhältnissen an dem Lagerbestand rechtsfehlerhaft als nicht hinreichend substantiiert bewertet, dringt die Beschwerde durch. Das Berufungsgericht überspannt die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrags der Klägerin zu dem Eigentum an den von der Beklagten der Verschrottung zugeführten Gegenständen. Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen durch das Gericht dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verletzt sie Art. 103 Abs. 1 GG bereits dann, wenn sie offenkundig unrichtig ist. So liegt es hier. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klageforderung sei unschlüssig, da die Klägerin nicht nachvollziehbar dargelegt habe, welche in ihrem Eigentum stehenden Gegenstände von der Beklagten der Verschrottung zugeführt worden sein sollen, ist offenkundig unrichtig. Ein Sachvortrag ist schlüssig und ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme Einzelheiten zu klären, die für ihn im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlich erscheinen. Für den Umfang der Darlegungslast ist der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung ohne Bedeutung. Die Grenze zulässigen Vortrags ist erst erreicht, wenn das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte den Vorwurf begründet, eine Behauptung sei „ins Blaue hinein“ aufgestellt, mithin aus der Luft gegriffen, und stelle sich deshalb als Rechtsmissbrauch dar. Daran gemessen ist der in der ersten Instanz gehaltene und in der Berufungsinstanz wiederholte Vortrag der Klägerin zu einer Eigentumsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB schlüssig und hinreichend substantiiert. Die Klägerin hat in erster Instanz vorgetragen und unter Beweis gestellt, Eigentümerin der auf den Lagerplatz verbrachten Gegenstände gewesen zu sein. Sie hat zwar eingeräumt, dass sich auf dem Lagerplatz auch von ihr gemietetes und geleastes Gerüstmaterial befunden hat. Sie hat aber mit der Berufungsbegründung vorgetragen, Eigentümerin jedenfalls des ganz überwiegenden Lagerbestandes gewesen zu sein, insbesondere eines in den Jahren 2016 und 2017 angeschafften Baustellengerüsts, das sich noch am 6./7. November 2017 auf dem Lagerplatz befunden habe. Zum Beweis dafür hat sie Rechnungsbelege vorgelegt und die Vernehmung eines Zeugen beantragt. Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung Beachtung finden. Der Sachvortrag der Klägerin ist plausibel und lässt die Feststellung einer Eigentumsverletzung iSd. § 823 Abs. 1 BGB zu. Inwieweit die auf den Lagerplatz verbrachten Gegenstände im Eigentum der Klägerin standen, ist im Rahmen der Beweisaufnahme zu klären. Das gilt auch für die Frage, ob die Klägerin die von ihr erworbenen Gerüste und Gerüstteile nach der Verwendung auf den Baustellen überhaupt noch identifizieren konnte, oder ob Vermischung bzw. Vermengung mit dem geleasten bzw. gemieteten Gerüstmaterial eingetreten war, so dass die Klägerin nur noch Miteigentümerin war (§§ 948, 947 BGB). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die im Wege der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse als Grundlage für eine Schadensschätzung ausreichen (§ 287 ZPO).

Die Verletzung des Verfahrensgrundrechts der Klägerin aus Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach einer Vernehmung des Zeugen und gegebenenfalls ergänzender Parteianhörung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

3. Kontext der Entscheidung

Im Interesse der Wahrung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG darf das Gericht keine überspannten Anforderungen an die Darlegung stellen. Vermag sich eine Partei an ein Geschehen nicht zu erinnern, kann sie dazu gleichwohl eine ihr günstige Behauptung unter Zeugenbeweis stellen, wenn sie hinreichende Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass der Zeuge das notwendige Wissen hat. Ob und inwieweit der Zeuge in der Lage ist, sich zu erinnern, ist erst durch die Vernehmung des Zeugen und die daran anschließende Würdigung seiner Aussage zu klären. Der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung der Partei ist ohne Bedeutung. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, muss das Gericht in die Beweisaufnahme eintreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen unterbreiten (BGH, Beschluss vom 14. März 2017 – VI ZR 225/16). Ein Beweisantritt für erhebliche, nicht willkürlich ins Blaue hinein aufgestellte Tatsachen darf nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen kann, oder wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BGH, Beschluss vom 1. Juni 2005 – XII ZR 275/02). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält; ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst dann vor, wenn der Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH, Urteil vom 8. Mai 2012 – XI ZR 262/10). Durch ein Bestreiten des Beklagten mit Nichtwissen erhöhen sich die Substantiierungsanforderungen für den Kläger nicht; es führt allein dazu, dass die mit Nichtwissen bestrittene Behauptung beweisbedürftig wird (BGH, Beschl. v. 25. September 2018 – VI ZR 234/17).

4. Auswirkungen für die Praxis

Für die Praxis wichtig ist der Hinweis, den der BGH für den Fall erteilt, dass die Klägerin ihr Eigentum nicht oder nur zum Teil beweisen kann. Dann ist nämlich der durch den Besitzverlust eingetretene Schaden zu prüfen und der Klägerin Gelegenheit zu geben, ihren Besitzschaden zu berechnen. Soll der berechtigte Besitz dazu dienen, eine bestimmte Nutzung der Sache zu ermöglichen, stellt es eine Rechtsgutsverletzung gemäß § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn der Besitzer an eben dieser Nutzung durch einen rechtswidrigen Eingriff in relevanter Weise gehindert wird. Das ist bei einer Vernichtung von Gerüstmaterial, das eine Gerüstbaufirma gemietet oder geleast hat, ohne weiteres naheliegend. Der bestimmungsgemäße Gebrauch von Gerüstteilen besteht im Einsatz auf Baustellen. Zu ersetzen ist der Nachteil, der durch den Ausfall der Sache infolge der Beschädigung der Miet-, Pacht- oder Leasingsache entstanden ist wie z.B. Mietkosten und entgangener Gewinn (BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 170/22 –, Rn. 16).

25.1.2024
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BGH: Gehörsrechtsverletzung bei übermitteltem, jedoch nicht zur Gerichtsakte gelangtem Schriftsatz

Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich.

BGH, Beschluss vom 8. November 2023 - VIII ZB 59/23

1. Problemstellung

Der VIII. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob eine verfahrensordnungswidrige Gehörsverletzung vorliegt, wenn eine rechtzeitig bei Gericht eingegangene Berufungsbegründungsschrift unberücksichtigt bleibt, weil sie nicht zur Verfahrensakte gelangt ist.  

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Beklagte hat gegen das am 16. März 2023 zugestellte Urteil des Amtsgerichts fristgerecht Berufung eingelegt. Das Landgericht hat die Berufung wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, eine Berufungsbegründung liege auch nach dem Verstreichen der (bis zum 19. Juni 2023 verlängerten) Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht nicht vor.    

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt in entscheidungserheblicher Weise das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat gehörswidrig die von dem Beklagten innerhalb der (verlängerten) Berufungsbegründungsfrist eingereichte Berufungsbegründungsschrift nicht zur Kenntnis genommen. Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich. Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Schriftsatz den Richtern nach Eingang bei Gericht nur nicht vorgelegt wurde oder erst gar nicht zur Verfahrensakte gelangt ist.

Gemessen hieran hätte das Berufungsgericht das Vorbringen des Beklagten in dem Berufungsbegründungsschriftsatz vom 16. Juni 2023 berücksichtigen müssen. Denn dieser ist am 19. Juni 2023 und damit innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen. Für den rechtzeitigen Eingang einer Berufungsbegründungsschrift ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt. Ausgehend hiervon hat der Beklagte die Berufungsbegründungsfrist gewahrt. Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Berufungsbegründungsfrist bis zum 19. Juni 2023 (wirksam) verlängert worden. Die von dem Beklagtenvertreter per beA übersandte Berufungsbegründungsschrift ist ausweislich des in den Gerichtsakten befindlichen Prüfvermerks an diesem Tag ("Eingangszeitpunkt: 19.06.2023, 16:27:17") und damit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen. Dass das elektronische Dokument - offenbar infolge eines gerichtsinternen Versehens - erst am 19. Juli 2023 zur Gerichtsakte gelangt ist, ist dagegen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht von Bedeutung und steht aus den vorgenannten Gründen auch der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen.

3. Kontext der Entscheidung

Ein Berufungsgericht kann nur dann gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, verstoßen, wenn es einen ordnungsgemäß bei dem Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG kann damit nur dann in Betracht kommen, wenn der Schriftsatz tatsächlich bei Gericht eingegangen ist (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2022 – V ZB 66/21 –, Rn. 8 - 9). Eine Gehörsrechtsverletzung ist auch dann gegeben, wenn ein fristgerecht eingereichter Schriftsatz lediglich versehentlich unberücksichtigt bleibt (BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 – I ZR 214/19 –, Rn. 8). Der in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzten Partei verbleibt nur das zulässige Rechtsmittel, sofern die angefochtene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht. Der einfachere und kostengünstigere Weg der Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist nicht eröffnet, da diese subsidiären Charakter hat (G. Vollkommer in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 321a Rn. 2 mwN.). Voraussetzung für die Gehörsrüge ist nach § 312a Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist.  

4. Auswirkungen für die Praxis

Gemäß § 130a Abs. 5 Satz 1 ZPO ist ein elektronisches Dokument eingegangen, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist. Ob das elektronische Dokument von der vorgenannten Einrichtung aus rechtzeitig an andere Rechner innerhalb des Gerichtsnetzes weitergeleitet wird oder von solchen Rechnern abgeholt werden konnte, ist demgegenüber unerheblich. Hierbei handelt es sich um gerichtsinterne Vorgänge, die für den Zeitpunkt des Eingangs des Dokuments nicht von Bedeutung sind (BGH, Beschluss vom 30. November 2022 – IV ZB 10/22 –, Rn. 9). Dementsprechend steht es der Wirksamkeit und Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht entgegen, wenn der für die Abholung von Nachrichten eingesetzte Rechner im internen Netzwerk das Dokument nicht von dem Intermediär-Server des Gerichts herunterladen kann, sondern lediglich eine Fehlermeldung erhält (BGH, Beschluss vom 8. März 2022 – VI ZB 25/20 –, Rn. 8).

23.1.2024
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BGH: Bauträgervergütungsanspruch verjährt erst in 10 Jahren!

Verpflichtet sich der Veräußerer eines Grundstücksanteils in einem Bauträgervertrag zur Errichtung einer Eigentumswohnung, verjährt sein einheitlich für Grundstücksanteil und Eigentumswohnung vereinbarter Vergütungsanspruch gemäß § 196 BGB in zehn Jahren.

BGH, Urteil vom 7. Dezember 2023 – VII ZR 231/22

1. Problemstellung

Der VII. Zivilsenat des BGH hatte zu entscheiden, ob der Vergütungsanspruchs des Bauträgers in der Regelverjährungsfrist des § 195 BGB verjährt oder der speziellen Verjährungsfrist bei Rechten an einem Grundstück von 10 Jahren (§ 196 BGB) unterliegt.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Mit notariellem Bauträgervertrag vom 26. Februar 2013 veräußerte die Klägerin an die Beklagten zwei Miteigentumsanteile an einer von der Klägerin auf klägerischem Grundbesitz zu errichtenden Anlage, verbunden mit dem Sondereigentum an einer näher bezeichneten Wohnung und dem Sondereigentum an einem näher bezeichneten PKW-Abstellplatz im Untergeschoss, zum Preis von insgesamt 448.900 €. Der Vertrag enthält einen Ratenplan, nach dem der Kaufpreis in sieben vom Baufortschritt abhängigen Raten zu zahlen ist. Die Schlussrate von 3,5 % des vereinbarten Preises (= 15.711,50 €) ist vertragsgemäß nach vollständiger Fertigstellung zu zahlen. Am 20. Juni 2014 führte die Klägerin unter Beteiligung der Beklagten eine Begehung der Wohnung durch. Dabei wurde ein von den Anwesenden unterzeichnetes Abnahmeprotokoll erstellt, in dem 27 Beanstandungen aufgeführt wurden. In diesem Protokoll heißt es unter anderem: "Die Übergabe/Abnahme erfolgt gemäß des Kaufvertrags vom 26.02.2013; UR Nr.." Am 6. November 2014 erklärten die Beklagten die Abnahme des Gemeinschaftseigentums - rückwirkend zum 23. Juni 2014 - ohne Außenanlagen und Tiefgarage und - rückwirkend zum 11. Juli 2014 - die Abnahme hinsichtlich Außenanlagen und Tiefgarage. Mit Bautenstandsmeldung vom 21. November 2014 erklärte die Klägerin, das Objekt vollständig fertiggestellt zu haben. Mit Schreiben vom 24. November 2014 teilte die Klägerin den Beklagten mit, dass der Bautenstand "vollständige Fertigstellung" erreicht sei, und forderte diese zur Zahlung der letzten noch offenen Rate in Höhe von 15.711,50 € auf. Mit Schreiben vom 8. Dezember 2014 wiesen die Beklagten die Rechnung wegen Baumängeln zurück.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten mit bei Gericht am 28. Dezember 2017 eingegangenem Antrag den Erlass eines Mahnbescheids begehrt. Gegen den den Beklagten am 3. Januar 2018 zugestellten Mahnbescheid vom 29. Dezember 2017 haben diese am 11. Januar 2018 Widerspruch erhoben, worüber die Klägerin am 15. Januar 2018 informiert worden ist. Die Beklagten haben zunächst auf die Erhebung der Einrede der Verjährung bis zum 31. Dezember 2018 verzichtet. Nach Eingang des Kostenvorschusses am 28. Dezember 2018 ist der Rechtsstreit am 2. Januar 2019 an das Landgericht abgegeben worden. Die Anspruchsbegründung der Klägerin vom 24. September 2020 ist den Beklagten am 5. Februar 2021 zugestellt worden. Die Beklagten haben die Einrede der Verjährung erhoben. Daneben berufen sie sich auf ein Zurückbehaltungsrecht wegen der von ihnen gerügten Mängel, deren Beseitigungsaufwand sie unter Berücksichtigung eines anzusetzenden Druckzuschlags auf 33.545,51 € beziffern. Die Klägerin hat eine Minderung ihrer Vergütung wegen Mängeln in Höhe von 200 € anerkannt und diesen Betrag von der Schlussrate in Abzug gebracht. Im Übrigen ist sie der Auffassung, dass die erhobenen Mängelrügen kein Zurückbehaltungsrecht, jedenfalls nicht in Höhe der Klageforderung, rechtfertigten. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Die Restvergütungsforderung der Klägerin sei verjährt. Sie unterliege der regelmäßigen Verjährungsfrist, die gemäß § 195 BGB drei Jahre betrage. Auch wenn die streitgegenständliche Forderung Teil des Entgelts dafür sei, dass die Klägerin den Beklagten Eigentum an einem Grundstück zu übertragen habe, und die errichtete Wohnung "lediglich" wesentlicher Bestandteil des Miteigentumsanteils sei, richte sich die Verjährung nicht nach § 196 BGB. Die Forderung sei nicht nur die Gegenleistung für die Übertragung des Miteigentumsanteils, sondern auch für die Erbringung von Bauleistungen. Deshalb sei die Vergütungsforderung nicht aufteilbar in eine für die Eigentumsübertragung sowie eine für die Bauleistung, weshalb die Verjährung einheitlich nach der Leistung zu beurteilen sei, die bei weitem überwiege und das Vertragsverhältnis charakterisiere. Der Charakter des zwischen den Parteien geschlossenen Vertrags über den Kauf der noch zu errichtenden Eigentumswohnung werde durch den Bau der Wohnung geprägt. Die Vergütung der Klägerin sei zumindest teilweise im Werkvertragsrecht geregelt, § 631 BGB. Die Klägerin habe den Miteigentumsanteil mit der fertig errichteten Wohnung zu übertragen gehabt.  

Die Revision der Klägerin hat Erfolg; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung der restlichen Vergütung aus dem Bauträgervertrag unterliegt der zehnjährigen Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB und ist noch nicht verjährt. Im Ausgangspunkt zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die vereinbarte Bauträgervergütung nicht aufteilbar ist in einen Kaufpreis für die Grundstücksanteile einerseits und eine Vergütung für die Bauleistungen andererseits. Bei einem Bauträgervertrag handelt es sich um einen einheitlichen Vertrag, der neben werkvertraglichen auch (soweit der Grundstückserwerb in Rede steht) kaufvertragliche Elemente enthält. Grundsätzlich ist bei Bauträgerverträgen hinsichtlich der Errichtung des Bauwerks Werkvertragsrecht, hinsichtlich der Übertragung des Eigentums an dem Grundstück hingegen Kaufrecht anzuwenden( siehe nunmehr auch § 650u Abs. 1 BGB in der seit dem 1. Januar 2018 geltenden, im Streitfall zeitlich noch nicht anwendbaren Fassung). Eine Aufteilung der Bauträgervergütung in einen Kaufpreis für das Grundstück einerseits und eine Vergütung für die Bauleistungen andererseits kommt allenfalls dann in Betracht, wenn die Parteien eine derartige Aufteilung vereinbaren. Eine derartige vertragliche Aufteilung haben die Parteien nicht vorgenommen, weshalb der Anspruch der Klägerin eine einheitliche Vergütung mit der Folge zum Gegenstand hat, dass der Vergütungsanspruch nur einheitlich verjähren kann.    

Für den einheitlichen Vergütungsanspruch des Bauträgers gilt jedoch entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht die dreijährige Regelverjährungsfrist gemäß § 195 BGB, sondern die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, nach welchen Vorschriften sich die Verjährung dieses Anspruchs richtet. Nach einer Auffassung unterliegt er der dreijährigen Regelverjährungsfrist gemäß § 195 BGB (Nachweise in Rn. 24). Nach anderer, überwiegend vertretener Auffassung (Nachweise in Rn. 25) gilt für den Anspruch insgesamt die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB. Die letztgenannte Auffassung ist zutreffend. § 196 BGB ist dahin auszulegen, dass die in dieser Vorschrift geregelte Verjährungsfrist für den einheitlichen Vergütungsanspruch des Bauträgers aus einem Bauträgervertrag gilt. Nach § 196 BGB verjähren Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück sowie auf Begründung, Übertragung oder Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück oder auf Änderung des Inhalts eines solchen Rechts sowie die Ansprüche auf die Gegenleistung in zehn Jahren. § 196 BGB verdrängt insoweit als speziellere gesetzliche Regelung die Vorschrift des § 195 BGB. Die Vorschrift des § 195 BGB stellt innerhalb des Verjährungsrechts die Grundnorm dar. Sie ist jedoch nur anwendbar, wenn sie nicht durch eine speziellere Regelung verdrängt wird. § 196 BGB stellt eine solche speziellere Verjährungsregelung dar. Diese spezielle Verjährungsregelung ist auch auf den Vergütungsanspruch des Bauträgers anwendbar. Allein aus dem Wortlaut des § 196 BGB kann allerdings nicht eindeutig geschlossen werden, dass der Vergütungsanspruch des Bauträgers nach dieser Vorschrift verjährt. Denn die dem Bauträger zustehende Vergütung stellt sowohl die Gegenleistung für die von ihm geschuldete Übertragung des Eigentums und damit eine Gegenleistung im Sinne des § 196 BGB als auch die Gegenleistung für die von ihm geschuldete Errichtung des Bauwerks dar. Die Verpflichtung zur Errichtung eines Bauwerks und die Gegenleistung hierfür werden indes vom Wortlaut des § 196 BGB nicht erfasst. Gleichwohl ist es aus systematischen und teleologischen Gesichtspunkten gerechtfertigt, § 196 BGB als speziellere Regelung auf den Vergütungsanspruch des Bauträgers anzuwenden. Da es sich bei dem Vergütungsanspruch des Bauträgers um einen einheitlichen Anspruch handelt, der folglich einer einheitlichen Verjährung unterliegt, kann sich die Verjährung dieses Anspruchs nur entweder nach § 196 BGB oder nach § 195 BGB richten. Aus den Gesetzesmaterialien zu § 196 BGB (BT-Drucks. 14/7052 S. 179) ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Einbeziehung der Ansprüche auf die Gegenleistung in § 196 BGB über die dieser Vorschrift bereits unterfallenden Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück hinaus ein in der Sache nicht gerechtfertigtes Ergebnis vermeiden wollte, das bestehen könnte, wenn derartige Verträge bei Geltung der Regelverjährungsfrist für die Ansprüche auf die Gegenleistung nicht beendet werden könnten. Diese Erwägung greift ebenfalls bei Bauträgerverträgen. Da der einheitliche Vergütungsanspruch des Bauträgers jedenfalls auch eine Gegenleistung für die von ihm - neben der Bauwerkserrichtung - geschuldete Übertragung des Eigentums an dem Grundstück und damit eine Gegenleistung im Sinne des § 196 BGB darstellt, ist es gerechtfertigt, insoweit einheitlich die speziellere Verjährungsregelung des § 196 BGB anzuwenden. Gegen diese Beurteilung kann nicht eingewendet werden, dass es sich bei dem Vergütungsanspruch um einen Anspruch aus einem Mischvertrag handelt, bei dem die vom Bauträger geschuldete Übertragung des Eigentums an dem Grundstück gegenüber der Bauwerkserrichtung von derart untergeordneter Bedeutung für das Vertragsverhältnis ist, dass § 196 BGB auf den Vergütungsanspruch nicht angewendet werden könnte. Vielmehr ist die Übertragung des Eigentums an dem Grundstück bei einem Bauträgervertrag von wesentlichem Interesse für den Erwerber. Der Anspruch des Erwerbers ist auf Übertragung des Grundstücks mit dem zu errichtenden Bauwerk gerichtet. Das Bauwerk wird mit seiner Errichtung wesentlicher Bestandteil des Grundstücks (§ 94 Abs. 1 Satz 1 BGB). Das Eigentum an dem Grundstück erstreckt sich daher auch auf das Eigentum an dem Bauwerk (§ 946 BGB). Die mit der einheitlichen Vergütung abgegoltenen Leistungen - auch die Leistungen betreffend die Bauwerkserrichtung - haben danach für den Erwerber keinen nachhaltigen Wert, wenn er nicht Eigentümer des Grundstücks wird. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze ist der Anspruch der Klägerin nicht verjährt.  

3. Kontext der Entscheidung

Der VII. Zivilsenat hatte 1978 schon einmal darüber zu befinden, in welcher Frist der Vergütungsanspruch des Veräußerer eines Grundstücksanteils aus einem Vertrag zur Herstellung einer Eigentumswohnung verjährt. Nach dem damals geltenden Recht verjährten Forderungen von Kaufleuten für die Ausführung von Arbeiten und die Besorgung fremder Geschäfte in zwei Jahren (§ 196 Absatz 1 Nr. 1 BGB a.F.). Dagegen galt für den Anspruch auf Zahlung des Grundstückskaufpreises die 30jährige Verjährungsfrist des § 195 BGB. Der Senat hat seinerzeit entschieden, dass der einheitlich für Grundstücksanteil und Eigentumswohnung vereinbarte Vergütungsanspruch gemäß § 196 Absatz 1 Nr. 1 BGB in zwei Jahren verjährt (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1978 – VII ZR 288/77). Begründet hat der Senat das damit, dass die Verjährung für aus verschiedenen Leistungselementen bestehende Mischverträge nach den Leistungen zu beurteilen sei, die „bei weitem überwiegen und dem Vertragsverhältnis seine charakteristische Note geben“. Das sei der Bau der Wohnung. Stünden schon bei einem Einfamilienhaus die Bauarbeiten regelmäßig gegenüber der Grundstücksverschaffung wirtschaftlich im Vordergrund, so gelte das in weitaus größerem Maße für eine Eigentumswohnung. Auf eine Vereinbarung, wonach der Veräußerer auf seinem Grundstück ein Gebäude errichten und das bebaute Grundstück dem Erwerber sodann übereignen soll, sei zum Teil Kaufrecht, zum Teil Werkvertragsrecht anzuwenden. Der Vergütungsanspruch richte sich nach §§ 631, 632 BGB. Das Gesetz behandele ihn wie eine gewöhnliche Werklohnforderung sehe die Vergütung vorwiegend als Gegenleistung für die Herstellung des Werks an (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1978 – VII ZR 288/77 – , Rn. 17 - 19). Daraus folge, dass der Anspruch des Unternehmers wie ein Werklohnanspruch verjähre (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1978 – VII ZR 288/77 –, Rn. 20). Diese Rechtsprechung hat der Senat sodann fortgeführt. So hat er 1987 entschieden, dass der Anspruch eines Bauträgers auf Erstattung von Erschließungskosten nach § 196 Absatz 1 Nr. 1 BGB verjährt, gleichviel ob solche Kosten im Erwerbsvertrag gesondert ausgewiesen oder in einem einheitlich vereinbarten Entgelt enthalten sind (BGH, Urteil vom 5. November 1987 – VII ZR 364/86). Es existierte somit vor der Schuldrechtsreform eine gefestigte Rechtsprechung zur Verjährung des Vergütungsanspruchs aus einem Bauträgervertrag. Mit der Schuldrechtsreform ist das Verjährungsrecht einschneidend geändert worden. Der frühere § 195 BGB a.F. bestimmte eine Verjährungsfrist von 30 Jahren als regelmäßige Verjährungsfrist. Die in zahlreichen gesetzlichen Vorschriften vorgesehenen kürzeren Verjährungsfristen ließen diese lange Verjährungsfrist indes zur Ausnahme werden (Schmidt-Räntsch in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, Vorbemerkung vor § 194 Rn. 3 mwN). Nach der Schuldrechtsreform beträgt die regelmäßige drei Jahre (§ 195 BGB). Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück sowie auf Begründung, Übertragung oder Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück oder auf Änderung des Inhalts eines solchen Rechts sowie die Ansprüche auf die Gegenleistung unterliegen jedoch einer längeren Verjährungsfrist und verjähren in zehn Jahren (§ 196 BGB). Der Gesetzgeber hielt eine spezielle und längere Verjährungsfrist für notwendig, weil bei Verträgen über Grundstücke bzw. über Rechte an Grundstücken die Durchsetzbarkeit der Ansprüche oft von äußeren Faktoren abhängt, wie z.B. der Arbeitsgeschwindigkeit des Grundbuchamts, der Dauer für eine erforderliche Vermessung und Eintragung in das Kataster oder der Notwendigkeit der Einholung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamt, wenn die Höhe der Grunderwerbssteuer umstritten ist (Lakkis in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 196 BGB (Stand: 15.05.2023), Rn. 1). Ursprünglich sollte die Vorschrift Ansprüche auf die Gegenleistung nicht erfassen, so dass der Zahlungsanspruch gemäß §§ 195, 199 BGB vor dem synallagmatischen Übereignungsanspruch verjähren würde. Zwar gewährte § 320 iVm. § 215 BGB dem Grundstücksverkäufer auch nach Verjährung seines Zahlungsanspruchs die Einrede des nicht erfüllten Vertrages (MüKoBGB/Grothe, 9. Aufl. 2021, BGB § 196 Rn. 3). Trotzdem sind die „Ansprüche auf die Gegenleistung“ auf Initiative des Rechtsausschusses in die Vorschrift aufgenommen worden (Rechtsausschuss, BT-Drs. 14/7052, 179). Durch die Schuldrechtsmodernisierung hat sich somit die Rechtslage grundlegend geändert, so dass der VII. Zivilsenat zu Recht feststellt, dass das vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes ergangene Urteil des Senats vom 12. Oktober 1978 der aktuellen Entscheidung schon deshalb nicht entgegensteht, weil es auf einer anderen Rechtslage beruht (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2023 – VII ZR 231/22 –, Rn. 34). Hinzugefügt hat der Senat allerdings: „Soweit diese Entscheidung dahin verstanden werden könnte, der Bauträgervertrag werde durch die Bauwerkserrichtungsleistungen derart geprägt, dass sich die Verjährung des Vergütungsanspruchs einheitlich nach den für werkvertragliche Vergütungsansprüche geltenden Vorschriften richtet, hält der Senat hieran nicht fest.“ Die Begründung dafür findet sich in Rn. 33, wo es heißt: „Gegen diese Beurteilung kann nicht eingewendet werden, dass es sich bei dem Vergütungsanspruch um einen Anspruch aus einem Mischvertrag handelt, bei dem die vom Bauträger geschuldete Übertragung des Eigentums an dem Grundstück gegenüber der Bauwerkserrichtung von derart untergeordneter Bedeutung für das Vertragsverhältnis ist, dass § 196 BGB auf den Vergütungsanspruch nicht angewendet werden könnte. Vielmehr ist die Übertragung des Eigentums an dem Grundstück bei einem Bauträgervertrag von wesentlichem Interesse für den Erwerber.“ (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2023 – VII ZR 231/22 –, Rn. 33). Dazu verweist der Senat auf §§ 94 Abs. 1 Satz 1 und 946 BGB. Das klingt überzeugend. Genauso überzeugend hatte derselbe Senat jedoch 1978 ausgeführt: „Deshalb hat der Senat für aus verschiedenen Leistungselementen bestehende Mischverträge ausgesprochen, die Verjährung sei nach den Leistungen zu beurteilen, die bei weitem überwiegen und dem Vertragsverhältnis seine charakteristische Note geben. Das ist hier der Bau der Wohnung. Stehen schon bei einem Einfamilienhaus die Bauarbeiten regelmäßig gegenüber der Grundstücksverschaffung wirtschaftlich im Vordergrund, so gilt das in weitaus größerem Maße für eine Eigentumswohnung. (…) Auf diesen Vertrag ist zum Teil Kaufrecht, zum Teil Werkvertragsrecht anzuwenden. Der Vergütungsanspruch richtet sich nach §§ 631, 632 BGB. Das Gesetz behandelt ihn wie eine gewöhnliche Werklohnforderung. Es sieht die Vergütung vorwiegend als Gegenleistung für die Herstellung des Werks an.“ (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1978 – VII ZR 288/77 –,Rn. 17 - 19). An der Grundproblematik hat sich somit – trotz der völligen Neugestaltung des Verjährungsrechts – durch die Schuldrechtsreform nichts geändert. Eine tragfähige Begründung, warum der Bauträgervertrag nicht durch die Bauwerkserrichtungsleistungen derart geprägt wird, dass sich die Verjährung des Vergütungsanspruchs einheitlich nach den für werkvertragliche Vergütungsansprüche geltenden Vorschriften richtet, wie derselbe Senat zuvor gemeint hatte, lässt die besprochene Entscheidung vermissen.  

4. Auswirkungen für die Praxis

Die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste, wie § 199 Absatz 1 BGB bestimmt. Der Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist ist somit subjektiv bestimmt. Die Vorschrift gibt der regelmäßigen Verjährungsfrist des § 195 BGB ihr eigentliches Wertungsgepräge (Schmidt-Räntsch in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 199 Rn. 1). Dagegen beginnt nach § 200 Satz 1 BGB die zehnjährige Verjährungsfrist des § 196 BGB mit der Entstehung des Anspruchs, ohne dass es auf die Kenntnis des Gläubigers ankommt. Unter Entstehung ist der Zeitpunkt zu verstehen, in welchem der Anspruch erstmalig geltend gemacht und notfalls im Wege der Klage durchgesetzt werden kann. In der Regel ist damit, sofern keine besonderen Absprachen getroffen sind, der Zeitpunkt der Fälligkeit (§ 271 BGB) maßgebend (BGH, Urteil vom 23. Juni 2023 - V ZR 89/22 - Rn. 10 mwN.).

15.1.2024
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BGH: Zur Auslegung des Klageantrags

Der Klageantrag auf Herausgabe einer verkörperten Information ist als Prozesserklärung im Wege der Auslegung nicht auf die Herausgabe der Information als solche zu verstehen, sondern auf Herausgabe der Verkörperung, in der sie enthalten ist.

BGH, Urteil vom 21. Dezember 2023 – IX ZR 238/22

   Problemstellung

Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss die Klage die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs sowie einen bestimmten Antrag enthalten. Wie diese Anforderungen bei einem Klageantrag auf Herausgabe einer verkörperten Information zu erfüllen sind, hatte der IX. Zivilsenat zu entscheiden.

   Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das LG Düsseldorf hat die Klägerinnen mit vorläufig vollstreckbarem Urteil, der Beklagten wegen einer Patentrechtsverletzung u.a. Auskunft zu erteilen und Rechnung zu legen. Gegenstand der Auskunft und Rechnungslegung waren Informationen zur Herstellung und zum Vertrieb eines Arzneimittels. Nachdem die Beklagte die Zwangsvollstreckung betrieb, erteilten die Klägerinnen mit vier Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten nebst jeweiligen Anlagen (fortan: Auskunftsschreiben) Auskunft und legten Rechnung. Auf die Berufung der Klägerinnen wies das OLG Düsseldorf das Urteil des LG Düsseldorf die Klage der Beklagten ab. Die Klägerinnen machen nunmehr im Hinblick auf die von ihnen erteilten Auskünfte und Rechnungslegung Herausgabe-, Löschungs- und Unterlassungsansprüche gegen die Beklagte geltend. Das Landgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben. Das Berufungsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Die Hauptanträge seien unzulässig. Der Herausgabeantrag sei nicht hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, weil bereits nicht klar sei, was unter einer verkörperten Information zu verstehen sei. Eine Information als solche könne nicht herausgegeben werden, sondern nur ihre Verkörperung. Dahin könne der Antrag aber nicht ausgelegt werden. Unabhängig davon reiche es nicht aus, im Klageantrag lediglich pauschal auf die Auskunftsschreiben Bezug zu nehmen, ohne die in den Dokumenten enthaltenen zahlreichen und unterschiedlichen Informationen konkret zu bezeichnen. Denn ansonsten lasse sich nicht bestimmen, wann eine Information im Falle ihrer Verarbeitung in einem bestimmten Dokument enthalten sei. Unterstellt, die Information sei als vom Antrag umfasst identifizierbar, lasse dieser den Umfang der Herausgabepflicht unklar. Denn er beziehe sich nicht auf die Herausgabe des kompletten Dokuments, das die Information enthalte, sondern nur auf die betreffende Information. Dann sei aber unklar, wie eine isolierte Information herausgegeben werden könne, wenn ein Dokument neben ihr weitere, nicht vom Antrag umfasste Informationen enthalte. Zudem seien die Informationen im Falle einer Herausgabevollstreckung für den Gerichtsvollzieher als Vollstreckungsorgan nicht identifizierbar. Unsicherheiten seien im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes nicht hinzunehmen, denn den Klägerinnen sei eine konkrete Beschreibung der Informationen und der Verkörperungen, welche die Informationen enthalten, ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen. Der Antrag auf Löschung sei ebenso nicht hinreichend bestimmt, weil sich auch die nicht-physisch verkörperten, elektronischen Informationen wegen der pauschalen Bezugnahme auf die Auskunftsschreiben im Klageantrag nicht identifizieren ließen und zudem unklar sei, ob nur die (unterstellt identifizierte) Information oder das gesamte elektronische Dokument oder die gesamte Datei zu löschen sei. Der Bestimmtheitsmangel schlage auch auf den Unterlassungsantrag durch.      

Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Beurteilung, die gestellten Hauptanträge der Klägerinnen seien unzulässig, beruht auf Rechtsfehlern. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht den Herausgabeantrag, den die Klägerinnen auf § 717 Abs. 2 ZPO, § 249 BGB und § 812 Abs. 1 BGB stützen, als unbestimmt angesehen. Falsch ist bereits das Verständnis des Berufungsgerichts, der Herausgabeantrag sei auf die Herausgabe von Informationen als solche, nicht aber der Verkörperungen gerichtet, die sie enthalten. Klageanträge sind Prozesserklärungen. Die Auslegung darf auch im Prozessrecht nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks haften, sondern hat den wirklichen Willen der Partei zu erforschen. Bei der Auslegung von Prozesserklärungen ist der Grundsatz zu beachten, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht. Danach ergibt die Auslegung, dass der Herausgabeantrag auf alle physischen Verkörperungen gerichtet ist, die Informationen aus den übersandten Auskunftsschreiben enthalten. Dies entspricht der wohlverstandenen Interessenlage der Klägerinnen, welche die Klage auf materielle Ansprüche nach § 717 Abs. 2 ZPO, § 249 BGB und § 812 Abs. 1 BGB stützen. Nach ihrem Willen soll die Beklagte genau das herausgeben, was sie aufgrund der Vollstreckung aus dem Titel zur Auskunfts- und Rechnungslegung erhalten hat. Objekt des Herausgabebegehrens sind damit zunächst alle Originaldokumente, welche die Beklagte erhalten hat. Umfasst sind aber auch alle davon abgeleiteten Verkörperungen, in welche die Informationen nach Vervielfältigung oder Verarbeitung ganz oder teilweise oder mit anderen Inhalten vermischt Eingang gefunden haben. Die Klägerinnen können die abgeleiteten Dokumente nicht näher bezeichnen. Ihnen ist unbekannt, ob und in welcher Form solche existieren. Diesem Umstand trägt der Herausgabeantrag Rechnung, indem er zur Identifizierung auf die enthaltenen Informationen abstellt und nicht auf die Verkörperungen. In diesem Kontext stehen auch die von dem Berufungsgericht zitierten Ausführungen der Klägerinnen in der Berufungserwiderungs- und Anschlussberufungsschrift, es ginge nicht um die Rückholung bestimmter Verkörperungen, Objekt der Rückabwicklung seien die Informationen. Der Wortlaut des Klageantrags steht diesem Verständnis nicht entgegen. Denn eine Information kann vernünftigerweise nicht gewolltes Objekt des Herausgabeverlangens sein, weil sie als solche nicht herausgegeben werden kann. Dass die Klägerinnen auf die Informationen abstellen, dient hinsichtlich des nach § 883 ZPO vollstreckbaren Herausgabegehrens der Identifikation der herauszugebenden Objekte. Bei interessengerechter Auslegung bleiben damit nur die physischen Verkörperungen als gewolltes Objekt des Herausgabeverlangens.    

Auch die weiter herangezogenen Begründungen des Berufungsgerichts tragen nicht die Annahme, der Herausgabeantrag sei unbestimmt. Grundsätzlich ist ein Antrag auf Herausgabe von Gegenständen iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hinreichend bestimmt, wenn er diese konkret bezeichnet. Die Beschreibung muss einerseits so genau sein, dass das Risiko eines Unterliegens des Klägers nicht durch vermeidbare Ungenauigkeit auf den Beklagten abgewälzt wird und dass eine Zwangsvollstreckung aus dem Urteil ohne eine Fortsetzung des Streits im Vollstreckungsverfahren erwartet werden kann. Andererseits führt nicht jede mögliche Unsicherheit bei der Zwangsvollstreckung zur Unbestimmtheit des Klageantrags. Welche Anforderungen an die Konkretisierung des Streitgegenstands in einem Klageantrag zu stellen sind, hängt von den Besonderheiten des anzuwendenden materiellen Rechts und den Umständen des Einzelfalls ab. Die Anforderungen an die Bestimmtheit des Klageantrags sind danach in Abwägung des zu schützenden Interesses des Beklagten, sich gegen die Klage erschöpfend verteidigen zu können, sowie seines Interesses an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der Entscheidungswirkungen mit dem ebenfalls schutzwürdigen Interesse des Klägers an einem wirksamen Rechtsschutz festzulegen. Verfolgt der Kläger - wie im Streitfall - einen Schadensersatzanspruch aus § 717 Abs. 2 ZPO, muss ihm über die Antragstellung ermöglicht werden, den aus seiner Sicht eingetretenen Schaden vollständig kompensiert zu erhalten. Maßgebend ist damit das von den Klägerinnen verfolgte Rechtsschutzziel. Unerheblich ist, ob dieses Rechtsschutzziel materiell-rechtlich begründet ist. Daran gemessen ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Herausgabeantrag leide unter einer mangelnden Bestimmtheit, rechtsfehlerhaft. Die Klägerinnen meinen, die Beklagte habe aufgrund des Schadensersatzanspruchs nach § 717 Abs. 2 ZPO den eingetretenen Vollstreckungserfolg vollständig zu beseitigen. Nach der Rechtsansicht der Klägerinnen ist hinsichtlich der Informationslage exakt der Zustand wiederherzustellen, der vor der Vollstreckung bestand. Damit zielt der von den Klägerinnen verfolgte Schadensersatzanspruch aufgrund einer vollstreckten Auskunft und Rechnungslegung dahin, dem Vollstreckungsgläubiger die damit verbundenen Vorteile und die erlangten Kenntnisse umfassend und vollständig wieder zu nehmen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts müssen die Klägerinnen, um den Bestimmtheitsanforderungen zu genügen, nicht jedes herauszugebende Dokument und jede darin enthaltene Information (samt gegebenenfalls anderer vermischter Inhalte) im Klageantrag genau bezeichnen. Umfasst der Antrag auf Herausgabe von überreichten Dokumenten - wie im Streitfall - auch die hiervon abgeleiteten Dokumente und kann der Berechtigte diese nicht genau bezeichnen, hindert dies die hinreichende Bestimmtheit des Klageantrags nicht, solange die abgeleiteten Dokumente anhand der überreichten Dokumente hinreichend identifizierbar bezeichnet sind. Der Herausgabeantrag bezieht sich in diesem Fall auf die Dokumente unabhängig von ihrer nach Aushändigung angenommenen Form. Das ist zudem interessengerecht. Denn die Beklagte kennt nicht nur die ihr überreichten Unterlagen, sondern auch deren weiteres Schicksal. Es besteht für sie keine Unsicherheit, worauf sie ihre Rechtsverteidigung auszurichten hat. Umgekehrt wird es den Rechtsschutzinteressen der Klägerinnen gerecht, lediglich die herauszugebenden Schriftstücke in ihrer überreichten Ursprungsform genau bezeichnen zu müssen und - wie geschehen - zum Ausdruck zu bringen, dass ihr Herausgabebegehren jede Verkörperung der darin enthaltenen Informationen auch in abgeleiteter Form umfasst. Die Klägerinnen haben die Informationen zunächst konkret durch vier Anwaltsschreiben näher eingegrenzt, mit denen sie der Beklagten im Rahmen der Vollstreckung Auskunft erteilt und Rechnung gelegt haben. Diese Anwaltsschreiben enthalten eine zusammenfassende Darstellung und Erläuterung der in den Anlagen zu diesen Anschreiben erteilten Auskünfte. Diese Anlagen haben die Klägerinnen ebenfalls in den Prozess eingeführt. Die Klägerinnen haben die Informationen hinreichend genau bezeichnet, weil die als Anlagenkonvolut zu den Akten gereichten Kopien im Falle der Vollstreckung durch den Gerichtsvollzieher ausreichend charakteristische Merkmale (Schlüsselbegriffe, Textstrukturen oder Tabellenaufbauten) aufweisen, die sich bei einem Abgleich mit anderen Schriftstücken zur Identifikation eignen und einer Verwechselung mit anderen Inhalten entgegenstehen. Dass ein Gerichtsvollzieher das jeweilige Schriftstück durchlesen  und mit dem bezeichneten Schriftstück abgleichen muss, hindert die hinreichende Bestimmtheit nicht. Dem vollstreckungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis kann auch Genüge getan sein, wenn die Auffindung der herauszugebenden Gegenstände durch den Gerichtsvollzieher mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden ist. In entsprechender Anwendung der § 813 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 ZPO, § 190 Abs. 3 GVGA kann es geboten sein, eine Unterstützung des Gerichtsvollziehers durch einen von ihm auf Kosten des Schuldners beauftragten Sachverständigen bei Herausgabetiteln zuzulassen, wenn anderenfalls die Vollstreckung unmöglich ist oder unzumutbar erschwert wird. Diesen Anforderungen genügen die mit dem Klageantrag in Bezug genommenen Anwaltsschreiben und die mit diesen Anwaltsschreiben überreichten Anlagen. Soweit die Klägerinnen diese Anlagen im Prozess nur mit weitgehend geschwärzten Angaben überreicht haben, könnte dies der Bestimmtheit entgegenstehen, weil und soweit es für die Identifikation der herauszugebenden Dokumente auf den Inhalt der Informationen ankommt. Nachdem das Berufungsgericht im unstreitigen Tatbestand festgestellt hat, dass die Anlagen aufgrund des beigezogenen Verfügungsverfahrens auch in ungeschwärzter Form Gegenstand des Prozesses sind, stehen die Schwärzungen der Bestimmtheit des Klageantrags nicht entgegen.    

Der Umstand, dass der Klageantrag lediglich auf die zu den Akten gereichten Auskunftsschreiben Bezug nimmt, ohne sie selbst inhaltlich wiederzugeben oder abzubilden, steht der Bestimmtheit des Klageantrags ebenfalls nicht entgegen. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass die Beklagte durch die Bezugnahme auf die Anlage Möglichkeiten ihrer Verteidigung einbüßen würde. Die Unterlagen liegen ihr vor; ihr Inhalt ist ihr bekannt. Allerdings wird zur Zwangsvollstreckung erforderlich sein, die Anlagen mit dem Titel zu verbinden oder im Urteil ihrem Inhalt nach wiederzugeben. Denn Voraussetzung für die Zwangsvollstreckung ist ein hinreichend bestimmter Titel. Hieraus folgt aber kein Bestimmtheitsmangel des Klageantrags. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht ebenso den Antrag auf Löschung als unbestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erachtet. Zur Identifizierung der zu löschenden Inhalte in den betroffenen nicht-physischen Verkörperungen (elektronischen Dateien) reicht die Bezugnahme auf die Auskunftsschreiben, weil diese jedenfalls in ungeschwärzter Form hinreichende Identifikationsmerkmale für den Fall einer Vollstreckung aufweisen. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft den Unterlassungsantrag als unbestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO angesehen. Durch die Bezugnahme auf die Auskunftsschreiben ist hinreichend bestimmt, welche Inhalte Gegenstand der streitgegenständlichen Untersagung sind. Das zuständige Prozessgericht des ersten Rechtszugs kann zur Prüfung einer Zuwiderhandlung auf die beigezogene Verfügungsakte des Landgerichts München I zugreifen. Dort befindet sich nach den Feststellungen eine teilgegraute Version der Anlage. Wie weit das Nutzungsverbot reicht, insbesondere, ob die Informationen von der Beklagten zur Rechtsverteidigung in den von den Klägerinnen gegen sie geführten Auskunfts- und Schadensersatzprozessen genutzt werden dürfen, ist eine Frage des materiellen Rechts und der Begründetheit der Klage, nicht der Bestimmtheit des Klageantrags.

   Kontext der Entscheidung

Der V. Zivilsenat hat in seiner Entscheidung zu den Tonbändern der Kohl-Tagebücher die auch vom IX. Zivilsenat herangezogenen und wörtlich wiederholten Grundsätze zur Herausgabe verkörperter Erklärungen herausgearbeitet. Danach muss in einem Antrag auf Herausgabe von Gegenständen die Beschreibung einerseits so genau sein, dass das Risiko eines Unterliegens des Klägers nicht durch vermeidbare Ungenauigkeit auf den Beklagten abgewälzt wird und dass eine Zwangsvollstreckung aus dem Urteil ohne eine Fortsetzung des Streits im Vollstreckungsverfahren erwartet werden kann. Andererseits führt nicht jede mögliche Unsicherheit bei der Zwangsvollstreckung zur Unbestimmtheit des Klageantrags. Welche Anforderungen an die Konkretisierung des Streitgegenstands in einem Klageantrag zu stellen sind, hängt von den Besonderheiten des anzuwendenden materiellen Rechts und den Umständen des Einzelfalls ab. Die Anforderungen an die Bestimmtheit des Klageantrags sind danach in Abwägung des zu schützenden Interesses des Beklagten, sich gegen die Klage erschöpfend verteidigen zu können, sowie seines Interesses an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der Entscheidungswirkungen mit dem ebenfalls schutzwürdigen Interesse des Klägers an einem wirksamen Rechtsschutz festzulegen (BGH, Urteil vom 10. Juli 2015 – V ZR 206/14 –, Rn. 9 mwN.). Schwierigkeiten bei der Zwangsvollstreckung des auf Herausgabe gerichteten Titels sind für die Bestimmtheit des Antrags ohne Belang. Das Vollstreckungsverfahren dient nicht der Feststellung des zu vollstreckenden Anspruchs, sondern allein der Vollstreckung des im Erkenntnisverfahren festgestellten Anspruchs; lediglich in Zweifelsfällen kann der Inhalt dieses Anspruchs noch im Vollstreckungsverfahren - soweit möglich - im Wege der Auslegung näher bestimmt werden. Eine Verlagerung der Klärung von Fragen, die im Erkenntnisverfahren zu beantworten sind, in das Vollstreckungsverfahren verbietet sich zumal deshalb, weil in den beiden Verfahren unterschiedliche Verfahrensgrundsätze gelten (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 – I ZB 57/10 –, Rn. 13 mwN.). Zudem kann die Unterstützung des Gerichtsvollziehers durch einen von ihm auf Kosten des Schuldners beauftragten Sachverständigen bei Herausgabetiteln zulässig und geboten sein, wenn andernfalls die Vollstreckung unmöglich ist oder unzumutbar erschwert wird. Das gebietet das für den Zivilprozess durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Recht des Gläubigers auf effektiven Rechtsschutz und sein durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistetes Recht auf Schutz des Eigentums (BGH, Beschluss vom 21. September 2017 – I ZB 8/17 –, Rn. 22 mwN.).

   Auswirkungen für die Praxis

Nach § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist der Kläger zum Ersatz desjenigen Schadens verpflichtet, welcher dem Beklagten durch die Vollstreckung eines Urteils oder durch eine zur Abwendung der Vollstreckung gemachte Leistung entstanden ist, wenn ein für vorläufig vollstreckbar erklärtes Urteil aufgehoben oder abgeändert wird. Die Regelung beruht auf dem allgemeinen Rechtsgedanken, dass die Vollstreckung aus einem noch nicht rechtskräftigen Urteil auf Gefahr des Gläubigers erfolgt. Hat der Beklagte aufgrund gerichtlicher Anordnung einen Eingriff in seinen Handlungs- und Vermögensbereich dulden müssen, der sich nach weiterer Überprüfung als unbegründet herausstellt, entspricht es gebotener Risikoverteilung, dass den Schaden aus solcher erlaubter, aber gefahrbeladener Ausübung derjenige trägt, der seine Interessen auf Kosten des anderen verfolgt. Es handelt sich um einen Fall der Gefährdungshaftung, weil die Rechtsfolge an ein ausdrücklich von dem Gesetz erlaubtes Verhalten anknüpft. Ob der Kläger mit einem endgültigen Bestand seines Titels gerechnet hat und rechnen konnte oder nicht, ist unerheblich (BGH, Urteil vom 5. Mai 2011 – IX ZR 176/10 –,Rn. 10 mwN.). Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat § 717 Abs. 2 ZPO auf den allgemeinen Rechtsgedanken zurückgeführt, dass der Gläubiger aus einem noch nicht endgültigen Titel auf eigene Gefahr vollstreckt. Nach einer Aufhebung oder Änderung des nur vorläufigen Urteils, das den Kläger zur vorzeitigen Vollstreckung berechtigte, soll der daraus folgende Schaden des Beklagten aufgrund einer schuldunabhängigen Risikohaftung des Klägers ausgeglichen werden. Die vorläufige Vollstreckbarkeit dient innerhalb des Rechtsmittelsystems, das den Schuldner schützt, dem Interesse des Gläubigers; dessen Haftung aus § 717 Abs. 2 ZPO soll die sich daraus ergebenden unvermeidlichen Nachteile des Schuldners ausgleichen, falls die vorläufige Vollstreckbarkeit außer Kraft gesetzt wird (BGH, Urteil vom 3. Juli 1997 – IX ZR 122/96 –,Rn. 17 mwN.). Im Rahmen der Schadensersatzpflicht nach § 717 Abs. 2 ZPO kann nur die Wiederherstellung des früheren Zustands verlangt werden kann, jedoch keine darüberhinausgehenden Leistungen, worauf der Senat ausdrücklich hinweist (BGH, Urteil vom 21. Dezember 2023 – IX ZR 238/22 –, Rn. 32).

15.1.2024
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BGH: Namenswiedergabe bei beA-Versand genügt

Für die einfache Signatur eines Schriftsatzes gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO genügt es, wenn am Ende des Schriftsatzes der Name des Verfassers maschinenschriftlich wiedergegeben ist

BGH, Beschluss vom 30. November 2023 - III ZB 4/23  

(LG Berlin, Entscheidung vom 06.04.2022 - 28 O 34/19; KG Berlin, Entscheidung vom 09.01.2023 - 9 U 46/22)

Das Problem:

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen ein klageabweisendes Urteil rechtzeitig Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründungsfrist ist zunächst um einen Monat und alsdann im Einvernehmen mit dem Beklagten um eine weitere Woche bis zum 14. Juli 2022 verlängert worden. Die Berufungsbegründung des Klägers ist jedoch erst im Laufe des 15. Juli 2022 beim Berufungsgericht eingegangen. Zuvor war am selben Tag kurz nach zwei Uhr früh ein Antrag des Klägers eingegangen, die Berufungsbegründungsfrist um einen weiteren Tag zu verlängern. Nachdem die Senatsvorsitzende des Berufungsgerichts diesen Antrag abgelehnt hatte, hat es die vom Kläger zudem beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht bewilligt und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrag hatte der Prozessbevollmächtigte vorgebracht, er habe am Abend des 14. Juli 2022 Berufungsbegründungsschriftsätze für das vorliegende sowie für zwei Parallelverfahren fertiggestellt. Anschließend habe er mit dem ansonsten zuverlässig arbeitenden Kanzleidrucker zunächst die beiden Schriftsätze in den Parallelverfahren ausgefertigt und diese mit Anlagen um 22.22 Uhr bzw. 22.30 Uhr erfolgreich per beA an das Berufungsgericht übermittelt. Beim anschließenden Versuch der drucktechnischen Ausfertigung des Berufungsbegründungsschriftsatzes in der vorliegenden Sache gegen 22.30 Uhr habe der Kanzleidrucker den Druckbefehl nicht ausgeführt. Er habe sich um Fehlerbehebung bemüht, was jedoch absehbar bis um 24.00 Uhr nicht zu bewerkstelligen gewesen sei. Er habe deshalb seinen „Back-up-Drucker“ aktiviert. Da zu besorgen gewesen sei, dass die drucktechnische Ausfertigung des umfangreichen Schriftsatzes samt Anlagen mit diesem Drucker vor 24.00 Uhr nicht mehr gelingen würde, habe er einen kurzen Schriftsatz mit der Bitte um eine Fristverlängerung um einen Tag unter Verweis auf die technischen Schwierigkeiten gefertigt, welche die Ausfertigung und Übermittlung verzögert hätten. Dieser Schriftsatz habe allerdings erst um 2.04 Uhr des Folgetages per beA abgesetzt und zugestellt werden können; zuvor am 14. Juli 2022 seien drei Übermittlungsversuche – um 23.46 Uhr, 23.53 Uhr und 23.56 Uhr – aufgrund einer technischen Störung im beA-System gescheitert. Die Berufungsbegründung habe anschließend ebenso wie den Wiedereinsetzungsantrag übermittelt.

Die Entscheidung des Gerichts:

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Der Kläger hat die Berufung nicht innerhalb der bis zum 14. Juli 2022 verlängerten Frist begründet. Mit Recht hat das OLG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung dieser Frist  abgelehnt. Nach § 233 Satz 1 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ist der Partei zuzurechnen (§ 85 Abs. 2 ZPO). Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn nach den glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit offenbleibt, dass die Fristversäumung von der Partei bzw. ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet war. Gemessen daran ist die Versagung der Wiedereinsetzung durch das Berufungsgericht nicht zu beanstanden. Es fehlt bereits an einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung, weswegen es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers in der vorliegenden Sache – nachdem er am 14. Juli 2022 um 22.22 Uhr und um 22.30 Uhr die Berufungsbegründungsschriftsätze in den Parallelverfahren erfolgreich per beA an das Berufungsgericht hatte übermitteln können – ab 22.30 Uhr aus technischen Gründen nicht (mehr) möglich gewesen sein soll, den nach seiner Darlegung zu diesem Zeitpunkt auch schon fertiggestellten Berufungsbegründungsschriftsatz ebenfalls erfolgreich per beA zu versenden, und er noch nicht einmal den Versuch einer Versendung dieses Schriftsatzes unternommen hat. Denn der Umstand, dass sein Drucker ab 22.30 Uhr seinen Dienst versagte, vermag das nicht zu erklären, weil die (erfolgreiche) Übersendung eines Schriftsatzes an ein Gericht per beA eine vorherige „drucktechnische Ausfertigung“ dieses Schriftsatzes nicht voraussetzt. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV iVm. § 130a Abs. 2 Satz 2 ZPO ist ein elektronisches Dokument im Dateiformat PDF zu übermitteln. Zur Herstellung eines Dokuments im PDF-Format ist es nicht notwendig, es zuvor auszudrucken und sodann einzuscannen. Vielmehr lässt sich eine PDF-Datei unmittelbar elektronisch herstellen. Der vorherige Ausdruck des Dokuments ist auch nicht notwendig, um die bei Übermittlung aus dem beA erforderliche einfache Signatur anzubringen. Hierfür ist es nicht erforderlich, das Dokument handschriftlich zu signieren und einzuscannen. Vielmehr genügt für die einfache Signatur die maschinenschriftliche Wiedergabe des Namens des Verfassers am Ende des Textes. Das Berufungsgericht hat es daher zu Recht als „nicht nachvollziehbar dargetan“ angesehen, dass für eine Übermittlung per beA „ein Ausdrucken des Schriftsatzes überhaupt nötig gewesen wäre“.

Dem Prozessbevollmächtigten des Klägers und somit dem Kläger selbst gereicht es daher zum Verschulden, dass am 14. Juli 2022 ab 22.30 Uhr kein einziger Versuch unternommen worden ist, die Berufungsbegründung per beA an das Berufungsgericht zu übermitteln; für das Vorliegen einer technischen Störung des beA zwischen 22.30 Uhr und 23.45 Uhr und damit dafür, dass eine Übermittlung des Schriftsatzes per beA in diesem Zeitraum nicht gelungen wäre, gibt es keinen Anhaltspunkt. Dahinstehen kann, ob am 14. Juli 2022 ab 23.46 Uhr eine technische Störung des beA vorgelegen hat. Denn der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte die letzte Viertelstunde der am 14. Juli 2022 um 24.00 Uhr ablaufenden Berufungsbegründungsfrist nicht für die Übermittlung der Berufungsbegründung vorgesehen. Er hat vielmehr während dieses Zeitraums lediglich versucht, einen nicht erfolgversprechenden Fristverlängerungsantrag per beA an das Berufungsgericht zu schicken. Den am 15. Juli 2022 um 2.04 Uhr formgerecht eingereichten Fristverlängerungsantrag hat die Vorsitzende des Berufungssenats mit der (zutreffenden) Begründung abgelehnt, dass der Antrag erst nach Ablauf der bis zum 14. Juli 2022 verlängerten Frist eingegangen sei. Die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist setzt einen vor Fristablauf gestellten Antrag voraus; die Verlängerung einer bereits verfallenen Frist ist schon begrifflich nicht mehr möglich. Im Übrigen darf der Berufungskläger grundsätzlich nicht darauf vertrauen, dass ihm ohne Einwilligung des Gegners eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bewilligt wird, und infolgedessen ein erfolgversprechender Antrag auf weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht mehr rechtzeitig gestellt werden kann, wenn die Einwilligung nicht vorliegt und nach 23.00 Uhr am letzten Tag der Frist realistischerweise auch nicht mehr zu erlangen ist. Die Ablehnung der Fristverlängerung ist unanfechtbar (§ 225 Abs. 3 ZPO). Soweit der Kläger ausführt, der Wiedereinsetzungsantrag habe sich auf das Fristverlängerungsgesuch bezogen, ist er dahingehend zu bescheiden, dass gegen die Versäumung eines rechtzeitigen Antrags auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich ist.

Konsequenzen für die Praxis:

Das elektronische Dokument muss entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert (= unterschrieben) und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (§ 130a Abs. 3 ZPO). Bei der qualifizierten elektronischen Signatur mittels Chipkarte und Eingabe eines persönlichen Geheimcodes (PIN) ist die Authentizität und Integrität des Dokuments bereits sichergestellt. Bei der einfachen Signatur erfolgt dies erst durch die Verbindung des zu übermittelnden Dokumentes mit dem sicheren Übermittlungsweg, insbesondere dem beA. Die einfache Signatur iSd. § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO meint die einfache Wiedergabe des Namens am Ende des Textes, beispielsweise bestehend aus einem maschinenschriftlichen Namenszug unter dem Schriftsatz oder einer eingescannten Unterschrift. Nicht genügend ist das Wort „Rechtsanwalt“ ohne Namensangabe (BGH, Beschluss vom 7. September 2022 – XII ZB 215/22, MDR 2022, 1362). Auch der maschinengeschriebene Namenszug ist eine Signatur iSd. § 130a Abs. 3 Alt. 2 ZPO, genügt aber nicht zur Authentifizierung, weil keine Unterscheidung zum Entwurf möglich ist. Die einfache Signatur steht der Wirksamkeit nur dann nicht entgegen, wenn ein sicherer Übertragungsweg genutzt wird. Der Übertragungsweg muss dann aber dem Signierenden zugeordnet sein, denn anderenfalls bliebe unklar, ob der Versender auch die Verantwortung für den Inhalt übernimmt oder sich seine Rolle auf die eines Erklärungsboten beschränkt (Radke, jM 2019, 272, 275).  

Beraterhinweis:

Zwar dürfen Fristen bis zu ihrem Ablauf genutzt werden. Jeh näher aber der Fristablauf rückt, desto größer wird die Gefahr für den Rechtsanwalt, auf Schwierigkeiten bei der fristgemäßen Versendung des Schriftsatzes per beA nicht mehr richtig reagieren zu können. Hätte der offenkundig mit der Nutzung des beA überforderte Rechtsanwalt die drei Berufungsbegründungen während der Bürostunden zu versenden versucht, hätte er bei seinem Büropersonal sicherlich leicht Aufklärung über die richtige Handhabung des beA gefunden. Dass der Rechtsanwalt nicht wusste, dass für die von § 130a ZPO Abs. 3 2. Alt ZPO geforderte „Signatur“ keine handschriftliche Unterschrift erfordert, ist nicht entschuldbar: „Der (fahrlässige) Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts über die gesetzlichen Formerfordernisse für die Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels vermag ihn nicht zu entlasten und rechtfertigt erst recht nicht die Gewährung einer Übergangsfrist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss ein Rechtsanwalt die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen.“ (BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2022 – III ZB 18/22 –, MDR 2023, 248).

4.1.2024
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BGH: Zur eigenen Sachkunde des Gerichts

  1. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag.  
  1. Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen.

BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – VII ZR 17/23

Problemstellung

Der VII. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob ein Gericht aufgrund langjähriger Erfahrung die Qualität planerischer Leistungen eines Architekten (Vollständigkeit einer Ausführungsplanung) von sich aus beurteilen darf oder ob es ein Sachverständigengutachten einholen muss.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger verlangt von der Beklagten Architektenhonorar nach den Mindestsätzen der HOAI. Die Beklagte erwarb im Jahr 2013 ein Grundstück, auf dem sich ein als Bürogebäude genutztes Hochhaus und eine Tiefgarage befanden. Der Kläger erbrachte im Einzelnen streitige Planungsleistungen für den auf dem Grundstück vorgesehenen Neu- und Umbau des Gebäudes und zwar für die Teilprojekte: Neubau eines Wohngebäudes für studentisches Wohnen (TP 1), Umbau eines 11-geschoßigen Stahlbetonskelettbaus zum Wohngebäude (TP 2), die Errichtung einer Tiefgarage unter Nutzung von Bestandskellerkonstruktionen (TP 3), die Erstellung von Außenanlagen (TP 4) und die Errichtung von Ingenieurbauwerken außerhalb des Gebäudes, befestigte Straßen und Wege (TP 5). Der Kläger hat vorgetragen, die Beklagte habe ihn mündlich mit der Erbringung der Grundlagenleistungen der Leistungsphasen 1 bis 4 der HOAI (2013) für alle Teilprojekte beauftragt. Anlässlich der Unterzeichnung des zwischen der Beklagten und der O. GmbH geschlossenen Generalunternehmervertrags am 22. September 2015 sei ihm mündlich auch die Ausführungsplanung (Grundleistungen der Leistungsphase 5) für die Teilprojekte 1 und 3 mit der Maßgabe übertragen worden, die erforderlichen Pläne an die Generalunternehmerin zu senden. Eine gesonderte Honorarvereinbarung sei nicht getroffen worden. Mit der letzten korrigierten Honorarrechnung vom 17. März 2019 machte der Kläger unter Zugrundelegung der Mindestsätze der HOAI (2013) und Anrechnung geleisteter Abschlagszahlungen ein Honorar in Höhe von 442.117,55 € brutto nebst Zinsen geltend. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht die Beklagte zur Zahlung von 308.231,15 € nebst Zinsen verurteilt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung des Klägers zurückgewiesen.  

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Berufungsurteil aufgehoben, als zum Nachteil des Klägers entschieden worden ist. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dem Kläger stehe ein Anspruch auf Zahlung eines Honorars nach den Mindestsätzen für erbrachte Grundleistungen der Leistungsphasen 1 bis 4 der HOAI (2013) in Höhe von 281.659,31 € brutto zu. Er habe zudem einen Anspruch auf eine weitere Vergütung in Höhe von 26.571,84 € brutto für Teilleistungen, die er im Rahmen der Ausführungsplanung in der Leistungsphase 5 bei den Teilprojekten 1 und 3 erbracht habe. Soweit der Kläger ein nach den Mindestsätzen berechnetes Honorar für die Erbringung der Grundleistungen der Leistungsphase 5 bei den Teilprojekten 1 bis 3 beanspruche, sei es ihm nicht gelungen, darzulegen und zu beweisen, dass er von den Beklagten in diesem Umfang konkludent beauftragt worden sei. Er habe zwar vorgetragen und durch Vorlage entsprechender Dokumente unter Beweis gestellt, dass er die vollständigen Grundleistungen der Leistungsphase 5 (Ausführungsplanung) für die Teilprojekte 1 und 3 erbracht und hierüber die Beklagte fortlaufend unterrichtet habe. Damit habe der Kläger eine Entgegennahme der Architektenleistung durch die Beklagte behauptet. Allerdings werde aus den von ihm vorgelegten Unterlagen (Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen) nicht deutlich, dass es sich dabei um eine vollständige Ausführungsplanung mit allen für die Ausführung notwendigen Einzelangaben (zeichnerisch und textlich) auf der Grundlage der Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis zur ausführungsreifen Lösung als Grundlage für die weiteren Leistungsphasen handele. Es fehle der Nachweis, dass die von dem Kläger für die Leistungsphase 5 erstellten Ausführungspläne so detailliert ausgearbeitet und vermessen seien, dass aus den Zeichnungen die Mengen und Massen hätten ermittelt werden können, um damit die jeweiligen Bauleistungen umsetzen zu können. Diese Beurteilung sei dem Berufungsgericht aufgrund eigener Sachkunde möglich, weshalb es der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht bedürfe.    

Mit dieser Begründung verletzt das Berufungsgericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe einen konkludenten Vertragsschluss über die Erbringung der Grundleistungen der Leistungsphase 5 für die Teilprojekte 1 und 3 nicht nachgewiesen, beruht auf einer unzureichenden Sachaufklärung (§ 286 ZPO), die zugleich das rechtliche Gehör des Klägers verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG). Zwar handelt es sich bei der Frage, in welchem Umfang der Kläger mit der Erbringung der Grundleistungen der Leistungsphase 5 beauftragt wurde, um eine vom Berufungsgericht vorzunehmende Rechtsprüfung. Für die Würdigung der Gesamtumstände war für das Berufungsgericht allerdings von Bedeutung, ob der Kläger die vollständigen Grundleistungen der Leistungsphase 5 (Ausführungsplanung) für die Teilprojekte 1 und 3 erbracht hat. Diese Beurteilung betrifft eine Fachwissen voraussetzende Frage, deren Klärung einem Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zugänglich ist. Dies folgt aus den verwendeten fachsprachlichen Begriffen, aus dem Erfordernis der "notwendigen zeichnerischen und textlichen Einzelangaben", aus der vorgeschriebenen Gestaltung der Zeichnungen nach "Art und Größe des Objekts im erforderlichen Umfang und dem Detaillierungsgrad unter Berücksichtigung aller fachspezifischen Anforderungen", sowie aus der Koordinations- und Integrationspflicht, deren Erfüllung Kenntnisse der beteiligten Gewerke voraussetzt. Das Berufungsgericht hat sich gehörswidrig über den Antrag des Klägers auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob er die Grundleistungen der Leistungsphase 5 erbracht hat, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag. Das Berufungsgericht durfte den Beweisantrag auf Einholung des nicht unter Hinweis auf eine eigene Sachkunde ablehnen. Es hat keine Sachkunde aufzuweisen vermocht, die es zur Beurteilung befähigen könnte, ob die für das Bauobjekt vorgelegten Pläne den technischen Anforderungen genügen, die an die in der Leistungsphase 5 zu erbringende Ausführungsplanung zu stellen sind. Allein eine längere Tätigkeit in einem Bausenat kann nicht ohne weiteres zuverlässige Kenntnisse über das - für die Prüfung der vorgelegten Ausführungsplanung auf Vollständigkeit - erforderliche bautechnische Fachwissen verschaffen.

Das Berufungsgericht hat zudem den Parteien keinen dokumentierten Hinweis erteilt, dass es die Frage nach der Vollständigkeit der erbrachten Leistungen aufgrund eigener Sachkunde entscheiden will. Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung hat es den Parteien gehörswidrig keine Gelegenheit gegeben, zu den Grundlagen seiner Sachkunde Stellung zu nehmen. Vielmehr hat das Berufungsgericht - ohne Gewährung der von dem Kläger beantragten Frist zur schriftlichen Stellungnahme - die angefochtene Entscheidung nach Wiederaufruf der Sache am Ende des Sitzungstags verkündet (§ 310 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 ZPO).  

Ein weiterer Gehörsverstoß des Berufungsgerichts ist in der fehlenden Einräumung der Gelegenheit zur Stellungnahme auf den in der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2022 erteilten Hinweis zu sehen, wonach die vom Kläger vorgelegten Planungsleistungen den Anforderungen, die an die Grundleistungen der Leistungsphase 5 zu stellen seien, nicht genügen. Neben der Erteilung eines Hinweises auf die geänderte rechtliche Einschätzung hätte das Berufungsgericht dem Kläger Gelegenheit geben müssen, auf den für ihn überraschenden Hinweis zu reagieren und seinen Tatsachenvortrag zu ergänzen. Nur auf diese Weise wäre das rechtliche Gehör des Klägers, zu dem neuen rechtlichen Gesichtspunkt Stellung nehmen zu können, gewahrt worden. Stattdessen hat das Berufungsgericht gehörswidrig seinen Antrag zur Stellungnahme auf den Hinweis abgelehnt und nach Schluss der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung erlassen. Auf den Verletzungen des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör beruht das angefochtene Urteil. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei gebotener Berücksichtigung der aufgezeigten Gesichtspunkte zu einem für ihn günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

Kontext der Entscheidung

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH darf der Richter, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen. Dies gilt auch, wenn der Tatrichter auf ein Sachverständigengutachten verzichten will, weil er es auf Grundlage eigener Sachkunde für ungeeignet hält (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17 –, Rn. 16, mwN.). Verfahrensfehlerhaft ist es, den Parteien keine Gelegenheit  zu geben hat, zu der beanspruchten Sachkunde Stellung zu nehmen. Auch bei der Überzeugungsbildung muss das Gericht  die entsprechende Sachkunde ausweisen müssen. Auch längere Tätigkeit in einem Bausenat verschafft nicht ohne weiteres zuverlässige Kenntnisse über eine seltene Spezialkonstruktion im Brückenbau (BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 – VII ZR 231/95 –, Rn. 8 - 9). An diesen Grundsätzen hat auch die obligatorische Einführung von Spruchkörpern für Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen sowie aus Ingenieurverträgen, soweit sie im Zusammenhang mit Bauleistungen stehen, gemäß § 72a Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 119a Abs. 1 Nr. 2 GVG nichts geändert.

Auswirkungen für die Praxis

Besondere Anforderungen stellt die Rechtsprechung an den Vortrag der beweisbelasteten Partei in der Berufungsinstanz, wenn das Gericht verfahrensrechtswidrig eine Beweisaufnahme ablehnt. Hält das Berufungsgericht den Vortrag der beweisbelasteten Partei für „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt und lehnt es deshalb die beantragte Beweiserhebung als Ausforschungsbeweis ab, muss die betroffene Partei das Gericht auf von ihm bislang nicht beachteten höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätze zur Substantiierung von Beweisbehauptungen hinweisen. Danach kommt die Zurückweisung einer beantragten Zeugenvernehmung wegen Ungeeignetheit des Beweismittels nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass diese Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann; weder die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache noch die Unwahrscheinlichkeit der Wahrnehmung der Tatsache durch den benannten Zeugen berechtigen den Tatrichter schon dazu, von der Beweisaufnahme abzusehen (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2018 – XII ZR 99/17). Unterlässt die betroffene Partei diese „Aufklärung“ des Gerichts, kommt eine Zulassung der Revision wegen des dem Berufungsgericht unterlaufenen Gehörsverstoßes nicht in Betracht, wenn es die Partei versäumt hat, im Rahmen der ihr eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken. Eine Partei ist in der Revisionsinstanz dann wegen des allgemeinen Grundsatzes der Subsidiarität daran gehindert, die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung geltend zu machen (BGH, Beschl. v. 28.01.2020 - VIII ZR 57/19; kritisch dazu: L. Jaeger, jM 2020, 280).

2.1.2024
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BGH: Unwirksame Abnahmeklausel im Bauträgervertrag

  1. Eine von einem Bauträger in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Erwerbsvertrags verwendete Klausel, die die Abnahme des Gemeinschaftseigentums durch eine von ihm als Erstverwalter bestimmte, mit ihm wirtschaftlich verbundene (Tochter-)Gesellschaft ermöglicht, ist unwirksam.
  2. Macht eine Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE) als Prozessstandschafterin der Erwerber Mängelansprüche wegen Mängeln an der Bausubstanz des Gemeinschaftseigentums gegen den Bauträger geltend, so ist es diesem als Verwender der genannten unwirksamen Formularklausel nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich darauf zu berufen, dass sich der Vertrag mangels wirksamer Abnahme des Gemeinschaftseigentums insoweit noch im Erfüllungsstadium befinde, weshalb im Rahmen der Anspruchsbegründung die Abnahme des Gemeinschaftseigentums als Voraussetzung für die Geltendmachung von Mängelansprüchen zu unterstellen ist.
  3. Zur Frage, ob ein rechtsmissbräuchliches widersprüchliches Verhalten einer GdWE vorliegt, wenn diese - als Prozessstandschafterin der Erwerber - in der Vergangenheit zweimal Mängelansprüche wegen Mängeln an der Bausubstanz des Gemeinschaftseigentums geltend gemacht hat, die von dem in Anspruch genommenen Bauträger jeweils reguliert wurden, und sie sich später bei der klageweisen Geltendmachung weiterer Mängelansprüche gegenüber der vom Bauträger erhobenen Einrede der Verjährung auf das Fehlen einer wirksamen Abnahme des Gemeinschaftseigentums beruft.

BGH, Urteil vom 9. November 2023 – VII ZR 241/22

Problemstellung

Der VII. Zivilsenat hatte sich erneut mit den Rechtsfolgen (unwirksamer) Abnahmeklauseln in Bauträgererwerbsverträgen zu befassen, die eine Abnahme durch "im Lager des Bauträgers" stehenden Personen zu Lasten der Erwerber vorsehen.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin, eine Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE), macht Mängelansprüche wegen angeblicher Mängel der im Gemeinschaftseigentum stehenden Bausubstanz gegen die Beklagte geltend. Die betreffende Anlage ist in den Jahren 2005 und 2006 von der Rechtsvorgängerin der Beklagten errichtet worden, die alle Eigentumswohnungen noch im Jahr 2005 verkaufen konnte. Für die "Übergabe/Abnahme des gemeinschaftlichen Eigentums" beauftragte und bevollmächtigte der Käufer unwiderruflich den Verwalter (§ 7 Abs. 5 Satz 1), bei dem es sich um eine Tochtergesellschaft der Rechtsvorgängerin der Beklagten handelte (§ 11 Abs. 1). In einem exemplarisch vorgelegten undatierten Kaufvertrag späterer Erwerber heißt es: "Die Abnahme des gemeinschaftlichen Eigentums erfolgte durch den Verwalter - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen - im Mai 2005." Im Jahr 2007 rügte die Klägerin Planungs- und Ausführungsmängel im Bereich der Dach- und Balkonentwässerung. Diese wurden auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen der Beklagten, dem Generalbauunternehmer und dem planenden Architekturbüro beseitigt. Weitere Mängel rügte die Klägerin im Jahr 2012; bezüglich dieser Mängel kam es zum Abschluss eines Vergleichs zwischen der Beklagten und der Klägerin, der im Jahr 2013 abgewickelt wurde. Am 20. April 2014 wurde auf einer Eigentümerversammlung die Unwirksamkeit der Abnahme des Gemeinschaftseigentums "festgestellt". In der Folge wandten sich einzelne Mitglieder der Klägerin und auch deren Verwalterin mit Mängelrügen und der Forderung nach einer Abnahme an die Beklagte. Die Beklagte stellte Mängel in Abrede und berief sich auf Verjährung. Ein Vergleichsangebot der Beklagten vom 21. September 2017 nahm die Klägerin nicht an. Auf einer Eigentümerversammlung vom 27. November 2018 wurde beschlossen, dass die Ausübung der Nacherfüllungs- und Mängelansprüche der Wohnungseigentümer als Erwerber gegen die Beklagte am gemeinschaftlichen Eigentum mit Ausnahme des großen Schadensersatzes und des Rücktritts auf die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer übertragen wird.    

Nach weiteren vergeblichen Aufforderungen zur Mängelbeseitigung hat die Klägerin mit einem am 2. Juni 2020 eingegangenen Schriftsatz Klage eingereicht, mit der die Zahlung eines Kostenvorschusses zur Mängelbeseitigung in Höhe von 580.933,83 € und wegen verschiedener Positionen Schadensersatz verlangt wird. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Die Klage sei mit allen Anträgen unbegründet. Mit dem auf Kostenvorschuss nach § 637 Abs. 3 BGB gerichteten Klageantrag zu 1 mache die Klägerin eines der in § 634 BGB vorgesehenen werkvertraglichen Mängelrechte des Bestellers geltend. Sofern ein solcher Anspruch bestehen sollte, wäre er verjährt. Mängelrechte nach § 634 BGB stünden dem Besteller grundsätzlich erst nach der Abnahme des Werkes zu. An einer solchen fehle es zwar, sie sei jedoch zugunsten der Klägerin zu unterstellen. Wann und wie das Gemeinschaftseigentum abgenommen worden sei, sei nicht vorgetragen. Die Erwerbsverträge sähen eine Abnahme durch den unwiderruflich seitens des Käufers bevollmächtigten Verwalter vor, bei dem es sich unstreitig um eine mit der Bauträgerin wirtschaftlich verbundene Gesellschaft gehandelt habe. Eine solche Abnahmeregelung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sei unwirksam. Eine - wie offenkundig hier - auf dieser Grundlage erfolgte Abnahme sei es dann auch. Ob eine andere Form der Abnahme an ihre Stelle getreten oder eine Abnahme ausnahmsweise entbehrlich sei, könne in diesem Zusammenhang offenbleiben. Soweit nämlich eine Abnahme Voraussetzung für die Geltendmachung von Mängelrechten sei, sei es der Beklagten als Verwenderin der unwirksamen Formularklausel nach Treu und Glauben verwehrt, sich darauf zu berufen, dass sich der Vertrag mangels Abnahme des Gemeinschaftseigentums insoweit noch im Erfüllungsstadium befinde. Im Rahmen der Anspruchsbegründung sei die Abnahme somit zugunsten der Klägerin zu unterstellen.  

Davon zu unterscheiden sei die Frage, wie sich das Fehlen der Abnahme im Rahmen der Verjährung auswirke. Insoweit sei eine Abnahme spätestens im Jahr 2013 - nun zu Lasten der Klägerin - zu unterstellen mit der Folge, dass der Anspruch bei Klageerhebung bereits verjährt gewesen sei. Nach welchen Voraussetzungen sich die Verjährung von Ansprüchen des Erwerbers gegen den Bauträger aus einem Bauträgervertrag richte, lasse sich nicht einheitlich beantworten. Für alle mit der Errichtung des Gebäudes zusammenhängenden Leistungen gelte Werkvertragsrecht. Der werkvertragliche Anspruch auf Herstellung unterliege der dreijährigen Regelverjährung des § 195 BGB ab dem Schluss des Jahres, in dem er entstanden sei (§ 199 Abs. 1 BGB). Daneben bestünden Gewährleistungsansprüche des Erwerbers gegen den Bauträger. Im Streitfall stehe allein die mangelhafte Bauleistung in Rede, für die Werkvertragsrecht gelte. Die werkvertragliche Gewährleistung ergebe sich aus § 634 BGB. Ihre Verjährung beginne grundsätzlich mit der Abnahme des Werks, die Frist betrage bei einem Bauwerk fünf Jahre (§ 634a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB). Da die Entstehung und Verjährung der werkvertraglichen Ansprüche unterschiedlich geregelt seien, falle grundsätzlich auch das Ende ihrer Verjährung auseinander. Es könne sogar dazu kommen, dass der Erfüllungsanspruch verjährt sei, bevor das Werk abgenommen sei und damit die Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn der Gewährleistungsansprüche geschaffen worden seien. Ein solcher Fall liege hier vor. Der Erfüllungsanspruch aller Mitglieder der Klägerin sei zweifelsfrei verjährt. Alle Verträge der Bauträgerin mit den Erwerbern datierten aus dem Jahre 2005. Die taggenaue Verjährungshöchstfrist von zehn Jahren nach § 199 Abs. 4 BGB habe durchweg im Laufe des Jahres 2015 geendet. Nach wie vor fehle es aber an einer Abnahme. Die sich in einem solchen Fall stellende Frage, ob trotz fehlender Abnahme auch Ansprüche auf Gewährleistung verjährt seien oder ob der Auftragnehmer die Gewährleistung wiederaufleben lassen könne, indem er Abnahme verlange und damit erst die Verjährungsfrist des § 634a BGB in Gang setze, müsse nicht grundsätzlich entschieden werden. Im vorliegenden Fall sei nämlich die Abnahme des Gemeinschaftseigentums im Rahmen der Verjährung zu Lasten der Klägerin zu unterstellen. Dies ergebe sich zwar nicht aus der Ingebrauchnahme der Wohnungseigentumsanlage durch die Mitglieder der Klägerin. Die Parteien hätten die Unwirksamkeit der Abnahmeregelung nicht erkannt und seien deshalb von einer wirksam erfolgten Abnahme ausgegangen. Damit habe die Ingebrauchnahme des Gemeinschaftseigentums durch die Erwerber keinen eigenen Abnahmewillen zum Ausdruck gebracht. Jedoch habe die Klägerin in der Vergangenheit bereits zweimal erfolgreich Gewährleistungsansprüche geltend gemacht. Bereits bei der ersten Beanstandung sei das Gemeinschaftseigentum übergeben und - vermeintlich - abgenommen gewesen. Die nun erhobenen Mängelrügen müssten als Ausübung von Gewährleistungsansprüchen verstanden werden. Es wäre fernliegend, sie noch als Geltendmachung des Erfüllungsanspruchs anzusehen. Daraus folge aber auch, dass die Parteien bei der Regulierung der Mängelrügen übereinstimmend von einer bereits erfolgten Abnahme ausgegangen seien. Ohne Abnahme könnten Mängelrechte nach § 634 Nr. 2 bis 4 BGB nur geltend gemacht werden, wenn der Besteller nicht mehr die Erfüllung des Vertrags verlangen könne und das Vertragsverhältnis in ein Abrechnungsverhältnis übergegangen sei. Ein solcher Fall liege hier nicht vor. Die Beklagte habe die Annahme der Klägerin, das Gemeinschaftseigentum sei abgenommen, gegen sich gelten lassen. Wäre es zum Rechtsstreit gekommen, wäre die Klägerin mit ihrem Gewährleistungsbegehren nur durchgedrungen, wenn sie auf eine erfolgte Abnahme hätte verweisen können oder der Beklagten verwehrt worden wäre, sich auf das Fehlen der Abnahme zu berufen und die Abnahme zugunsten der Klägerin unterstellt worden wäre. Vor diesem Hintergrund widerspräche es Treu und Glauben (§ 242 BGB), wenn sich die Klägerin darauf berufen könnte, es fehle an einer Abnahme. Sie verhielte sich widersprüchlich. Sie habe in den Jahren 2007/2008 und 2012/2013 aus der übereinstimmenden Auffassung der Parteien, dass es eine Abnahme gegeben habe, einen Vorteil gezogen und Ansprüche durchgesetzt, die zwingend eine Abnahme zur Voraussetzung gehabt hätten. Es wäre mit Treu und Glauben nicht vereinbar, wenn die Klägerin nun Ansprüche geltend machen könnte, die nur noch durchsetzbar wären, wenn es an einer Abnahme fehle. Die Klägerin habe den aus einer Abnahme folgenden rechtlichen Vorteil in Anspruch genommen. Dann müsste sie auch den mit der Abnahme einhergehenden Nachteil tragen. Sei zu Lasten der Klägerin von einer spätestens im Jahr 2013 erfolgten Abnahme auszugehen, so folge daraus die Verjährung ihrer Ansprüche aus Gewährleistung spätestens im Laufe des Jahres 2018 (§ 634a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB). Die Klage habe die Verjährung nicht mehr hemmen können. Die Klageanträge zu 3 bis 6 könnten ebenfalls keinen Erfolg haben, weil auch sie ausschließlich auf Gewährleistung gegründet seien. Sie seien aus den dargelegten Gründen verjährt (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18. November 2022 – 1 U 42/21).  

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Rechtsfehlerfrei allerdings hat das Berufungsgericht angenommen, dass sich die von der Klägerin geltend gemachten Mängelansprüche nach Werkvertragsrecht richten. Auch die Annahme des Berufungsgerichts, die von der Beklagten gestellte formularmäßige Regelung bezüglich der Abnahme des Gemeinschaftseigentums sei ebenso wie die auf dieser Grundlage erfolgte Abnahme unwirksam, lässt keine Rechtsfehler erkennen. Entsprechendes gilt für die Annahme des Berufungsgerichts, der Beklagten sei es als Verwenderin der unwirksamen Formularklausel nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich darauf zu berufen, dass sich der Vertrag mangels wirksamer Abnahme des Gemeinschaftseigentums insoweit noch im Erfüllungsstadium befinde, weshalb im Rahmen der Anspruchsbegründung die Abnahme des Gemeinschaftseigentums als Voraussetzung für die Geltendmachung von Mängelansprüchen zugunsten der Klägerin zu unterstellen sei.  

Der rechtlichen Nachprüfung nicht stand hält jedoch die weitere Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Verjährung sei eine Abnahme des Gemeinschaftseigentums spätestens im Jahr 2013 - nun zu Lasten der Klägerin - zu unterstellen mit der Folge, dass die mit der Klage geltend gemachten (Mängel-) Ansprüche bei Klageerhebung bereits verjährt gewesen seien, weil es der Klägerin wegen widersprüchlichen Verhaltens unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt sei, sich im Rahmen der Verjährung auf das Fehlen der Abnahme berufen zu dürfen. Die im Einzelfall vorzunehmende wertende Betrachtung der Gesamtumstände unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB obliegt zwar in erster Linie dem Tatgericht, kann aber vom Revisionsgericht eingeschränkt daraufhin überprüft werden, ob das Tatgericht die maßgeblichen Tatsachen vollständig festgestellt und gewürdigt und ob es die allgemein anerkannten Maßstäbe berücksichtigt und richtig angewandt hat. Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält das Berufungsurteil nicht stand. Nicht jeder Widerspruch zwischen zwei Verhaltensweisen ist als unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) zu werten. Vielmehr ist widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium) dann rechtsmissbräuchlich, wenn das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen. Ist durch das frühere Verhalten einer Partei kein schutzwürdiges Vertrauen der Gegenpartei begründet worden, ist ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht zu ziehen, etwa bei einem unlösbaren Widerspruch zwischen früherer und späterer Rechtsausübung. Nach diesen Grundsätzen kann ein im Sinne des § 242 BGB rechtsmissbräuchliches widersprüchliches Verhalten der Klägerin nicht angenommen werden. Soweit die Klägerin zunächst in den Jahren 2007 und 2012 - als Prozessstandschafterin der Erwerber - mehrfach Mängelansprüche wegen Mängeln der Dach- und Balkonentwässerung geltend gemacht hat, die von der Beklagten jeweils reguliert wurden, und sich später bei der klageweisen Geltendmachung weiterer Mängelansprüche gegenüber der von der Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung auf das Fehlen einer wirksamen Abnahme des Gemeinschaftseigentums berufen hat, resultiert hieraus bereits keine sachliche Unvereinbarkeit zwischen dem früheren und dem späteren Verhalten. Denn das Verhalten der Klägerin ist vor dem Hintergrund der von der Beklagten gestellten Formularklausel zur Abnahme des Gemeinschaftseigentums und unter Berücksichtigung der Schutzrichtung der Inhaltskontrolle zu würdigen. Die genannte Formularklausel wirkt sich für die betroffenen Erwerber - und damit auch für die als deren Prozessstandschafterin agierende Klägerin - einerseits (bezüglich der Voraussetzungen für die Geltendmachung von Mängelansprüchen, insbesondere Kostenvorschussansprüchen) günstig und andererseits (bezüglich des Beginns der Verjährung der Mängelansprüche) ungünstig aus; die Inhaltskontrolle dient ausschließlich dem Schutz des Vertragspartners des Verwenders, nicht dem Schutz des Verwenders. Vor diesem Hintergrund kann angesichts der erörterten Klauselambivalenz und der Schutzrichtung der Inhaltskontrolle bereits eine sachliche Unvereinbarkeit zwischen dem früheren und dem späteren Verhalten der Klägerin nicht angenommen werden. Im Übrigen ist durch das frühere Verhalten der Klägerin im Zusammenhang mit der Geltendmachung von Mängelansprüchen in den Jahren 2007 und 2012 ebenso wenig wie durch die Regulierung dieser Ansprüche ein vorrangig schutzwürdiges Vertrauen der Beklagten dahingehend begründet worden, dass sich die Klägerin bei etwaiger erneuter späterer Geltendmachung von Mängelrechten nach Ablauf eines Zeitraums, der die Frist des § 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB übersteigt, gegenüber der von der Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung nicht auf das Fehlen einer wirksamen Abnahme des Gemeinschaftseigentums berufen würde. Die Interessen der Beklagten erscheinen insoweit im Hinblick darauf, dass sie als Verwenderin der Formularklausel für den Nichtbeginn der Verjährung (vgl. § 634a Abs. 2 BGB) hinsichtlich der auf Mängel an der Bausubstanz des Gemeinschaftseigentums bezogenen Mängelansprüche verantwortlich ist, und im Hinblick darauf, dass sie im Antwortschreiben vom 3. September 2015 an die Verwalterin für eine erneute Abnahme des Gemeinschaftseigentums im Hinblick auf die bereits zuvor angeblich wirksam erfolgte Abnahme keinen Raum sah, nicht vorrangig schutzwürdig.    

Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO) dar. Ohne Erfolg macht die Beklagte geltend, sie dürfe dem Begehren der Klägerin die Einrede der Verjährung entgegenhalten, nachdem die Verjährungshöchstfrist des § 199 Abs. 4 BGB im Hinblick auf den Erfüllungsanspruch aus § 631 Abs. 1 BGB angeblich spätestens mit dem Ende des Jahres 2015 abgelaufen sei. Es kann dahinstehen, ob und gegebenenfalls wann die genannte Verjährungshöchstfrist abgelaufen ist. Des Weiteren kann hier offenbleiben, ob und welchen Einfluss ein Ablauf der Verjährungshöchstfrist bezüglich des Erfüllungsanspruchs grundsätzlich auf die Verjährung von Mängelansprüchen hat. Im Rahmen der gegen die geltend gemachten Mängelansprüche erhobenen Verjährungseinrede könnte die Beklagte jedenfalls aus AGB-rechtlichen Gründen den angeblichen Ablauf der Verjährungshöchstfrist bezüglich des Erfüllungsanspruchs nicht mit Erfolg geltend machen. Wie bereits erörtert, ist es der Beklagten als Verwenderin der unwirksamen Formularklausel nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich darauf zu berufen, dass sich der Vertrag mangels wirksamer Abnahme des Gemeinschaftseigentums insoweit noch im Erfüllungsstadium befinde; die Klägerin kann trotz der nicht wirksam erklärten Abnahme des Gemeinschaftseigentums Mängelansprüche gegen die Beklagte geltend machen.

Kontext der Entscheidung

Der VII. Zivilsenat hat bereits entschieden, dass sich Ansprüche der Erwerber wegen Mängeln an neu errichteten Häusern oder Eigentumswohnungen bei nach dem Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes geschlossenen Bauträgerverträgen weiterhin grundsätzlich nach Werkvertragsrecht richten und die von einem Bauträger in einem Erwerbsvertrag gegenüber Nachzügler-Erwerbern gestellten Formularklauseln "Die Abnahme des Gemeinschaftseigentums ist durch das Ingenieurbüro K. … am … erfolgt. Die Verjährungsfrist für Ansprüche und Rechte wegen Mängeln am Gemeinschaftseigentum läuft für den Käufer zum selben Termin ab wie für diejenigen Käufer, welche die gemeinschaftliche Abnahme durchgeführt haben" unwirksam sind (BGH, Urteil vom 12. Mai 2016 – VII ZR 171/15 –, Rn. 43 mwN.; dazu: Thode, jurisPR-PrivBauR 12/2016 Anm. 1). Dem Bauträger ist es als Verwender dieser von ihm gestellten, unwirksamen Formularklauseln nach Treu und Glauben verwehrt, sich darauf zu berufen, dass sich der Vertrag noch im Erfüllungsstadium befinde und deshalb ein Anspruch aus § 637 Abs. 3 BGB nicht bestehe (BGH, Urteil vom 12. Mai 2016 – VII ZR 171/15 –, Rn. 57 mwN.). Diese Grundsätze sind in ständiger Rechtsprechung bestätigt worden. So ist vom Senat eine von einem Bauträger in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Erwerbsvertrags verwendete Klausel, die die Abnahme des Gemeinschaftseigentums durch den Bauträger selbst als Erstverwalter ermöglicht, für unwirksam erklärt worden (BGH, Urteil vom 30. Juni 2016 – VII ZR 188/13 –, Rn. 22). Eine von einem Bauträger in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Erwerbsvertrages verwendete Klausel, die die nach Entstehen der werdenden Wohnungseigentümergemeinschaft und Abnahme des Gemeinschaftseigentums vertragschließenden Erwerber ("Nachzügler") an eine durch frühere Erwerber bereits erfolgte Abnahme des Gemeinschaftseigentums bindet, ist wegen mittelbarer Verkürzung der Verjährung gemäß § 309 Nr. 8 lit. b ff BGB unwirksam (BGH, Urteil vom 25. Februar 2016 – VII ZR 49/15 –, Rn.37; dazu: Thode, jurisPR-PrivBauR 7/2016 Anm. 2). Dem Bauträger ist es als Verwender dieser von ihm gestellten, unwirksamen Formularklausel nach Treu und Glauben verwehrt, sich darauf zu berufen, dass der Vertrag sich noch im Erfüllungsstadium befinde und deshalb ein Anspruch aus § 637 Abs. 3 BGB nicht bestehe (BGH, Urteil vom 25. Februar 2016 – VII ZR 49/15 –, Rn.41). Diese Grundsätze hat auch das Berufungsgericht nicht verkannt. Es hat jedoch gemeint, „es wäre mit Treu und Glauben nicht vereinbar, wenn die Klägerin nun Ansprüche geltend machen könnte, die nur noch durchsetzbar wären, wenn es an einer Abnahme fehlt. Die Klägerin hatte den aus einer Abnahme folgenden rechtlichen Vorteil in Anspruch genommen. Dann muss sie auch den mit der Abnahme einhergehenden Nachteil tragen.“ (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18. November 2022 – 1 U 42/21 –, Rn. 47). Dem tritt der BGH entgegen, indem es den Anwendungsbereich des § 242 BGB für Konstellationen dieser Art wesentlich enger sieht: „Nicht jeder Widerspruch zwischen zwei Verhaltensweisen ist als unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) zu werten. Vielmehr ist widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium) dann rechtsmissbräuchlich, wenn das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen. Ist durch das frühere Verhalten einer Partei kein schutzwürdiges Vertrauen der Gegenpartei begründet worden, ist ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht zu ziehen, etwa bei einem unlösbaren Widerspruch zwischen früherer und späterer Rechtsausübung.“ (BGH, Urteil vom 9. November 2023 – VII ZR 241/22 –, Rn. 39, mwN.). Entscheidend sind letztlich die Umstände des jeweiligen Einzelfalls (BGH, Beschluss vom 28. Juli 2015 – XII ZB 508/14 –, Rn. 12, mwN.). Es verbleibt dabei bei der Bewertung, dass der BGH für „Bauträgerverträge, die eine unwirksame Abnahmeklausel enthalten, mit dem missglückten Versuch, den Fall mit Hilfe der Generalklausel des § 242 BGB zu lösen, zur Ausweitung der bestehenden Rechtsunsicherheit beigetragen hat. Einzelfallentscheidungen, die mit der Generalklausel des § 242 BGB begründet werden, sind eine unzureichende Grundlage für die Beurteilung des Prozessrisikos.“ (Thode, jurisPR-PrivBauR 7/2016 Anm. 2).

Auswirkungen für die Praxis

Offen bleibt nach wie vor die Frage, welche Auswirkungen die Verjährung des Erfüllungsanspruchs des § 631 Abs. 1 BGB auf die Mängelansprüche des § 634 BGB hat. Das Offenlassen dieser Frage begründet der Senat mit der Erwägung, im Rahmen der gegen die geltend gemachten Mängelansprüche erhobenen Verjährungseinrede könnte die Beklagte jedenfalls aus AGB-rechtlichen Gründen den angeblichen Ablauf der Verjährungshöchstfrist bezüglich des Erfüllungsanspruchs nicht mit Erfolg geltend machen (BGH, Urteil vom 9. November 2023 – VII ZR 241/22 –, Rn. 45). In der Instanzrechtsprechung ist dazu die Auffassung vertreten worden, dem geltenden Recht sei es fremd, dass eine zunächst eingetretene Verjährung des Erfüllungsanspruches mit der Abnahme oder einem ihr gleichstehenden Ereignis beseitigt wäre und der Besteller nun Gewährleistungsrechte (doch) wieder binnen weiterer fünf Jahre geltend machen könnte. Ein derartiges Unterlaufen der Verjährung durch ein einseitiges und dem Willen des Unternehmers widersprechendes Verhalten des Bestellers müsse als nicht möglich angesehen werden (OLG Rostock, Teilurteil vom 2. Februar 2021 – 4 U 70/19 –, Rn. 78; ebenso: OLG Köln, Urteil vom 21. August 2020 – I-19 U 5/20 -, Rn. 42ff.). Dem ist das OLG Schleswig als Berufungsgericht jedoch mit der richtigen Erwägung entgegengetreten, dass die in § 199 Abs. 4 BGB geregelte Verjährungshöchstfrist nur für vertragliche Primärleistungsansprüche gilt, worunter zwar der Erfüllungsanspruch fällt, nicht aber der Anspruch auf Nacherfüllung, bei dem es sich um einen Sekundärleistungsanspruch handelt (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18. November 2022 – 1 U 42/21 –, Rn. 38; ebenso: Praun, jurisPR-PrivBauR 2/2021 Anm. 5).  

28.12.2023
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BGH: Zum Schadensersatzanspruch in der werkvertraglichen Leistungskette

1. In der werkvertraglichen Leistungskette kann der Hauptunternehmer gegenüber dem Nachunternehmer gemäß § 634 Nr. 4 BGB in Verbindung mit § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB den Schaden ersetzt verlangen, der ihm dadurch entsteht, dass er wegen der mangelhaften Werkleistung des Nachunternehmers seinerseits Mängelansprüchen seines Bestellers ausgesetzt ist. Hat der Hauptunternehmer in diesem Fall einen vom Besteller geltend gemachten Anspruch auf Kostenvorschuss gemäß § 634 Nr. 2, § 637 Abs. 3 BGB durch Zahlung erfüllt, kann er im Wege des Schadensersatzes gemäß § 634 Nr. 4 BGB in Verbindung mit § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB vom Nachunternehmer Zahlung in Höhe des geleisteten Kostenvorschusses verlangen.

2. Der Umstand, dass der vom Hauptunternehmer ersetzt verlangte Schaden darin liegt, dass er mit dem Kostenvorschuss noch keine endgültige, sondern eine zweckgebundene Zahlung an seinen Besteller geleistet hat, über deren Verwendung nach Mängelbeseitigung abzurechnen ist, ist allerdings im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen und kann zu einer Begrenzung des Umfangs seines Schadensersatzanspruchs gegen den Nachunternehmer führen.

Ob und in welcher Weise die Vorteilsausgleichung zu erfolgen hat, richtet sich im Grundsatz danach, ob der Besteller dem Hauptunternehmer bereits eine Abrechnung über die Verwendung des Kostenvorschusses erteilt hat.

a. Hat der Besteller dem Hauptunternehmer noch keine Abrechnung erteilt, kann der Nachunternehmer im Wege des Zurückbehaltungsrechts gemäß § 273 BGB durchsetzen, dass der Schadensersatz an den Hauptunternehmer in entsprechender Anwendung des § 255 BGB nur Zug um Zug gegen Abtretung der aus der Vorschusszahlung folgenden Ansprüche des Hauptunternehmers gegen den Besteller auf Abrechnung sowie gegebenenfalls Rückzahlung zu leisten ist.

b. Hat der Besteller dem Hauptunternehmer dagegen bereits eine inhaltlich zutreffende Abrechnung erteilt und ist der Vorschussbetrag danach vollständig zur Mängelbeseitigung verbraucht worden, kommt eine Vorteilsausgleichung im Verhältnis des Hauptunternehmers zum Nachunternehmer nicht (mehr) in Betracht. Besteht nach erteilter Abrechnung ein noch nicht erfüllter Rückzahlungsanspruch des Hauptunternehmers gegen den Besteller, kann der Nachunternehmer im Wege des Zurückbehaltungsrechts gemäß § 273 BGB durchsetzen, dass der Schadensersatz an den Hauptunternehmer in entsprechender Anwendung des § 255 BGB nur Zug um Zug gegen Abtretung dieses Anspruchs zu leisten ist. Ist es bereits zu einer vollständigen oder teilweisen Rückzahlung an den Hauptunternehmer gekommen, ist der zurückgezahlte Betrag von Amts wegen auf den vom Nachunternehmer in Geld zu leistenden Schadensersatz anzurechnen und führt zu dessen Verringerung.

3. Den Hauptunternehmer trifft in diesem Fall eine sekundäre Darlegungslast für die anspruchsmindernden Vorteile, die sich daraus ergeben, dass er an seinen Besteller einen Kostenvorschuss wegen der mangelhaften Werkleistung seines Nachunternehmers geleistet hat. Ihm obliegt es deshalb insbesondere darzulegen, ob der Besteller bereits eine Abrechnung über die Verwendung des Kostenvorschusses erteilt hat, und gegebenenfalls nähere Angaben zum Inhalt und Ergebnis der Abrechnung machen.

BGH, Urteil vom 9. November 2023 – VII ZR 92/20

Problemstellung

Die Rechtsprechungsänderung des VII. Zivilsenates, die schlagwortartig als „Ende der fiktiven Mangelbeseitigungskosten im Bauvertragsrecht“ bezeichnet wird (Irl, AnwZert BauR 15/2018 Anm. 1), bringt Folgeprobleme mit sich, von denen der Senat nunmehr eines zu entscheiden hatte. Zu beantworten war die Frage, welche Ansprüche in der werkvertraglichen Leistungskette der Hauptunternehmer gegen einen für Mängel verantwortlichen Nachunternehmer hat, wenn er seinerseits zur Zahlung von Kostenvorschuss an den Besteller verurteilt worden ist.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin, eine auf Holzbau spezialisierte Unternehmerin, verlangt von dem Beklagten, der Inhaber eines Meisterbetriebs für Heizungs-, Sanitär- und Solaranlagen ist, Schadensersatz in Höhe von insgesamt 47.190,33 € nebst Zinsen wegen mangelhafter Werkleistung. Die Klägerin wurde im Jahr 2011 von der C. GmbH damit beauftragt, die Dachaufstockung und energetische Sanierung von neun Wohngebäuden vorzunehmen. Sie beauftragte den Beklagten als Nachunternehmer damit, die von ihr vorgefertigten Holztafelbauteile mit Sanitärsystemen zu bestücken. Nach Fertigstellung der Arbeiten ergab eine Überprüfung, dass die Abwasseranschlüsse nicht den Regeln der Technik entsprachen und eine fachgerechte Ausführung mit den in den Wänden installierten Rohrbelüftern nicht zu erreichen war. Es kam zur Geruchsbildung in den Wohnungen. Die von der C. GmbH wegen dieser Mängel in Anspruch genommene Klägerin wurde in einem Vorprozess rechtskräftig zur Zahlung eines Vorschusses für die zur Mängelbeseitigung erforderlichen Aufwendungen in Höhe von 39.103,68 € sowie zur Zahlung der bereits aufgewandten Kosten für die Mängelbeseitigung in Höhe von 8.086,65 € verurteilt. Die Klägerin zahlte den zuerkannten Betrag in Höhe von insgesamt 47.190,33 € am 12. Januar 2015 an die C. GmbH.

Das Landgericht hat der auf Schadensersatz in Höhe der Verurteilung im Vorprozess gerichteten Klage - nach Abzug eines Mitverschuldensanteils zu Lasten der Klägerin - in Höhe von 11.797,58 € nebst Zinsen stattgegeben. Auf die Berufung der Klägerin und die Anschlussberufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel teilweise abgeändert und den Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 47.190,33 € nebst Zinsen an die Klägerin verurteilt. Der Beklagte schulde der Klägerin gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB Schadensersatz wegen mangelhafter Werkleistung im Umfang des vollen Betrags, den die Klägerin infolge dieser Mängel nach dem rechtskräftigen Urteil im Vorprozess an die C. GmbH habe zahlen müssen. Das Werk des Beklagten sei mangelhaft, da die von ihm ausgeführte Rohrbelüftung unstreitig zu Geruchsbelästigungen in den Wohnungen führe und weder DIN-gerecht noch den anerkannten Regeln der Technik entsprechend sei. Das für den Schadensersatzanspruch erforderliche Verschulden des Beklagten werde vermutet. Einen Mitverursachungsanteil müsse sich die Klägerin nicht anrechnen lassen. Der Höhe nach bemesse sich der Schadensersatzanspruch der Klägerin nach dem Betrag, zu dessen Zahlung sie selbst rechtskräftig verurteilt worden sei und dessen tatsächliche Entrichtung am 12. Januar 2015 sie belegt habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass sich der Schaden der Klägerin nachträglich reduziert habe, beispielsweise weil die tatsächlichen Aufwendungen für die Mängelbeseitigung durch die C. GmbH geringer gewesen seien als der ihr hierfür zuerkannte Vorschussbetrag oder weil die C. GmbH davon Abstand genommen habe, die Mängel zu beheben. Die Klägerin sei im Verhältnis zum Beklagten nicht abrechnungspflichtig; sie fordere Schadensersatz gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB und keinen Kostenvorschuss oder Aufwendungsersatz für die Selbstbeseitigung der Mängel nach § 634 Nr. 2 BGB und § 637 Abs. 3 BGB. Den Einwand der Klägerin, der Vorschussbetrag sei von der C. GmbH vollumfänglich für die Mängelbeseitigung verbraucht worden, habe der Beklagte nicht widerlegt. Er trage insoweit nach den allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast. Es existiere keine tatsächliche Vermutung des Inhalts, dass eine Behebung von Baumängeln nicht stattgefunden habe. Allenfalls lasse sich nach dem Ablauf eines längeren Zeitraums, für dessen Dauer die jeweils konkreten Umstände von maßgeblicher Bedeutung seien, widerleglich vermuten, dass bei dem Besteller der Wille fehle, einen Vorschussbetrag zur Mängelbeseitigung einzusetzen, wenn von ihm bis dahin keine oder lediglich unzureichende Anstrengungen diesbezüglich unternommen worden seien. Das stehe hier jedoch nicht fest. Hinzu komme, dass sich der Schaden der Klägerin nachträglich erst dann verringere, wenn eventuelle Überschüsse durch die C. GmbH bereits tatsächlich ausgekehrt worden wären (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 20. Mai 2020 – 11 U 74/18).  

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hat der Senat unter Zurückweisung der weitergehenden Beschwerde - auch soweit sie sich gegen die Verneinung eines Mitverschuldens gerichtet hat - die Revision insoweit zugelassen, als das Berufungsgericht den Beklagten unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils verurteilt hat, an die Klägerin 39.103,68 € nebst Zinsen zu zahlen, wobei die Zulassung auf die Anspruchshöhe beschränkt worden ist. Die im Umfang der Zulassung eingelegte Revision des Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im tenorierten Umfang und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Nach dem Berufungsurteil steht rechtskräftig fest, dass die Klägerin gegen den Beklagten dem Grunde nach einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung in Form des kleinen Schadensersatzes wegen der mangelhaften Rohrbelüftung gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB hat und ein Abzug wegen eines Mitverursachungsanteils der Klägerin nicht in Betracht kommt. Mit der vom Berufungsgericht zur Höhe des Schadensersatzanspruchs gegebenen Begründung kann der Urteilsspruch indes nicht gerechtfertigt werden.

Allerdings hat das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zu Recht angenommen, dass der Klägerin aufgrund der mangelhaften Rohrbelüftung ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten zusteht, der auf Ersatz des Schadens gerichtet ist, der dadurch entstanden ist, dass die Klägerin wegen des Mangels ihrerseits einen Kostenvorschuss gemäß § 634 Nr. 2, § 637 Abs. 3 BGB in Höhe von 39.103,68 € an die C. GmbH gezahlt hat. Das Berufungsgericht hat durch die konkrete Bezugnahme auf den von der Klägerin vorgelegten Überweisungsbeleg widerspruchsfrei mit Tatbestandswirkung festgestellt, dass diese Zahlung am 12. Januar 2015 auf den im Vorprozess ausgeurteilten Kostenvorschussanspruch erfolgt ist.

Mit Urteil vom 22. Februar 2018 (BGH, Urteil vom 22. Februar 2018 – VII ZR 46/17; dazu: Thode, jurisPR-PrivBauR 6/2018 Anm. 1) hat der Senat unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass der Besteller, der das Werk behält und den Mangel nicht beseitigen lässt, im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs statt der Leistung (kleiner Schadensersatz) gegen den Unternehmer gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB seinen Schaden nicht nach den voraussichtlich erforderlichen, aber (noch) nicht aufgewendeten ("fiktiven") Mängelbeseitigungskosten bemessen kann. Der Senat hat insoweit ausgeführt, dass die Schadensbemessung nach "fiktiven" Mängelbeseitigungskosten insbesondere nicht damit begründet werden kann, dass der Mangel selbst - unabhängig von dessen Beseitigung - der Vermögensschaden in Höhe dieser Kosten sei. Diese Rechtsprechung gilt auch in der werkvertraglichen Leistungskette. Die neue Rechtsprechung des Senats führt indes nicht dazu, dass ein Hauptunternehmer in der werkvertraglichen Leistungskette den an seinen Besteller gemäß § 634 Nr. 2, § 637 Abs. 3 BGB zur Mängelbeseitigung gezahlten Kostenvorschuss nicht im Rahmen eines infolge dieser Mängel gegebenen Schadensersatzanspruchs gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB gegen seinen Nachunternehmer als Schaden liquidieren könnte. Insbesondere ist ein Hauptunternehmer, wenn sein Besteller zur Mängelbeseitigung einen Kostenvorschuss verlangt, nicht seinerseits auf die Geltendmachung eines Anspruchs auf Kostenvorschuss wegen dieser Mängel gegenüber seinem Nachunternehmer beschränkt. Er kann vielmehr - nach seiner Wahl - auch Schadensersatz gemäß § 634 Nr. 4 BGB in Verbindung mit § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB verlangen.  

Mit dem Schadensersatzanspruch gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB kann der Hauptunternehmer gegenüber dem Nachunternehmer den Schaden ersetzt verlangen, der ihm dadurch entsteht, dass er wegen der mangelhaften Werkleistung des Nachunternehmers seinerseits Mängelansprüchen seines Bestellers ausgesetzt ist. In der werkvertraglichen Leistungskette ist der Hauptunternehmer wirtschaftlich betrachtet nur eine Zwischenstation. Ist das durch seinen Nachunternehmer ausgeführte Werk mangelhaft, kann nicht der Mangel selbst bereits als der in Höhe der voraussichtlichen Mängelbeseitigungskosten bestehende Vermögensschaden des Hauptunternehmers qualifiziert werden. Der Schaden des Hauptunternehmers liegt in einem solchen Fall vielmehr zunächst darin, dass er infolge der mangelhaften Werkleistung seines Nachunternehmers mit Verbindlichkeiten belastet wird, indem er aufgrund des betreffenden Werkmangels seinerseits Mängelansprüchen seines Bestellers ausgesetzt ist. Der Hauptunternehmer kann daher von seinem Nachunternehmer im Wege des Schadensersatzes gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB Freistellung von den Mängelansprüchen des Bestellers verlangen. Verlangt ein Besteller wie hier zur Beseitigung von Mängeln Kostenvorschuss, kann der Hauptunternehmer mithin verlangen, dass der Nachunternehmer ihn von dem Vorschussanspruch des Bestellers freistellt. Hat der Hauptunternehmer den vom Besteller geltend gemachten Anspruch auf Kostenvorschuss dagegen bereits durch Zahlung erfüllt, wandelt sich sein zunächst auf Freistellung gerichteter Schadensersatzanspruch gegen den Nachunternehmer in einen solchen auf Zahlung in Höhe des geleisteten Kostenvorschusses. Dabei handelt es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch auf Zahlung noch nicht aufgewendeter "fiktiver" Mängelbeseitigungskosten. Vielmehr macht der Hauptunternehmer im Wege des Schadensersatzes die Vermögenseinbuße geltend, die ihm durch die Zahlung des Kostenvorschusses an seinen Besteller tatsächlich entstanden ist.    

Der von der Klägerin an die C. GmbH wegen der mangelhaften Rohrbelüftung gezahlte Kostenvorschuss in Höhe von 39.103,68 € stellt danach eine ersatzfähige Schadensposition des von ihr geltend gemachten Schadensersatzanspruchs gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB dar. Das Berufungsgericht hat aber die Grundsätze der Vorteilsausgleichung in rechtsfehlerhafter Weise nur unzureichend berücksichtigt und die in diesem Zusammenhang zu stellenden Anforderungen an die Darlegungslast verkannt. Nach den auf Treu und Glauben gemäß § 242 BGB beruhenden Grundsätzen der Vorteilsausgleichung soll ein gerechter Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen herbeigeführt werden. Hat das zum Schadensersatz verpflichtende Ereignis neben Nachteilen auch Vorteile gebracht, sind nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung diejenigen Vorteile auszugleichen, die dem Geschädigten in einem adäquat kausalen Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind und deren Ausgleichung mit dem Zweck des jeweiligen Ersatzanspruchs übereinstimmt. Denn der Geschädigte darf im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht besser stehen, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Die Durchsetzung des schadensrechtlichen Bereicherungsverbots begrenzt den zu leistenden Schadensersatz. Gleichartige Vorteile sind dabei, ohne dass dies einredeweise geltend gemacht werden müsste, von Amts wegen auf den Schadensersatz anzurechnen und führen bei einem in Geld zu leistenden Schadensersatz zu dessen Verringerung. Kommt wegen der mangelnden Gleichartigkeit des auf das schädigende Ereignis zurückgehenden Vorteils eine Anrechnung hingegen nicht in Frage, ist ein auf Geld gerichteter Schadensersatz in seinem Umfang dadurch zu begrenzen, dass der betreffende Geldbetrag nur Zug um Zug gegen Herausgabe des betreffenden Vorteils geschuldet ist. Besteht der Vorteil in einem Anspruch des Geschädigten gegen einen Dritten, kann der Schädiger im Wege des Zurückbehaltungsrechts gemäß § 273 BGB durchsetzen, dass ihm dieser Anspruch in entsprechender Anwendung des § 255 BGB abgetreten wird. Auch § 255 BGB ist Ausdruck des schadensersatzrechtlichen Bereicherungsverbots. Der Umstand, dass der vom Hauptunternehmer ersetzt verlangte Schaden darin liegt, dass er mit dem Kostenvorschuss noch keine endgültige, sondern eine zweckgebundene Zahlung an seinen Besteller geleistet hat, über deren Verwendung nach Mängelbeseitigung abzurechnen ist, ist nach diesen Maßstäben im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen und kann zu einer Begrenzung des Umfangs seines Schadensersatzanspruchs gegen den Nachunternehmer führen.    

Der Kostenvorschuss ist seiner Natur nach nicht endgültig. Er ist zweckgebunden und vom Besteller zur Mängelbeseitigung zu verwenden. Zahlt der Unternehmer einen Kostenvorschuss an den Besteller, muss dieser daher seine Aufwendungen für die Mängelbeseitigung nachweisen. Er muss innerhalb angemessener Frist nach Mängelbeseitigung über die Verwendung des erhaltenen Kostenvorschusses Abrechnung erteilen und einen etwaig für die Mängelbeseitigung nicht in Anspruch genommenen Betrag zurückzahlen. Mit der Zahlung des Kostenvorschusses entsteht folglich ein (künftiger) Anspruch des Unternehmers auf Abrechnung gegen den Besteller sowie auf Rückforderung in Höhe eines etwaig nicht zweckentsprechend verbrauchten Vorschusses. Bei den Ansprüchen auf Abrechnung und Rückforderung des Unternehmers handelt es sich um aus Treu und Glauben entwickelte Ansprüche aus dem Vertragsverhältnis. Das den Schadensersatz begründende Ereignis - die mangelhafte Werkleistung des Nachunternehmers mit der Folge der Vorschusszahlung des Hauptunternehmers an den Besteller - führt mithin zu einer Vermögenseinbuße bei dem Hauptunternehmer, die nicht als endgültig bewertet werden kann. Die sich aus der Natur der Vorschusszahlung ergebenden Vorteile für den Hauptunternehmer stehen in einem adäquat kausalen Zusammenhang zu dem Schadensereignis und sind nach dem Zweck des Ersatzanspruchs grundsätzlich im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen. Ob und in welcher Weise die Vorteilsausgleichung in der werkvertraglichen Leistungskette im Verhältnis des Hauptunternehmers zu seinem Nachunternehmer zu erfolgen hat, richtet sich dabei im Grundsatz danach, ob der Besteller dem Hauptunternehmer bereits eine Abrechnung über die Verwendung des Kostenvorschusses erteilt hat. Hat der Besteller dem Hauptunternehmer noch keine Abrechnung erteilt, besteht der aus der Natur der Vorschusszahlung herrührende Vorteil des Hauptunternehmers darin, dass er bei Fälligkeit zunächst die Abrechnung und sodann die Rückzahlung eines etwaig nicht zur Mängelbeseitigung verbrauchten Geldbetrags verlangen kann. Mangels Gleichartigkeit des Vorteils kann der Nachunternehmer in diesem Fall im Wege des Zurückbehaltungsrechts gemäß § 273 BGB durchsetzen, dass der Schadensersatz an den Hauptunternehmer in entsprechender Anwendung des § 255 BGB nur Zug um Zug gegen Abtretung der aus der Vorschusszahlung folgenden Ansprüche des Hauptunternehmers gegen den Besteller auf Abrechnung sowie gegebenenfalls Rückzahlung zu leisten ist. Hat der Besteller dem Hauptunternehmer dagegen bereits eine inhaltlich zutreffende Abrechnung erteilt und ist der Vorschussbetrag danach vollständig zur Mängelbeseitigung verbraucht worden, kommt eine Vorteilsausgleichung im Verhältnis des Hauptunternehmers zum Nachunternehmer nicht (mehr) in Betracht. Ergibt sich nach einer vom Besteller erteilten Abrechnung, dass der Vorschussbetrag ganz oder teilweise nicht zur Mängelbeseitigung verbraucht worden ist, ist eine entsprechende Rückzahlung jedoch noch nicht erfolgt, liegt der Vorteil des Hauptunternehmers darin, dass er gegen den Besteller einen Anspruch auf Rückzahlung hat. Mangels Gleichartigkeit des Vorteils kann der Nachunternehmer auch in dieser Konstellation im Wege des Zurückbehaltungsrechts gemäß § 273 BGB durchsetzen, dass der Schadensersatz an den Hauptunternehmer in entsprechender Anwendung des § 255 BGB nur Zug um Zug gegen Abtretung dieses Anspruchs zu leisten ist. Ist es dagegen wegen nicht zweckentsprechender Verwendung des Vorschussbetrags bereits zu einer vollständigen oder teilweisen Rückzahlung an den Hauptunternehmer gekommen, handelt es sich bei dem zurückgezahlten Betrag um einen gleichartigen Vorteil, der von Amts wegen auf den vom Nachunternehmer in Geld zu leistenden Schadensersatz anzurechnen ist und zu dessen Verringerung führt. Die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsmindernd zu berücksichtigenden Vorteile des Geschädigten trägt nach allgemeinen Grundsätzen zwar der Schädiger. Den Geschädigten trifft jedoch eine sekundäre Darlegungslast, soweit der Schädiger außerhalb des von ihm darzulegenden Geschehensablaufs steht und dem Geschädigten nähere Angaben möglich und zumutbar sind. In der werkvertraglichen Leistungskette trifft nach diesen Maßstäben den Hauptunternehmer, der gegen den Nachunternehmer Schadensersatz gemäß § 634 Nr. 4 BGB iVm. § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB geltend macht, grundsätzlich eine sekundäre Darlegungslast für die anspruchsmindernden Vorteile, die sich daraus ergeben, dass er an seinen Besteller einen Kostenvorschuss wegen der mangelhaften Werkleistung seines Nachunternehmers geleistet hat. Denn der Nachunternehmer hat im Regelfall keinen Einblick in die Abwicklung des zwischen dem Hauptunternehmer und dem Besteller geschlossenen Vertrags, während dem Hauptunternehmer nähere Angaben hierzu möglich und zumutbar sind. Dem Hauptunternehmer obliegt es deshalb insbesondere darzulegen, ob der Besteller bereits eine Abrechnung über die Verwendung des Kostenvorschusses erteilt hat, und gegebenenfalls nähere Angaben zum Inhalt und Ergebnis der Abrechnung machen.

Nach diesen Grundsätzen kann eine Vorteilsausgleichung nicht ausgeschlossen werden. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat das den Schadensersatz begründende Ereignis - die mangelhafte Ausführung der Rohrbelüftung durch den Beklagten mit der Folge der Vorschusszahlung der Klägerin an die C. GmbH - bei der Klägerin zu einer Vermögenseinbuße in Höhe von 39.103,68 € geführt, die (noch) nicht als endgültig bewertet werden kann. Die sich aus der Natur der Vorschusszahlung ergebenden Vorteile für die Klägerin, also ihr Anspruch gegen die C. GmbH auf Abrechnung und Rückzahlung eines etwaig nicht zur Mängelbeseitigung verbrauchten Vorschussbetrags, sind grundsätzlich im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen. Dabei ist für die Frage, ob und inwieweit eine Vorteilsausgleichung zu erfolgen hat, zunächst entscheidend, ob die C. GmbH der Klägerin bereits eine Abrechnung erteilt hat. Dies hat das Berufungsgericht ebenso verkannt wie die in diesem Zusammenhang zu stellenden Anforderungen an die Darlegungslast. Der Beklagte hat geltend gemacht, dass angesichts des Zeitablaufs davon auszugehen sei, dass die C. GmbH den von der Klägerin gezahlten Kostenvorschuss entweder gar nicht zur Mängelbeseitigung verwendet habe oder zumindest nicht in vollem Umfang. Jedenfalls habe die C. GmbH inzwischen eine Abrechnung erteilen müssen. Damit hat der Beklagte seiner Darlegungslast genügt. Denn er kann nach den vorliegenden Umständen weder wissen noch muss er ermitteln, ob die C. GmbH der Klägerin bereits eine Abrechnung über die Verwendung des Kostenvorschusses erteilt hat, welchen Inhalt eine etwaig erfolgte Abrechnung hat und ob oder inwieweit es gegebenenfalls zu einer Rückzahlung an die Klägerin gekommen ist. Es ist deshalb Sache der Klägerin, im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast zunächst vorzutragen, ob bereits eine Abrechnung der C. GmbH über die Verwendung des Kostenvorschusses erfolgt ist. Ist das der Fall, ist die Klägerin weiter gehalten, Inhalt und Ergebnis dieser Abrechnung näher darzulegen, um einerseits den Vortrag zur Höhe des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs zu vervollständigen und andererseits dem Beklagten die Möglichkeit zu geben, zu den konkretisierten Angaben Stellung zu nehmen. Die nach den Feststellungen des Berufungsgerichts allein erfolgte Behauptung der Klägerin, wonach der Kostenvorschuss von der C. GmbH vollumfänglich zur Mängelbeseitigung verbraucht worden und es nicht zu einer Rückzahlung gekommen sei, genügt diesen Anforderungen nicht.

Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung stellt die logische Konsequenz aus der geänderten Rechtsprechung des Senats zu den sog. fiktiven Mangelbeseitigungskosten dar (BGH, Urteil vom 22. Februar 2018 – VII ZR 46/17; dazu: Thode, jurisPR-PrivBauR 6/2018 Anm. 1). Dem Senat ist zu danken, dass er die denkbaren Konstellationen des Verhältnisses zwischen dem Besteller und Hauptunternehmer und den jeweiligen Auswirkungen auf den Anspruch zwischen Haupt- und Nachunternehmer durchdekliniert. Auszugehen ist jeweils vom Grundsatz, dass dem Hauptunternehmer gegen den Nachunternehmer, der den in Frage stehenden Mangel der Werkleistung zu verantworten hat, ein Schadensersatzanspruch zusteht, wenn der Hauptunternehmer vom Besteller erfolgreich auf Kostenvorschuss in Anspruch genommen worden ist. Der Anspruch des Hauptunternehmers gegen den Nachunternehmer kann aber nicht in der Höhe identisch sein mit dem Kostenvorschussanspruch, dem sich der Hauptunternehmer ausgesetzt sieht. Denn der Kostenvorschussanspruch gemäß § 637 Abs.3 BGB ist nur vorläufiger Natur und stellt keine endgültige, sondern eine zweckgebundene Zahlung dar, über deren Verwendung nach Mängelbeseitigung abzurechnen ist. Innerhalb welchen Zeitraums der Besteller auf Verlangen des Unternehmers abrechnen muss, ist Frage des Einzelfalls. Hat der Besteller den Vorschuss nicht zur Selbstvornahme verwendet, besteht ein Rückforderungsanspruch des Unternehmers (BGH, Urteil vom 14. Januar 2010 – VII ZR 108/08). Die vorläufige Rechtsnatur des Vorschussanspruchs ist für den Anspruch des Hauptunternehmers gegenüber dem Nachunternehmer auf Schadensersatz wegen des vom Hauptunternehmer an den Bestellter gezahlten Kostenvorschuss im Wege des Vorteilsausgleichs zu berücksichtigen. Daraus ergeben sich für den Anspruch in der Leistungskette folgende Konsequenzen: Hat der Besteller den Kostenvorschuss vollständig verbraucht und gegenüber dem Hauptunternehmer abgerechnet, steht fest, dass ein Rückforderungsanspruch des Hauptunternehmers gegenüber dem Besteller nicht mehr besteht. Daher ist der Anspruch des Haupt- gegenüber dem Nachunternehmer nicht im Wege der Vorteilsausgleichung zu reduzieren. Steht demgegenüber fest, dass der Besteller die Selbstvornahme nicht durchführen wird, etwa weil der ihm dazu einzuräumende Zeitraum überschritten ist, stünde dem Hauptunternehmer ein Anspruch auf Rückzahlung des nicht zweckgemäß verbrauchten Vorschusses zu. Diesen Anspruch muss er – in entsprechender Anwendung von § 255 BGB – an den Nachunternehmer abtreten, wenn er ihn auf Ersatz des an den Besteller gezahlten Kostenvorschusses in Anspruch nehmen will. Der Nachunternehmer wiederum kann gegenüber dem Schadensersatzanspruch ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 273 BGB geltend machen, bis der Hauptunternehmer ihm den Anspruch abtritt. Dasselbe gilt, wenn der Besteller dem Hauptunternehmer noch keine Abrechnung erteilt hat. Nur wenn es bereits zu einer vollständigen oder teilweisen Rückzahlung an den Hauptunternehmer gekommen ist, ist der zurückgezahlte Betrag von Amts wegen auf den vom Nachunternehmer in Geld zu leistenden Schadensersatz anzurechnen und führt zu dessen Verringerung. Da der vom Hauptunternehmer in Anspruch genommenen Nachunternehmer im Regelfall keinerlei Kenntnisse über den Stand des Abrechnungsverhältnisses zwischen Haupt- und Nachunternehmer haben wird, trifft den Hauptunternehmer eine sekundäre Darlegungslast über den Stand der Abrechnung. Damit ist den Interessen des Nachunternehmers ausreichend genügt. Allerdings trifft ihn das Insolvenzrisiko des Bestellers, während sich der Hauptunternehmer durch Inanspruchnahme seines Nachunternehmers – dessen Liquidität vorausgesetzt – schadlos halten kann. Zudem trifft den Nachunternehmer eine Prozessführungsobliegenheit, die mit Aufwand von Zeit und Kosten verbunden ist. In der Vergangenheit waren Rückforderungsprozesse des Vorschussgläubigers gegen den Vorschussschuldner kaum zu beobachten, was seinen Grund darin findet, dass der Schuldner, der trotz Ablaufs eines dafür angemessenen Zeitraums den Vorschuss nicht zweckgerichtet verwendet hatte, bei Inanspruchnahme durch den Gläubiger mit einem entsprechenden Schadensersatzanspruch in gleicher Höhe aufrechnen konnte (BGH, Urteil vom 14. Januar 2010 – VII ZR 213/07 –, Rn. 24). Dieser Anspruch besteht seit der Rechtsprechungsänderung des Senates zu den „fiktiven Mängelbeseitigungskosten“ nicht mehr, weil der Schadensersatzanspruch nicht mehr nach den hypothetischen Mängelbeseitigungskosten bemessen werden kann. Lässt der Besteller den Mangel nicht beseitigen, kann er den Schaden in der Weise bemessen, dass er im Wege einer Vermögensbilanz die Differenz zwischen dem hypothetischen Wert der durch das Werk geschaffenen oder bearbeiteten, im Eigentum des Bestellers stehenden Sache ohne Mangel und dem tatsächlichen Wert der Sache mit Mangel ermittelt (BGH, Urteil vom 22. Februar 2018 – VII ZR 46/17 –, Rn. 27). Die Aufrechnung mit einem so ermittelten Anspruch wird im Regelfall schwierig durchzusetzen sein und die Erstellung kostenaufwendiger Sachverständigengutachten erfordern. Daher könnten Rückforderungsprozesse wegen eines nicht zweckgemäß verwandten Kostenvorschusses zukünftig häufiger werden.  

Auswirkungen für die Praxis

Die Annahme einer sekundären Darlegungslast setzt voraus, dass die nähere Darlegung dem Behauptenden nicht möglich oder nicht zumutbar ist, während der Bestreitende alle wesentlichen Tatsachen kennt und es ihm zumutbar ist, nähere Angaben zu machen. Genügt der Anspruchsgegner seiner sekundären Darlegungslast, ist es Sache des Anspruchstellers, die für seine Behauptung sprechenden Umstände darzulegen und zu beweisen. Genügt der Anspruchsgegner seiner sekundären Darlegungslast nicht, gilt die Behauptung des Anspruchstellers dagegen nach § 138 Abs. 3 als zugestanden (BGH, Urteil vom 18. Januar 2018 – I ZR 150/15 –, Rn. 30 mwN.).

18.12.2023
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BGH: Keine erstmalige Fristverlängerung ohne Begründung

Der Prozessbevollmächtigte des Berufungsführers darf nicht damit rechnen, dass seinem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist stattgegeben wird, wenn in diesem kein erheblicher Grund für die Gewährung einer Fristverlängerung dargelegt wird, sondern der Antrag jeglicher Begründung zur Notwendigkeit einer Fristverlängerung entbehrt.

BGH, Beschluss vom 14. November 2023 – XI ZB 10/23

Problemstellung

Mit den Anforderungen an den ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hatte sich der XI. Zivilsenat zu befassen.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Beklagte hat gegen ein ihm am 22. Dezember 2022 zugestelltes Urteil, durch das er zur Rückzahlung eines Darlehens verurteilt worden ist, fristgerecht Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2023 hat sein Prozessbevollmächtigter ohne Begründung beantragt, die Frist zur Berufungsbegründung um einen Monat bis zum 22. März 2023 zu verlängern. Noch am selben Tag hat der Vorsitzende verfügt, der Beklagte erhalte im Hinblick auf § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO Gelegenheit, seinen Fristverlängerungsantrag unverzüglich zu begründen. Diese Verfügung sollte dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten mit Begleitschreiben über das besondere elektronische Anwaltspostfach mitgeteilt werden. Versehentlich wurde am 22. Februar 2023 jedoch nur das Begleitschreiben ohne die Verfügung übersandt. Darin heißt es: "Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt […], anliegende Dokumente werden Ihnen elektronisch übermittelt." Nachdem in der Folgezeit keine Reaktion des Beklagten erfolgt war, hat der Vorsitzende des Berufungssenats den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen, weil der Beklagte keine Einwilligung der Klägerin beigebracht und entgegen § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO trotz des gerichtlichen Hinweises keine erheblichen Gründe dargelegt habe. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten mitgeteilt, dass ihm die Verfügung vom 21. Februar 2023 nicht zugegangen sei und er auf einen entsprechenden Hinweis sofort reagiert hätte, zumal die beantragte Fristverlängerung auf einer Arbeitsüberlastung infolge seiner Corona-Erkrankung beruht habe. Weiter hat der Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und erneut eine Verlängerung dieser Frist um einen Monat beantragt. Zur Begründung hat er auf die unterbliebene Mitteilung des in der Verfügung vom 21. Februar 2023 enthaltenen Hinweises sowie darauf verwiesen, dass in einem bei einem anderen Senat desselben Berufungsgerichts geführten Verfahren mit einem gleichlautenden Antrag die Berufungsbegründungsfrist verlängert worden sei. Er habe daher darauf vertrauen dürfen, dass auch im Streitfall die Frist wie beantragt verlängert oder ihm anderenfalls ein entsprechender Hinweis erteilt werde.  

Das Berufungsgericht hat den Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und dessen Berufung als unzulässig verworfen. Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, weil der Beklagte nicht glaubhaft gemacht habe, ohne sein bzw. ein ihm zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten an einem ordnungsgemäßen Fristverlängerungsantrag gehindert gewesen zu sein. Führe die beantragte Fristverlängerung zur Verzögerung des Rechtsstreits, dürfe die Berufungsbegründungsfrist nur dann verlängert werden, wenn es sich um den ersten Fristverlängerungsantrag handele und der Rechtsmittelführer darin gemäß § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO erhebliche Gründe für die beantragte Verlängerung darlege. Werde der Antrag nicht begründet, müsse der Rechtsmittelführer damit rechnen, dass der Antrag deshalb abgelehnt werde. Diese Rechtsprechung müsse dem Rechtsanwalt auch bekannt sein. Da ein gerichtlicher Hinweis nicht erforderlich gewesen sei, könne sich daraus, dass die Verfügung vom 21. Februar 2023 dem Beklagten nicht mitgeteilt worden sei, von vornherein nichts zu dessen Gunsten ergeben. Darüber hinaus stelle es ein selbständiges Verschulden dar, wenn ein Prozessbevollmächtigter, dem auf seinen Fristverlängerungsantrag ein als Begleitschreiben erkennbares Schreiben des Gerichts zugehe, dem aber die darin in Bezug genommene Verfügung nicht beigefügt sei, diesen Vorgang weder zum Anlass für eine Nachfrage bei Gericht noch für eine Überprüfung seines Fristverlängerungsantrags nehme, obwohl ein Prozessbevollmächtigter im Fall eines solchen Antrags ohne Darlegung erheblicher Gründe bei Gericht nachfragen müsse, ob die Frist antragsgemäß verlängert worden sei. Der Beklagte habe auch nicht deshalb auf die Stattgabe des Fristverlängerungsantrags vertrauen dürfen, weil in einem Fall durch einen anderen Senat des Berufungsgerichts eine Berufungsbegründungsfrist ohne Darlegung eines erheblichen Grundes verlängert worden sei (OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. April 2023 – 6 U 14/23).  

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat dem Beklagten zu Recht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und seine Berufung als unzulässig verworfen. Denn die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung beruht auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, das ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist. Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners - auf diese hat sich der Beklagte nicht berufen - auf Antrag um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Zwar muss ein Berufungsführer grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Berufungsgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist versagt. Er darf jedoch im Allgemeinen darauf vertrauen, dass einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, wenn dieser auf erhebliche Gründe im Sinne des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestützt wird. Das setzt die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung voraus, auch wenn an diese bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden dürfen und beispielsweise der bloße Hinweis auf eine Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten ausreicht, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Entspricht der Fristverlängerungsantrag diesen Anforderungen und darf der Prozessbevollmächtigte deshalb mit der erstmaligen Verlängerung der Begründungsfrist mit großer Wahrscheinlichkeit rechnen, ist er nicht gehalten, sich vor Ablauf der ursprünglichen Frist durch Nachfrage beim Berufungsgericht zu vergewissern, ob dem Fristverlängerungsgesuch stattgegeben wurde. Dagegen kann der Prozessbevollmächtigte des Berufungsführers nicht damit rechnen, dass seinem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist stattgegeben wird, wenn in diesem kein erheblicher Grund für die Gewährung einer Fristverlängerung dargelegt wird, sondern der Antrag jeglicher Begründung zur Notwendigkeit einer Fristverlängerung entbehrt. In einem solchen Fall muss der Prozessbevollmächtigte damit rechnen, dass der Senatsvorsitzende in einer nicht mit erheblichen Gesichtspunkten begründeten Verlängerung der Frist eine Verzögerung des Rechtsstreits sehen und das Gesuch deshalb ablehnen wird. Die ihm nach diesen Maßgaben im Zusammenhang mit der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist obliegenden Sorgfaltspflichten hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten nicht eingehalten. In dem Antrag vom 21. Februar 2023 sind Gründe für die Erforderlichkeit einer Fristverlängerung um einen Monat nicht dargetan. Dem Schriftsatz ist nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen die Verlängerung begehrt worden ist. Das Vorliegen eines erheblichen Grundes ist unter solchen Umständen auch nicht ohne weiteres als Grund des Antrags zu vermuten. Der Prozessbevollmächtigte, dessen Verschulden sich der Beklagte zurechnen lassen muss, durfte deshalb nicht darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht die beantragte Fristverlängerung gewähren werde, sondern wäre gehalten gewesen, sich durch Nachfrage beim Gericht zu vergewissern, ob die Verlängerung wie beantragt gewährt werde.  

Das gilt auch, nachdem dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten am letzten Tag der Frist, einen Tag nach Einreichung seines Antrags, ein als Begleitschreiben erkennbares Schreiben des Gerichts übersandt wurde, dem das darin in Bezug genommene Dokument nicht beigefügt war. Denn es war nicht ersichtlich, ob es sich dabei um einen Hinweis auf die fehlende Begründung, die Gewährung oder die Ablehnung der beantragten Fristverlängerung handelte. Der Prozessbevollmächtigte, der nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die ihm bekannt sein musste, mit der Ablehnung seines nicht begründeten Fristverlängerungsantrags rechnen musste, konnte nicht darauf vertrauen, dass es sich um die Gewährung der Fristverlängerung oder die rechtzeitige Erteilung eines Hinweises handelte.

Kontext der Entscheidung

Ausreichend kann eine konkludente Begründung des erstmaligen Fristverlängerungsantrags sein. So hatte ein Prozessbevollmächtigter die beantragte Fristverlängerung weder auf eine Erkrankung noch auf eine Urlaubsabwesenheit gestützt, jedoch ausdrücklich klargestellt, dass die Fristverlängerung nicht wegen einer noch ausstehenden Rücksprache bei der Partei erforderlich ist. Wenn ein Prozessbevollmächtigter bei dieser Sachlage unter Hinweis auf eine bereits erfolgte Rücksprache mit der Partei erstmals eine kurzzeitige Fristverlängerung mit der Begründung beantragt, die nach dem Mandantengespräch erforderlich gewordenen Ergänzungen und Änderungen seien noch einzuarbeiten, „insoweit“ bedürfe es einer Fristverlängerung um eine Woche, wird damit bei objektiver und vernünftiger Betrachtung zum Ausdruck gebracht, die bis zum Fristablauf verbleibende Zeit genüge in Anbetracht des sonstigen Geschäftsanfalls des Prozessbevollmächtigten nicht, um die Berufungsbegründung fristgerecht mit der erforderlichen Sorgfalt fertigzustellen. Unter diesen Umständen für einen ausreichenden Fristverlängerungsantrag zu verlangen, dass die Wendung „Arbeitsüberlastung“ ausdrücklich gebraucht wird, käme einer bloßen Förmelei gleich (BGH, Beschl. v. 09.05.2017 - VIII ZB 69/16 Rn. 17). Nicht ausreichend ist aber die Wendung, der Antrag werde "vorsorglich" gestellt. Ihr ist nämlich nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen eine Verlängerung begehrt wurde. Das Vorliegen eines erheblichen Grundes ist unter solchen Umständen auch nicht etwa ohne weiteres als Grund des Antrags zu vermuten BGH, Beschluss vom 18. Juli 2007 – IV ZR 132/06 –, Rn. 7). Der Prozessbevollmächtigte, dessen Verschulden sich der Kläger zurechnen lassen muss, darf deshalb nicht darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht die beantragte Fristverlängerung gewähren werde, sondern hat Anlass, sich durch Nachfrage beim Gericht zu vergewissern, ob die Verlängerung wie beantragt gewährt werde (BGH, Beschluss vom 18. Juli 2007 – IV ZR 132/06 –, Rn. 8). Ein nicht bereits im Antrag auf Fristverlängerung, sondern erst nach Fristablauf mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfolgte Hinweis des Prozessbevollmächtigten, er sei derzeit überlastet, rechtfertigt keine andere Beurteilung (BGH, Beschluss vom 20. August 2019 – X ZB 13/18 –, Rn. 13).

Auswirkungen für die Praxis

Ist die Berufungsbegründungsfrist bereits über einen Monat hinaus verlängert worden, kann diese Frist nur mit Einwilligung des Gegners erneut verlängert werden (§ 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Die Einwilligung muss nicht schriftlich und gegenüber dem Berufungsgericht erklärt werden; sie kann vielmehr auch vom Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers eingeholt werden. In diesem Fall muss die Erteilung der Einwilligung in dem Fristverlängerungsantrag dargelegt werden (BGH, Beschl. v. 12.04.2006 - XII ZB 74/05 -, Rn. 9). Daher ist das Vertrauen auf die Bewilligung der beantragten Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht gerechtfertigt, wenn der Prozessbevollmächtigte des Berufungsklägers die ihm gegenüber erklärte Einwilligung des Gegners in dem Verlängerungsantrag nicht erwähnt (BGH, Beschl. v. 22.03.2005 - XI ZB 36/04). Die Einwilligung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO bedarf nicht der Schriftform, sondern kann vom Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers eingeholt und gegenüber dem Gericht anwaltlich versichert werden. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO, der, anders als § 566 Abs. 2 Satz 4 ZPO für die Einwilligung in die Sprungrevision, keine Schriftform verlangt. Die Schriftformbedürftigkeit des Verlängerungsantrages ist auf die Einwilligung nicht übertragbar. Der rechtzeitige Eingang eines Verlängerungsantrages oder einer Begründungsschrift hindert den Eintritt der formellen Rechtskraft. Damit hierüber im Interesse der Rechtssicherheit Klarheit besteht, bedarf der Verlängerungsantrag der Schriftform (BGH, Beschl. v. 23.01.1985 - VIII ZB 18/84). Die Einwilligung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO hat keine vergleichbare Bedeutung für den Eintritt der formellen Rechtskraft, so dass kein Anlass besteht, an die Einwilligung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO erhöhte Anforderungen zu stellen und sie als schriftformbedürftig anzusehen (BGH, Beschl. v. 09.11.2004 - XI ZB 6/04 -, Rn. 11).

18.12.2023
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BGH: Vorfristen bei Rechtsmittelbegründungsfrist

Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist.

BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2023 - VI ZB 53/22

(LG Berlin, Entscheidung vom 16.02.2022 - 42 O 243/19; KG Berlin, Entscheidung vom 30.06.2022 - 22 U 28/22)

Das Problem:

Die Klägerin hat gegen das ihr am 17. Februar 2022 zugestellte Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 19. Mai 2022 hat sie die Berufung begründet und zugleich die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vorgetragen, die Säumnis beruhe auf einem Versehen seiner Angestellten. Diese habe gemäß erteilter Weisung zwar die Berufungsfrist in den Fristenkalender eingetragen, allerdings aus im Nachhinein nicht mehr eruierbaren Gründen nicht auch die Berufungsbegründungsfrist, obwohl beide Fristen als "notiert" und damit als im Fristenkalender eingetragen vermerkt worden seien. Das Empfangsbekenntnis werde von ihm mit Datum versehen und unterzeichnet. Zugleich würden die Fristen notiert und die Akte zwecks Notierung der Fristen im Fristenkalender an die Angestellte übergeben. Die Fristen würden sodann von der Angestellten - nach erneuter Prüfung der Richtigkeit der notierten Frist - einzeln im Fristenkalender eingetragen und hinter dem Datum des jeweiligen Fristablaufs mit einem entsprechenden Vermerk "notiert" mit dem Kürzel der Angestellten versehen. Die Akte werde sodann wieder an ihn gegeben, um zu kontrollieren, ob der Erledigungsvermerk "notiert" aufgebracht worden sei. Im vorliegenden Fall sei der Posteingang über das beA erfolgt und somit von ihm direkt bearbeitet worden. Nach Kenntnisnahme des erstinstanzlichen Urteils seien durch ihn die Fristen für die Berufung und die Berufungsbegründung notiert worden. Die Angestellte habe dann beide Fristen in den Fristenkalender eintragen sollen. Bei Einlegung der Berufung habe er sich noch einmal vergewissert, dass hinter beiden notierten Fristen ein Eintragungsvermerk aufgebracht worden sei. Er sei deshalb davon ausgegangen, dass auch die Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß eingetragen worden sei. In der beigefügten eidesstattlichen Versicherung der Angestellten ist ausgeführt, es sei ihr nicht erklärlich, aus welchem Grunde sie nicht auch die Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender eingetragen habe. Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Entscheidung des Gerichts:

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Der angefochtene Beschluss verletzt die Klägerin nicht in ihrem Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip). Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Fristversäumung sei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin als Organisationsverschulden vorzuwerfen. Es sei anerkannt, dass ein Rechtsanwalt nicht nur Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist zu notieren habe, sondern auch eine Vorfrist. Dass es im Büro des Prozessbevollmächtigten der Klägerin Anordnungen bezüglich einer solchen Vorfrist gebe, sei weder seinen Ausführungen in der Berufungsbegründung zu entnehmen, die zugleich den Wiedereinsetzungsantrag enthalte, noch der eidesstattlichen Versicherung seiner Angestellten. Dem könne auch nicht entgegengehalten werden, dass diese nicht nur die Eintragung der Begründungsfrist, sondern auch die einer Vorfrist vergessen hätte. Denn dies stehe nicht fest. Zum einen sei die Eintragung der Berufungsfrist erfolgt, zum anderen sei unklar, warum die Eintragung der Begründungsfrist nicht erfolgt sei. Dann aber sei nicht gesichert, dass auch eine Vorfrist nicht eingetragen worden wäre. Dies gehe zu Lasten der Klägerin. Wiedereinsetzung sei nur zu gewähren, wenn feststehe, dass es an einem zurechenbaren Verschulden fehle. Diese Erwägungen des Berufungsgerichts sind nicht zu beanstanden. Hat eine Partei die Berufungsbegründungsfrist versäumt, ist ihr nach § 233 Satz 1 ZPO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt; verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin beruht. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass ihr Prozessbevollmächtigter die Notierung von Vorfristen angeordnet hatte. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass ihr Prozessbevollmächtigter diese Vorgaben bei der Organisation seiner Kanzlei eingehalten hatte. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist nicht auszuschließen, dass bei Notierung einer Vorfrist die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden wäre.  

Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn die Ursächlichkeit des Organisationsmangels für das Versäumen der Frist nicht ausgeräumt ist. Hat ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Berufungsbegründungsfrist ergriffen, geht es zu seinen Lasten, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre. Bei auf die Vorfrist bezogen unterstellt ordnungsgemäßem Vorgehen wären die Akten dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin rechtzeitig vorgelegt worden. In diesem Fall hätte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin rechtzeitig bemerkt, dass eine Berufungsbegründung noch nicht erstellt war. Ein Rechtsanwalt hat eine ihm aufgrund einer Vorfrist vorgelegte und damit in seinen persönlichen Verantwortungsbereich (zurück-)gelangte Fristsache rechtzeitig zu bearbeiten und für die Weiterleitung der bearbeiteten Sache in der Weise Sorge zu tragen, dass der entsprechende Schriftsatz fristgerecht bei Gericht eingeht. Dieser Pflicht wird er nicht durch eine weitere, auf den Tag des Fristablaufs notierte Frist enthoben. Hätte mithin der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach Vorlage der Akten zur Vorfrist die Berufungsbegründung fristgerecht fertiggestellt und einer Büroangestellten mit der Weisung übergeben, sie bei Gericht einzureichen, wäre die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden. Danach hat das Berufungsgericht die Berufung der Klägerin wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu Recht als unzulässig verworfen.

Konsequenzen für die Praxis:

Eine wirksame Fristenkontrolle erfordert die Notierung von Vorfristen. In dem Unterlassen der Weisung, eine Vorfrist im Fristenkalender zu notieren, liegt ein einer Prozesspartei nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden ihres Verfahrensbevollmächtigten. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung die allgemeine Anordnung, bei Verfahrenshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies bei Rechtsmittelbegründungen regelmäßig der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2023 – XII ZB 418/22 –, MDR 2023, 1267). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zu wahrenden Frist kommt nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt bei pflichtgemäßer Notierung einer Vorfrist die Fehlerhaftigkeit der notierten Frist hätte erkennen und die Frist wahren können (BGH, Beschluss vom 13. September 2018 – V ZB 227/17 –, MDR 2018, 1457).

Beraterhinweis:

Der betroffene Rechtsanwalt hat bei der Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags die Bedeutung von Vorfristen nicht beachtet. Das Berufungsgericht musste ihn nicht darauf hinweisen, dass es ein etwaiges versehentliches Unterbleiben der Notierung der Vorfrist und darauf bezogene Anweisungen ihres Prozessbevollmächtigten gegenüber seinem Kanzleipersonal für relevant hält. Zwar können im Wiedereinsetzungsverfahren erkennbar unklare oder ungenaue Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, über die Frist nach § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 ZPO hinaus erläutert und vervollständigt werden. Es sind Ausführungen im Wiedereinsetzungsantrag zur Notierung einer Vorfrist aber nicht unklar oder ungenau; vielmehr fehlt insoweit jeglicher Vortrag. Die Anforderungen an eine wirksame Organisation des Fristenwesens und deren Darlegung im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags sind bekannt und müssen einem Rechtsanwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein (Greger in: Zöller, ZPO 34. Aufl. 2024, § 233 Rn. 22, 23.18, § 236 Rn. 6). Insoweit fehlender Vortrag erlaubt den Schluss darauf, dass entsprechende Sicherungsvorkehrungen gefehlt haben (BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 – VI ZB 37/20 –, MDR 2022, 585).

14.12.2023
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BGH: Anforderungen an Einzelanweisung bei Fristkontrolle

1. Überträgt ein Rechtsanwalt die Notierung von Fristen einer Kanzleikraft, muss er durch geeignete organisatorische Maßnahmen oder durch konkrete Einzelanweisung sicherstellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Bei notwendiger Korrektur einer Rechtsmittelbegründungsfrist muss eine mündliche Einzelanweisung klar und präzise beinhalten, dass die Frist sofort und vor allen anderen Aufgaben im Fristenkalender zu korrigieren ist.

2. Ein Rechtsanwalt muss allgemeine Vorkehrungen dafür treffen, dass das zur Wahrung von Fristen Erforderliche auch dann unternommen wird, wenn er unvorhergesehen ausfällt.

BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2023 – XII ZB 31/23

   Problemstellung

Die zweimonatige Frist zur Berufungsbegründung beginnt zwar gleichzeitig mit der Berufungsfrist mit der Zustellung des anzufechtenden Urteils. Die Verschiebung des Fristablaufs der Berufungsfrist wegen eines Feiertags, Sonnabends oder Sonntag auf den nachfolgenden Werktag (§ 222 ZPO iVm. 193 BGB) hat aber keine Auswirkung auf die Berechnung der Berufungsbegründungsfrist, weil beide Fristen voneinander unabhängig sind (BeckOK ZPO/Wulf, 50. Ed. 1.9.2023, ZPO § 520 Rn. 6). Diese Zusammenhänge hatte ein Rechtsanwalt übersehen. Mit den Folgen seiner falschen Fristberechnung hatte sich der XII. Zivilsenat zu befassen.

   Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beklagte hat gegen das ihr am 2. Mai 2022 zugestellte Urteil des Landgerichts, durch das sie zur Zahlung von Miete in Höhe von insgesamt 22.751,80 € nebst Zinsen verurteilt worden ist, fristgerecht Berufung eingelegt. Mit am 4. Juli 2022, einem Montag, beim OLG eingegangenem Schriftsatz hat sie die Verlängerung der Begründungsfrist um einen Monat bis zum 4. August 2022 beantragt. Das OLG hat die Begründungsfrist unter Ablehnung des weitergehenden Antrags bis einschließlich 2. August 2022 verlängert. Mit am 4. August 2022 beim OLG eingegangenem Schriftsatz hat die Beklagte ihre Berufung begründet. Nach Hinweis des OLG hat sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Die langjährig im Büro ihres Prozessbevollmächtigten tätige, erfahrene Kanzleimitarbeiterin G. habe die Frist bei der Beantragung der Fristverlängerung entsprechend der allgemeinen Praxis in der Kanzlei im schriftlichen Kalender, dem über Microsoft Outlook geführten digitalen Kalender und im Rechtsanwaltsprogramm advoware als neue Vor- und Ablauffrist auf den 4. August 2022 notiert. Die Bewilligung der Fristverlängerung bis zum 2. August 2022 sei dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt am 7. Juli 2022 zugegangen und von ihm in das Programm advoware importiert worden. Danach habe er die Mitarbeiterin G. angewiesen, die bereits bezogen auf den 4. August 2022 eingetragenen Vor- und Ablauffristen auf den 2. August 2022 zu korrigieren. Vom 25. Juli bis zum 2. August 2022 sei er aufgrund einer Corona-Erkrankung nicht im Büro gewesen. Nach seiner Rückkehr sei ihm die Akte zu der nach wie vor auf den 4. August 2022 notierten Ablauffrist vorgelegt worden, weil die Mitarbeiterin G. die Fristen entgegen seiner Anweisung nicht vom 4. auf den 2. August 2022 korrigiert habe. Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag abgelehnt und die Berufung verworfen.    

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen des § 233 Satz 1 ZPO für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung sind nicht erfüllt. Nach § 233 Satz 1 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ist der Partei zuzurechnen (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen, der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt. Verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet.  

So liegt der Fall hier. Nach dem Vorbringen zum Wiedereinsetzungsantrag ist ein der Beklagten nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Fristversäumung nicht auszuschließen. Dies gilt bereits für das Vorbringen der Beklagten zur Fristenkontrolle durch ihren Prozessbevollmächtigten. Die Sorgfaltspflicht verlangt von einem Rechtsanwalt mit Blick auf das Fristenwesen alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Die Berechnung und Notierung von Fristen kann zwar einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Der Rechtsanwalt hat jedoch durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den für eine Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in alle geführten Fristenkalender eingetragen worden sind. Die Anforderungen an das Fristenwesen gelten dabei unabhängig davon, ob die Handakte in herkömmlicher Form als Papierakte oder als elektronische Akte geführt wird.  

Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen. Für den Fall eines Fristverlängerungsantrags bestehen zudem weitere Anforderungen an das Fristenwesen. In diesen Fällen muss als zusätzliche Fristensicherung auch das hypothetische Ende der beantragten Fristverlängerung bei oder alsbald nach Einreichung des Verlängerungsantrags im Fristenbuch eingetragen, als vorläufig gekennzeichnet und rechtzeitig - spätestens nach Eingang der gerichtlichen Mitteilung - überprüft werden, damit das wirkliche Ende der Frist festgestellt und notiert werden kann. Eine diese Anforderungen erfüllende Kanzleiorganisation ihres Prozessbevollmächtigten hat die Beklagte nicht dargetan. Denn das OLG hat jedenfalls zu Recht beanstandet, aus dem Vorbringen der Beklagten ergebe sich nicht, dass nach den kanzleiinternen Vorgaben im Falle eines Fristverlängerungsantrags - wie erforderlich - das hypothetische Ende der beantragten Fristverlängerung zunächst als nur vorläufig gekennzeichnet in den Fristenkalender einzutragen sei. Richtig hat es insoweit angenommen, dass unter diesem Gesichtspunkt ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Beklagten an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht ausgeschlossen werden kann. Entgegen der Auffassung der Beklagten lässt die durch den sachbearbeitenden Rechtsanwalt erteilte Einzelanweisung an die Mitarbeiterin G., die eingetragenen Fristen nach Maßgabe der vom OLG gewährten Fristverlängerung zu korrigieren, den Verschuldensvorwurf nicht entfallen. Zwar weist die Rechtsbeschwerde im Ausgangspunkt zutreffend darauf hin, dass es auf unzureichende allgemeine organisatorische Vorkehrungen oder Anweisungen für die Fristwahrung nicht mehr ankommt und ein der Partei zuzurechnendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ausscheidet, wenn dieser seiner bislang zuverlässigen Kanzleikraft eine konkrete Einzelanweisung erteilt hat, die bei ihrer Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte. Auch darf der Rechtsanwalt jedenfalls grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Kanzleikraft, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt. Betrifft die Anweisung indes einen so wichtigen Vorgang wie die Eintragung einer Rechtsmittelfrist und wird sie nur mündlich erteilt, müssen allerdings ausreichende Vorkehrungen dagegen getroffen sein oder werden, dass die Anweisung - etwa im Drang der übrigen Geschäfte - in Vergessenheit gerät und die Fristeintragung unterbleibt. Durch eine klare und präzise Anweisung im Einzelfall, die Rechtsmittelbegründungsfrist sofort und vor allen anderen Aufgaben im Fristenkalender einzutragen, wird in diesen Fällen eine ausreichende Vorkehrung getroffen. Dies gilt insbesondere dann, wenn weiter eine allgemeine Büroanweisung besteht, einen solchen Auftrag stets vor allen anderen Aufgaben zu erledigen. Ausgehend hiervon hat die Beklagte ein fehlendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten nicht dargetan. Denn ihren Ausführungen lässt sich schon nicht entnehmen, ob die Einzelanweisung des sachbearbeitenden Rechtsanwalts an die Mitarbeiterin G. mündlich oder schriftlich erfolgt ist und ob diese dahin ging, sofort und vor allen anderen Aufgaben die Vor- und Ablauffrist bezogen auf den 2. August 2022 zu korrigieren.

Rechtsfehlerfrei ist das OLG zudem davon ausgegangen, dass ein der Beklagten nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden iSd § 233 Satz 1 ZPO auch durch deren Vortrag zur Büroabwesenheit des sachbearbeitenden Rechtsanwalts wegen einer Corona-Erkrankung in der Zeit vom 25. Juli bis zum 2. August 2022 zumindest nicht ausgeschlossen ist. Ein Rechtsanwalt hat im Rahmen seiner Organisationspflichten allgemeine Vorkehrungen dafür zu treffen, dass im Falle seiner Erkrankung ein Vertreter die notwendigen Prozesshandlungen vornimmt. Auf einen krankheitsbedingten Ausfall muss er sich aber nur dann durch konkrete Maßnahmen vorbereiten, wenn er eine solche Situation vorhersehen kann. Wird er dagegen unvorhergesehen krank, gereicht ihm eine unterbleibende Einschaltung eines Vertreters nicht zum Verschulden, wenn ihm diese weder möglich noch zumutbar war. Hierzu enthält der Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten keine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, die nach den vorstehenden Maßstäben ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ausschließen könnte. Er lässt weder erkennen, ob im Rahmen der Kanzleiorganisation allgemeine Vorkehrungen zur Vertretung im Krankheits- oder Verhinderungsfall des sachbearbeitenden Rechtsanwalts durch den weiteren in der Kanzlei tätigen Rechtsanwalt oder einen anderen Kollegen getroffen waren, noch welche Maßnahmen im konkreten Einzelfall aufgrund der Büroabwesenheit des sachbearbeitenden Rechtsanwalts von über einer Woche (vgl. § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO) ergriffen wurden. Ebenso fehlt Vortrag dazu, warum die Sache einem etwa bestellten Krankheitsvertreter nicht zur Vorfrist vorgelegt wurde. Das Versäumnis des Prozessbevollmächtigen der Beklagten, allgemeine Vorkehrungen für eine Vertretung im Krankheitsfall zu treffen und für eine rechtzeitige Vorlage von Fristsachen an diese zu sorgen, ist für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist (mit-)ursächlich. Wäre die Akte einem Vertreter zur Vorfrist, die hier spätestens eine Woche vor Ablauf der notierten Begründungsfrist am 4. August 2022, mithin spätestens am 28. Juli 2022 ablief, vorgelegt worden, hätte diesem auffallen müssen, dass der Ablauf der Berufungsbegründungsfrist noch auf den 4. August 2022 notiert und nicht entsprechend der gerichtlichen Bewilligung auf den 2. August 2022 korrigiert worden war. Es hätte dann in seiner Verantwortung gelegen, die Berufung fristgerecht zu begründen oder nach Einholung der Einwilligung des gegnerischen Prozessbevollmächtigten (§ 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO) rechtzeitig einen weiteren Fristverlängerungsantrag zu stellen. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die (Mit-)Ursächlichkeit der unzureichenden Kanzleiorganisation im Zusammenhang mit der Verhinderung des sachbearbeitenden Rechtsanwalts auch nicht in Ansehung der trotz Einzelanweisung von der Kanzleikraft nicht vorgenommenen Fristenkorrektur entfallen. Denn die Vorlage der Akte zur Vorfrist, die gerade sicherstellen soll, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist bleibt, hätte eine fristgerechte Berufungsbegründung bis zum 2. August 2022 gewährleisten können, ohne dass es auf die versäumte Korrektur der Fristen in den Fristenkalendern angekommen wäre.

   Kontext der Entscheidung

Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag hat die Partei daher einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt; verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet (BGH, Beschluss vom 6. September 2023 – IV ZB 4/23 –, Rn. 11, mwN.). Überträgt ein Rechtsanwalt die Notierung von Fristen einer Kanzleikraft, muss er durch geeignete organisatorische Maßnahmen oder durch konkrete Einzelanweisung sicherstellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Bei notwendiger Korrektur einer Rechtsmittelfrist muss eine mündliche Einzelanweisung klar und präzise beinhalten, dass die Frist sofort und vor allen anderen Aufgaben im Fristenkalender zu korrigieren ist. Durch eine klare und präzise Anweisung im Einzelfall, die Rechtsmittelbegründungsfrist sofort und vor allen anderen Aufgaben im Fristenkalender einzutragen, wird in diesen Fällen eine ausreichende Vorkehrung getroffen, insbesondere dann, wenn weiter eine allgemeine Büroanweisung besteht, einen solchen Auftrag stets vor allen anderen Aufgaben zu erledigen (BGH, Beschluss vom 11. März 2020 – XII ZB 446/19 –, mwN.).

   Auswirkungen für die Praxis

Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2023 - VI ZB 53/22). Die ordnungsgemäße Bearbeitung einer Sache nach Vorlage der Akte zur Vorfrist stellt eine fristgerechte Einreichung einer Rechtsmittelbegründung sicher, ohne dass es auf eine (eventuell) versäumte Eintragung der Begründungsfrist im Fristenkalender ankommt (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2023 – XII ZB 418/22 –, Rn. 17).

13.12.2023
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BGH: Zur Aufrechungslage nach Kündigung des Bauvertrags

1. Führt eine vom Besteller ausgesprochene Kündigung eines Bauvertrags aus wichtigem Grund dazu, dass sich die Forderung des Schuldners auf Werklohn und eine Gegenforderung auf Schadensersatz wegen Fertigstellungsmehrkosten aus einem anderen Vertragsverhältnis aufrechenbar gegenüberstehen, ist die Herstellung der Aufrechnungslage gläubigerbenachteiligend.

2. Die Wirksamkeit der Kündigung steht der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage nicht entgegen.

BGH, Urteil vom 19. Oktober 2023 – IX ZR 249/22

Problemstellung

Der für das Insolvenzrecht zuständige IX. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob ein Auftraggeber, der den Bauvertrag nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B gekündigt hat, weil der Auftragnehmer Insolvenzantrag gestellt hatte, gegen den vom Verwalter klageweise geltend gemachten Vergütungsanspruch mit dem Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung des Restes gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 VOB/B aufrechnen darf.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 6. Februar 2018 am 1. Mai 2018 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH (Schuldnerin), die von der Beklagten im August 2017 auf der Grundlage zweier Auftragsschreiben mit Metallbauarbeiten worden war. Nachdem die Beklagte von dem Insolvenzantrag der Schuldnerin Kenntnis erlangt hatte, kündigte sie mit Schreiben vom 9. März 2018 die beiden Verträge gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B außerordentlich fristlos und nahm am 21. März 2018 die bereits erbrachten Arbeiten ab. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung restlichen Werklohns für Metallbauarbeiten der Schuldnerin gemäß zweier Schlussrechnungen vom 28. März 2018 in Höhe von insgesamt 182.464,43 € in Anspruch. Die Beklagte rechnet mit streitigen Schadensersatzansprüchen aus einem anderen, ebenfalls mit dem Schreiben vom 9. März 2018 gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B außerordentlich fristlos gekündigten Bauvorhaben in Höhe von 383.103,55 € auf. Das Landgericht hat unter Berücksichtigung von Abzügen wegen nicht erbrachter Teilleistungen der Klage in Höhe von 172.952,61 € stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat nur insoweit Erfolg gehabt, als hinsichtlich eines Betrags von 10.204,88 € eine Verurteilung Zug um Zug gegen Stellung von Gewährleistungsbürgschaften ausgesprochen wurde. Die Aufrechnung der Beklagten sei nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO iVm. § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO unzulässig, weil die Beklagte die Möglichkeit der Aufrechnung durch ihre in Kenntnis des Eigenantrags erklärte Sonderkündigung erlangt habe. Aus der Wirksamkeit der Sonderkündigung folge nicht, dass der Auftraggeber mit seinem an diese anknüpfenden Mehrkostenerstattungsanspruch auch aufrechnen könne. Die Herbeiführung einer Aufrechnungslage könne auch dann anfechtbar sein, wenn das Kündigungsrecht außer Frage stehe.

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass gegenüber den Vergütungsansprüchen der Schuldnerin die Aufrechnung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO insolvenzrechtlich unzulässig ist. Gegenstand der Anfechtung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist das Herstellen der Aufrechnungslage. Da § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO auf die allgemeinen Vorschriften über die Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff InsO) Bezug nimmt, müssen sämtliche Merkmale einer anfechtbaren Rechtshandlung erfüllt sein. Als Rechtshandlung kommt jede Handlung in Betracht, die zum Entstehen der Aufrechnungslage führt, insbesondere die Kündigung eines Vertrags. Durch die in Kenntnis des Eröffnungsantrags der Schuldnerin erklärte, auf § 8 Abs. 2 (Nr. 1 Fall 2) VOB/B gestützte Kündigung vom 9. März 2018 hat die Beklagte eine Aufrechnungslage mit etwaigen Gegenforderungen aus § 8 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 VOB/B hergestellt. Ob das Erlangen der Aufrechnungslage eine kongruente oder inkongruente Deckung darstellte, kann dahinstehen; denn es liegen in jedem Fall die Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO vor. Als Auffangtatbestand erfasst die Regelung des § 130 InsO auch inkongruente Deckungen.  

Die Beklagte meint, die Aufrechnungslage sei nicht durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt. An einer Benachteiligung fehle es, weil die Einbeziehung des § 8 Abs. 2 VOB/B in den Vertrag der Schuldnerin keine Vermögensnachteile auferlegt habe, die über die gesetzlichen und richterrechtlich anerkannten Folgen hinausgingen. Da im Übrigen eine Unausgewogenheit des Bauvertrags nicht ersichtlich sei, scheide eine insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit aus. Der Kläger macht indessen keine (Teil-)Anfechtung des Bauvertrags geltend, sondern beruft sich auf die insolvenzrechtliche Unzulässigkeit der Aufrechnung. Die Wirksamkeit der insolvenzabhängigen Lösungsklausel des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VOB/B und der Bestimmung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B in Bezug auf §§ 103, 119 InsO sowie auf § 307 Abs. 1, 2 BGB ist von der vorliegend zu entscheidenden Frage der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage zu trennen. Die insolvenzrechtliche Unwirksamkeit ergreift nur die gläubigerbenachteiligende Wirkung der Herstellung der Aufrechnungslage, nicht jedoch das Grundgeschäft (hier: die Kündigung). Nach § 143 Abs. 1 InsO ist nur dasjenige zur Insolvenzmasse zurückzugewähren, was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben worden ist, also der eingetretene Erfolg als solcher. Besteht die objektive Gläubigerbenachteiligung nur in einer einzelnen, abtrennbaren Wirkung einer einheitlichen Rechtshandlung, darf deren Rückgewähr nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, dass die Handlung auch sonstige, für sich nicht anfechtbare Folgen ausgelöst habe. Einen Rechtsgrundsatz, dass mehrere Wirkungen einer Rechtshandlung nur ganz oder gar nicht anfechtbar seien, gibt es im Insolvenzrecht nicht. Die Erlangung der Aufrechnungsmöglichkeit durch eine anfechtbare Rechtshandlung wird genauso beurteilt, wie wenn das Insolvenzverfahren im Zeitpunkt des Erwerbs der Forderung bereits eröffnet gewesen wäre. Der Verwalter kann sich unmittelbar auf die Unwirksamkeit der Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO berufen. Auf diesem Wege kann der Insolvenzverwalter die Forderung der Masse, gegen die aufgerechnet worden ist, durchsetzen, als sei die Aufrechnung nicht erfolgt.  

Ohne Erfolg rügt die Revision weiter, es fehle an einer objektiven Gläubigerbenachteiligung, weil die Kündigung Voraussetzung für die vom Kläger erhobene Restwerklohnforderung und zugleich für das Entstehen des Schadensersatzanspruchs wegen der Fertigstellungsmehrkosten gewesen sei. Die gläubigerbenachteiligende Wirkung, die mit der Herstellung einer Aufrechnungslage eintritt, kann selbständig angefochten werden. Die gemäß § 129 Abs. 1 InsO erforderliche Gläubigerbenachteiligung ist beim Herstellen der Aufrechnungslage regelmäßig schon deshalb zu bejahen, weil die Forderung der Masse im Umfang der Aufrechnung zur Befriedigung einer einzelnen Insolvenzforderung verbraucht wird und insoweit nicht mehr für die Verteilung der Masse zur Verfügung steht. Der Masse entgeht dadurch die Differenz zwischen dem Nennwert der Forderung der Masse und der Quote auf die Gegenforderung des Insolvenzgläubigers. Eine Kündigung hat die Benachteiligung der Insolvenzgläubiger zur Folge, wenn sie - wie hier - zu der Möglichkeit der Aufrechnung führt, welche die Hauptforderung der Gesamtheit der Gläubiger entzog. In der Möglichkeit der Befriedigung durch Aufrechnung, welche den üblicherweise eintretenden Zufluss des Werklohns für die erbrachten Arbeiten an die haftende Masse ausschließt, wodurch die anderen Gläubiger benachteiligt werden, liegt eine objektive Gläubigerbenachteiligung. Eine Saldierung der Vor- und Nachteile findet im Insolvenzverfahren grundsätzlich nicht statt; eine Vorteilsausgleichung nach schadensersatzrechtlichen Grundsätzen ist im Insolvenzanfechtungsrecht grundsätzlich nicht zulässig. Vielmehr ist der Eintritt der Gläubigerbenachteiligung isoliert in Bezug auf die konkret bewirkte Minderung des Aktivvermögens oder die Vermehrung der Passiva des Schuldners zu beurteilen. Daher schließt es die Gläubigerbenachteiligung nicht aus, wenn die Werklohnforderung, gegen die die Beklagte aufgerechnet hat, erst durch die angefochtene Rechtshandlung fällig geworden ist.

Kontext der Entscheidung

Die Wirksamkeit der insolvenzabhängigen Lösungsklausel in § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B war lange umstritten. Insoweit bestehen Differenzen zwischen dem für das Bauvertragsrecht zuständigen VII. und dem für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenat. Zuletzt hat der IX. Zivilsenat entschieden, dass eine insolvenzabhängige Lösungsklausel unwirksam ist, wenn der insolvenzabhängige Umstand für sich allein die Lösung vom Vertrag ermöglicht und die Lösungsklausel in Voraussetzungen oder Rechtsfolgen von gesetzlichen Lösungsmöglichkeiten abweicht, ohne dass für diese Abweichungen bei objektiver Betrachtung ex ante zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses auf der Grundlage der wechselseitigen Interessen der Parteien berechtigte Gründe bestehen (BGH, Urteil vom 27. Oktober 2022 – IX ZR 213/21). Dass eine insolvenzabhängige Lösungsklausel bei Verträgen über die fortlaufende Lieferung von Waren oder Energie nach § 119 InsO unwirksam ist, wenn sie im Voraus die Anwendung des § 103 InsO ausschließt, hatte der IX. Zivilsenat bereits 2012 entschieden. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Vereinbarung einer gesetzlich vorgesehenen Lösungsmöglichkeit entspricht (BGH, Urteil vom 15. November 2012 – IX ZR 169/11, Rn. 13; dazu: Schwenk, jurisPR-BKR 5/2013 Anm. 1). Die Entscheidung darf jedoch nicht verabsolutiert werden. Sie gilt nur für die fortgesetzte Belieferung mit Waren und Energie (Hain, jurisPR-InsR 3/2023 Anm. 1). Daher steht das später ergangene Urteil des VII. Zivilsenats zum insolvenzbedingten Kündigungsrecht in § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B (2009) nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des IX. Zivilsenats. Danach sind die in einen Bauvertrag einbezogenen Regelungen des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 iVm. § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B (2009) nicht gemäß § 134 BGB wegen Verstoßes gegen §§ 103, 119 InsO unwirksam (BGH, Urteil vom 7. April 2016 – VII ZR 56/15 –, Rn. 24; dazu: Retzlaff, jurisPR-BGHZivilR 10/2016 Anm. 1). Die im Anschluss an das Urteil des IX. Zivilsenats vom 27. Oktober 2022 erhobene triumphalistische Behauptung „Insolvenzsenat folgt Bausenat“ (Schmitz IBR 2023, 100) war indes zumindest voreilig, wie das aktuelle Urteil des IX. Zivilsenates zeigt. Mit diesem Urteil verlagert der IX. Zivilsenat die Lösung der Problematik auf eine andere Ebene. Zentral ist die Aussage des Urteils: „Die Wirksamkeit der insolvenzabhängigen Lösungsklausel des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VOB/B und der Bestimmung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B in Bezug auf §§ 103, 119 InsO sowie auf § 307 Abs. 1, 2 BGB ist von der vorliegend zu entscheidenden Frage der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage zu trennen. Die insolvenzrechtliche Unwirksamkeit ergreift nur die gläubigerbenachteiligende Wirkung der Herstellung der Aufrechnungslage, nicht jedoch das Grundgeschäft (hier: die Kündigung).“ (BGH, Urteil vom 19. Oktober 2023 – IX ZR 249/22 –, Rn. 10). Das Ergebnis – die Unwirksamkeit der Aufrechnung – überzeugt, weil durch die Zulassung der Aufrechnung eine Privilegierung des Aufrechnungsgläubigers eintreten würde, dessen Gegenforderung in voller Höhe berücksichtigt würde, während die anderen Gläubiger des Schuldners Befriedigung nur in Höhe der Insolvenzquote erfahren. Durch die Zulassung der Aufrechnung würde der insolvenzrechtliche Grundsatz der par conditio creditorum verletzt.

Auswirkungen für die Praxis

Die zur Aufrechnung gestellte Forderung entstammte einem anderen - ebenfalls mit dem Schreiben vom 9. März 2018 gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B außerordentlich fristlos gekündigten - Vertragsverhältnis der Parteien (Rn. 1). Die Anfechtbarkeit der Aufrechnung muss aber ebenso eintreten, wenn die zur Aufrechnung gestellte Forderung aus demselben Vertragsverhältnis entstammt, aus dem der Verwalten Ansprüche geltend macht. Jedoch tritt dann eine andere Frage auf, die sich bei unterschiedlichen Vertragsverhältnissen nicht stellt. Denn der VII. Zivilsenat hat noch zur Gesamtvollstreckungsordnung entschieden, dass es an einer Gläubigerbenachteiligung fehle, wenn die Kündigung des Bestellers dazu führe, dass dessen Schadensersatzanspruch durchsetzbar entstanden, sie andererseits aber auch notwendige Voraussetzung für die Fälligkeit der Werklohnforderung des Schuldners gewesen sei (BGH, Urteil vom 23. Juni 2005 – VII ZR 197/03 –, Rn. 27). Diese Rechtsprechung ist in ihren wesentlichen Aussagen auf die InsO übertragbar (Dziesiaty, jurisPR-InsR 2/2006 Anm. 3). Der IX. Zivilsenat lässt zunächst ausdrücklich dahinstehen, ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, was wohl als Hinweis des IX. Zivilsenats dahin zu werten ist, dass er die Auffassung der VII. ZS nicht teilt. Eine Anfrage an den VII. Zivilsenat gemäß § 132 Abs. 3 GVG brauchte der IX. Zivilsenat aber nicht zu stellen, weil die Rechtsprechung des VII. Zivilsenats jedenfalls nicht den Fall betrifft, dass die einander aufrechenbar gegenüberstehenden Forderungen aus unterschiedlichen Verträgen stammen. Im Streitfall folgen die Gegenforderungen aus einem anderen Vertragsverhältnis, dessen außerordentlich fristlose Kündigung auf die Fälligkeit der Hauptforderung des Schuldners keinen Einfluss hatte (BGH, Urteil vom 19. Oktober 2023 – IX ZR 249/22 –, Rn. 15).  

13.12.2023
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Anspruch auf Bauhandwerkersicherheit auch nach Kündigung des Bauvertrages

1. Der Anspruch auf Stellung einer Sicherheit gem. § 650f Abs. 1 BGB besteht auch nach Kündigung des Vertrags durch den Unternehmer gem. § 650f Abs. 5 BGB fort. Auch nach einer Kündigung kann der Unternehmer daher wegen seines offenen Vergütungsanspruchs - wie er sich infolge der Kündigung berechnet - neben oder vor der Klage auf Zahlung der Vergütung eine Klage auf Sicherheit anhängig machen.

2. Ein Teilurteil über eine (Wider)-klage, mit der ein Anspruch auf Sicherheitsleistung gem. § 650f BGB geltend gemacht wird, ist nicht deshalb unzulässig, weil die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen in Bezug auf den Gegenstand der Klage besteht. Zur Erreichung des Gesetzeszwecks ist wegen der Eilbedürftigkeit des Sicherungsanspruchs ein Ausnahmefall anzunehmen, der es rechtfertigt, einen etwaigen Widerspruch zwischen Teilurteil und Endurteil hinzunehmen.

OLG München, Beschluss vom 3. August 2023 – 28 U 1119/23 Bau e 

Problemstellung

Das Oberlandesgericht hatte zu entscheiden, ob der Anspruch des Unternehmers auf Stellung einer Sicherheit gem. § 650f Abs. 1 BGB auch nach Kündigung des Vertrags gem. § 650f Abs. 5 BGB durch den Unternehmer weiter besteht.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Parteien streiten über die Gewährung einer Sicherheit nach § 650f BGB. Das Landgericht hat im Wege des Teilurteils die Beklagte verurteilt, der Klägerin für Vergütungsansprüche Sicherheit zu leisten, für Ansprüche aus einem Architektenvertrag für das Bauvorhaben A. eine Sicherheit in Höhe von 95.000 € und für Vergütungsansprüche aus dem Architektenvertrag B. eine weitere Sicherheit in Höhe von 80.000 €. Beide Architektenverträge wurden am 21.12.2018 geschlossen, mit Schreiben vom 30.3.2022 hatte die Klägerin für offene Zahlungsansprüche Sicherheit nach § 650f BGB verlangt und Frist für die Erbringung der Sicherheit bis zum 12.4.2022 gesetzt. Das Sicherheitsverlangen wurde durch die Beklagten zurückgewiesen am 14.4.2022, am 19.4.2022 kündigte die Klägerin wegen verweigerter Stellung einer Sicherheit beide Architektenverträge und wies darauf hin, dass weiterhin die Sicherheit trotz Kündigung verlangt werde.    

Die Berufung der Beklagten rügt zunächst die Entscheidung durch Teilurteil. Es bestehe die Gefahr widersprechender Entscheidungen. Ferner habe das Landgericht nicht dem Umstand ausreichend Rechnung getragen, dass es sich hier um eine Kündigung der Klägerin gehandelt habe, da deswegen das Sicherheitsbedürfnis entfalle. Ein Anspruch auf Sicherheitsleistung bestehe nicht, wenn es sich um eine Kündigung durch den Unternehmer handele. Die Klägerin habe im Übrigen ihren Sicherheitsanspruch fehlerhaft berechnet, die Vergütung sei jedenfalls nicht schlüssig dargelegt. Mit der Widerklage macht die Beklagte Mangelansprüche gegen die Klägerin geltend.  

Der Senat hat Beklagte darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat (OLG München, Beschluss vom 19. Juni 2023 – 28 U 1119/23 Bau e). Ein Teilurteil über die Klage kann ergehen, wenn diese zur Endentscheidung reif und von der Entscheidung über die Widerklage unabhängig ist. Eine Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht bei der Entscheidung über die Sicherheit im Verhältnis zu geltend gemachten Mängelansprüchen nicht. Der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift des § 650f BGB dem Unternehmer die Möglichkeit eröffnen, möglichst schnell und effektiv vom Besteller Sicherheit für den Fall zu erhalten, dass dieser ihn nicht bezahlt (BGH, Urteil vom 20. Mai 2021 – VII ZR 14/20 –, Rn. 23). Ein Teilurteil über eine (Wider)-klage, mit der ein Anspruch auf Sicherheitsleistung gem. § 648 a BGB aF geltend gemacht wird, ist nicht deshalb unzulässig, weil die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen in Bezug auf den Gegenstand der Klage besteht. Zur Erreichung des Gesetzeszwecks ist wegen der Eilbedürftigkeit des Sicherungsanspruchs ein Ausnahmefall anzunehmen, der es rechtfertigt, einen etwaigen Widerspruch zwischen Teilurteil und Endurteil hinzunehmen. Dies gilt auch im vorliegenden Fall. Mit der Klage hat die Klägerin einen Anspruch auf Sicherheit geltend gemacht. Gegen diesen Anspruch bringt die Beklagte im Wege der Widerklage Mängelansprüche vor, deren Volumen das Sicherungsbegehren erheblich übersteigt, vor. Das Risiko widersprechender Entscheidung besteht bereits deswegen nicht, weil der Gegenstand der Klage lediglich die Sicherheit für vertraglich vereinbarte Vergütungsansprüche ist, nicht aber die Entscheidung über den tatsächlichen Vergütungsanspruch und damit dessen Erfüllung darstellt. Eine abschließende Entscheidung über die Höhe des Vergütungsanspruchs wird nicht getroffen. Vielmehr wird mit dem Teilurteil eine vorläufige Absicherung der Klägerin in Bezug auf ihren Vergütungsanspruch bewirkt. Zudem ist der oben genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu entnehmen, dass die zügige Absicherung des Unternehmers entscheidendes Ziel des § 650f BGB ist. Das berechtigte Anliegen der Beklagten, die behauptete Mangelhaftigkeit der Werkleistung bei der abschließenden Ermittlung des Vergütungsanspruchs berücksichtigt zu wissen, hat im Verhältnis zum Sicherungsanspruch zurückzutreten und muss im Zweifel gesondert entschieden werden.  

Der Berechtigung des Sicherungsverlangens der Klägerin steht nicht entgegen, dass die Klägerin die in Frage stehenden Architektenverträge nach Fristablauf in Bezug auf die begehrte Sicherheitsleistung gekündigt hat. Folge der Nichterfüllung eines berechtigten Sicherungsverlangens ist gem. § 650f Abs. 5 S. 1 BGB ein Kündigungsrecht in Bezug auf den geschlossenen Werkvertrag. Dabei handelt es sich um einen Sonderfall einer Kündigung aus wichtigem Grund, die Kündigung beendet den Vertrag mit ex-nunc Wirkung. Folge ist auch ein Vergütungsanspruch nach Maßgabe des § 650f Abs. 5 S. 2 BGB für den gekündigten Teil des Vertrages. Die Klägerin durfte Sicherheit gemäß § 650 f BGB verlangen. Zwischen den Parteien wurden zwei Architektenverträge abgeschlossen. Die Klägerin ist sicherungsberechtigt, die Beklagte zur Sicherung verpflichtet gemäß §§ 650 f, 650q Abs. 1 BGB. Gesichert sind Vergütungsansprüche und Ansprüche, die anstelle von Vergütungsansprüche treten. Anhaltspunkte für ein treuwidriges Sicherungsverlangen ergeben sich nach Auffassung des Senats nicht. Durch die Kündigung des Vertrages nach § 650f Abs. 5 S. 2 BGB erlischt der Anspruch auf Sicherheitsleistung nicht. Die Kündigung des Vertrags beschränkt den Umfang der vom Auftragnehmer geschuldeten Werkleistung auf den bis zur Kündigung erbrachten Teil und seinen Vergütungsanspruch auf diesen Leistungsteil der ursprünglich geschuldeten Leistung. Die Kündigung teilt den Vertrag in zwei Vertragsteile auf, für die bereits erbrachten Leistungen besteht weiterhin ein Vergütungsanspruch nach §§ 650q, 631 BGB, für die Ansprüche nach Kündigung in Bezug auf nicht erbrachte Leistungen orientiert sich der Vergütungsanspruch an §§ 650q, 650f Abs. 5 S. 2 BGB. Eine Vorleistungspflicht des Auftragnehmers ist nicht Voraussetzung für einen Anspruch auf Sicherheit nach § 650f BGB. Bis zur Gesetzesänderung vom 1.1.2009 konnte das Sicherungsinteresse entfallen, wenn feststand, dass die abzusichernde Leistung nicht mehr erbracht werden würde. Seit der Rechtsänderung vom 1.1.2009 ist dies nicht Voraussetzung, so dass auch im Fall der Kündigung des Vertrages das Sicherungsbedürfnis der Klägerin nicht entfällt. Auch nach einer Kündigung des Bauvertrags kann der Unternehmer Sicherheit nach § 650f BGB verlangen. Die Berechtigung, weiterhin Sicherheit zu verlangen, auch wenn der Vertrag gekündigt ist, ergibt sich aus § 650f Abs. 1 BGB, wie das Landgericht zutreffend feststellt. Ein Anspruch auf Leistung einer Sicherheit ist im Vertrag als verhaltener Anspruch angelegt und wird mit dem Verlangen der Sicherheit fällig. Seine Geltendmachung steht - wie der Wortlaut der Vorschrift zeigt - im Belieben des Unternehmers. Dieser kann eine Sicherheit für die auch in Zusatzaufträgen vereinbarte noch nicht gezahlte Vergütung oder an deren Stelle tretende Ansprüche bis zum Wegfall seines Sicherungsbedürfnisses grundsätzlich jederzeit und unabhängig von einer etwaig erfolgten Abnahme seiner Leistungen oder bestehenden (Nach-)Erfüllungsansprüchen des Bestellers verlangen. Der Anspruch erlischt auch nicht durch die Kündigung des Unternehmers, da dies nicht eine Wirkung der Kündigung ist. Aus dem Gesetzeswortlaut des § 650f Abs. 5 BGB lässt sich eine solche Folge nicht entnehmen. Hier werden, wie auch im § 648 BGB die Auswirkungen der Kündigung auf den Vergütungsanspruch beschrieben. Auch würde dies dem Gesetzeszweck vollständig zuwiderlaufen. Das Recht und die Möglichkeit auf eine unterbliebene Sicherheitsleistung durch den Besteller zu reagieren, würde ausgehöhlt, wenn als Konsequenz der Unternehmerkündigung, die der Gesetzgeber ausdrücklich als Reaktionsmöglichkeit neben dem Leistungsverweigerungsrecht vorsieht, der Sicherungsanspruch entfiele. Ein Unternehmer würde auf diese Weise von der Ausübung des Kündigungsrechts abgehalten.

Der Anspruch der Kläger ist schlüssig vorgetragen. Das Gesetz gewährt dem Unternehmer einen Anspruch in Höhe der vereinbarten und noch nicht gezahlten Vergütung. Begehrt der Unternehmer eine Sicherheit für die vereinbarte Vergütung, muss er diese schlüssig darlegen. Das gilt auch für die ihm nach einer Kündigung zustehende Vergütung. Auch diese ergibt sich aus der dem Vertrag zu Grunde liegenden Vereinbarung und ist deshalb die vereinbarte Vergütung iSd § 648 a Abs. 1 BGB. Diesen Anforderungen wird die Klage der Kläger nach Maßgabe der Einschränkungen, die durch das Landgericht zutreffend vorgenommen wurden, gerecht. Nachvollziehbar hat das Landgericht die Stundenhonorarforderungen herausgenommen. Im übrigen kann die Höhe der Vergütungsforderung der vorgelegten Schlussrechnung plausibel entnommen werden. Die vom Unternehmer im Hinblick auf eine Sicherheitenklage u. U. beschleunigt zu erstellende Schlussrechnung ist eine taugliche Grundlage für die Feststellung der abzusichernden Forderung, sofern darin der Unternehmer den von ihm beanspruchten Vergütungsanspruch als Grundlage seines Sicherungsverlangens schlüssig abrechnet. Mit Einwendungen gegen die Höhe des Sicherungsanspruchs wird die Beklagte nicht gehört. Ohne Einfluss auf die Höhe der Sicherheit ist der Umstand, dass - wie durch die Beklagte zum Ausdruck gebracht - der Unternehmer ggf. die Leistung nicht vertragsgemäß oder mangelhaft erbracht hat, § 650f Abs. 1 S. 3 BGB.  

Mit Beschluss vom 3.08.2023 hat der Senat die Berufung zurückgewiesen (OLG München, Beschluss vom 3. August 2023 – 28 U 1119/23 Bau e). Die Ausführungen der Beklagten in der Gegenerklärung sind nicht geeignet, die im Ersturteil und im Hinweisbeschluss ausgeführten Argumente zu entkräften bzw. der Berufung zum Erfolg zu verhelfen. Mit der Gegenerklärung wendet sich die Beklagte vertieft gegen die bereits im Hinweisbeschluss vom 19.06.2023 enthaltene Auffassung des Senats, dass die Klägerin weiterhin einen Anspruch auf Sicherheit nach § 650f Abs. 1 BGB hat, obwohl der Vertrag gen. § 650f Abs. 5 S. 1 BGB wegen Nichtleistung der Sicherheit gekündigt wurde. Der Anspruch auf Stellung einer Sicherheit gem. § 650f Abs. 1 BGB geht auch nach Kündigung des Vertrages nach § 650f Abs. 5 S. 1 BGB nicht unter. Ziel des § 650f BGB, wie auch der Vorgängervorschrift des § 648a BGB, ist die frühzeitige Sicherung des Unternehmers in Hinblick auf Vergütungsansprüche auch im Fall einer Insolvenz des Bestellers. Der Gesetzgeber wollte dem Unternehmer die Möglichkeit eröffnen, möglichst schnell und effektiv vom Besteller eine Sicherheit für den Fall erlangen zu können, dass der Besteller ihn nicht bezahlt (vgl. Begründung zu § 648a a.F., BT Drs. 16, 511, 1). § 650f BGB verfolgt nunmehr den Zweck, die Sicherung effektiver auszugestalten und die Unternehmerrechte zu stärken. Er räumt dem Unternehmer einen Anspruch auf die Sicherheit ein, der folglich auch einklagbar ist. Diesem Gesetzeszweck liefe es zuwider, wenn der Anspruch auf Sicherheitsleistung nach Ausübung des Kündigungsrechts nach § 650f Abs. 5 BGB erlöschen würde. Denn dann hätte der Besteller es in der Hand, den bestehenden Sicherungsanspruch durch Verweigerung der Sicherheitsleistung bis zur Kündigung durch den Unternehmer zu verhindern und den Zweck des Sicherungsverlangens und den tatsächlich bestehenden Anspruch auf Sicherheit auszuhöhlen. Der Besteller könnte auf diese Weise die Verpflichtung zur Leistung einer Sicherheit abschließend umgehen.  

Der Klägerin steht auch weiterhin ein sicherbarer Vergütungsanspruch zu, §§ 631, 650f Abs. 5 S. 2 BGB. Der Anspruch auf Sicherheit entsteht mit dem Verlangen des Unternehmers auf Sicherheit. Der Anspruch auf Sicherheitsleistung ist nicht von einem Vorleistungsrisiko des Unternehmers abhängig. Die Bauhandwerkersicherheit sichert nicht eine Vorleistung des Unternehmers ab, sondern dessen Vergütungsanspruch. Ein Erlöschen des Anspruchs auf Sicherheitsleistung mit Kündigung des Vertrages ist der gesetzlichen Regelung nicht zu entnehmen. Der Anspruch besteht bis zur vollständigen Befriedigung der von § 650f BGB erfassten Ansprüche. Auch die Kündigung nach § 650f Abs. 5 BGB führt nicht zum Erlöschen des Anspruchs. Die Kündigung nach § 650f Abs. 5 BGB ist ein Sonderfall der Kündigung aus wichtigem Grund. Die Kündigung nach § 650f Abs. 5 BGB führt zur großen Kündigungsvergütung, wie sie auch in § 648 BGB vorgesehen ist. Unabhängig vom Kündigungsgrund hat der Unternehmer nach einer Kündigung stets Anspruch auf Vergütung der erbrachten Leistungen gem. § 631 BGB. Der Anspruch aus § 648 S. 2 BGB oder § 8 Abs. 1 Nr. 2 VOB/B ist ein Vergütungsanspruch, der sich aus dem Vertrag ergibt, § 631 Abs. 1 BGB, und der um die ersparten Aufwendungen (bzw. Kosten nach VOB/B) und um den anderweitigen oder böswillig unterlassenen anderweitigen Erwerb gekürzt wird. Es handelt sich daher hier bei dem - dem Sicherungsverlangen zugrunde gelegten - Anspruch aus § 650f Abs. 5 S. 2 BGB um den bisherigen Vergütungsanspruch des Unternehmers und nicht einen Anspruch eigener Art. § 650f Abs. 5 S.1 BGB ist in Bezug auf die Kündigung als Rechtsfolgenverweisung anzusehen und entspricht der Regelung des § 648 BGB.  

Der Vergütungsanspruch aus § 650f Abs. 5 BGB ist nicht als Schadensersatzanspruch, sondern ausdrücklich als Vergütungsanspruch, entsprechend § 648 BGB, ausgestaltet. Während das bis zum 01.01.2009 geltende Recht dem Unternehmer nach der Vertragsaufhebung nur einen Vertrauensschadensersatzanspruch gewährte, entspricht die Regelung in § 650f Abs. 5 Satz 2 BGB der seit jeher maßgeblichen Abrechnungsvorgabe des § 648 Satz 2 BGB. Zugleich präzisierte der Gesetzgeber des Forderungssicherungsgesetzes die Vermutung sprachlich (§ 650f Abs. 5 Satz 3 BGB) und inkorporierte sie auch in § 648 Satz 3 BGB. Der Unternehmer behält also nach § 650f Abs.5 BGB seinen Vergütungsanspruch und ist entsprechend dem Wortlaut des § 648 BGB verpflichtet, sich ersparte Aufwendungen anrechnen zu lassen. Der Vergütungsanspruch bestand daher weiter. Der Anspruch ist unter Berücksichtigung des § 650f Abs. 5 S. 2 BGB um die ersparten Aufwendungen zu kürzen. Auch nach einer Kündigung kann der Unternehmer daher wegen seines offenen Vergütungsanspruchs - wie er sich infolge der Kündigung berechnet - neben oder vor der Klage auf Zahlung der Vergütung eine Klage auf Sicherheit anhängig machen.

Kontext der Entscheidung

Die Frage, ob der Unternehmer auch nach eigener Kündigung des Vertrages weiterhin die Stellung einer Bauhandwerkersicherheit verlangen kann, ist jetzt auch vom BGH in der gebotenen Kürze bejaht worden: „Die Kündigungserklärung der Klägerin (= Unternehmer) gemäß § 650f Abs. 5 Satz 1 Fall 2 BGB hat keinen Einfluss auf den Anspruch auf Sicherheit gemäß § 650f Abs. 1 BGB dem Grunde nach, der (weiterhin) der Sicherung des Anspruchs auf die vereinbarte und nicht gezahlte Vergütung dient.“ (BGH, Urteil vom 17. August 2023 – VII ZR 228/22 –, Rn. 29). Dass die Kündigung des Vertrages durch den Besteller keinen Einfluss auf das Sicherheitsverlangen des Unternehmers hat, hat der BGH bereits zu § 648a BGB entschieden. Der Anspruch besteht auch nach einer Kündigung. Das Gesetz enthält insoweit keine Beschränkungen. Diese sind auch nicht deshalb veranlasst, weil nach einer Kündigung regelmäßig keine Vorleistungen des Unternehmers mehr ausstehen. Denn es kommt nicht mehr darauf an, ob der Unternehmer noch Vorleistungen erbringen muss. Das ergibt sich zwar nicht deutlich aus der Begründung des Gesetzes, erschließt sich aber aus dem gesamten, geänderten Regelungsmechanismus und dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Schon der Wortlaut des Gesetzes enthält im Gegensatz zur Vorfassung keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Vorleistung gesichert werden soll. Vielmehr soll dem Unternehmer eine Sicherheit für seine Vergütung gewährt werden. Das Gesetz bezweckt danach ersichtlich eine Abkehr von dem zweifelhaften Ansatz des § 648a BGB a.F., wonach Voraussetzung eines Sicherungsanspruchs ist, dass noch Vorleistungen ausstehen. Die Altfassung führt dazu, dass nach Beendigung eines Vertrages noch eine volle Sicherheit verlangt werden kann, wenn geringe Mängel abzuarbeiten sind, ein Sicherungsbegehren jedoch erfolglos bleibt, wenn der Unternehmer mangelfrei gearbeitet hat. Für dieses Ergebnis gibt es keine innere Rechtfertigung, weil ein Sicherungsbedürfnis in beiden Fällen vorliegt. Nunmehr stellt das Gesetz in der Neufassung konsequent auf das Sicherungsinteresse des Unternehmers ab, das solange besteht, wie sein Vergütungsanspruch nicht befriedigt worden ist. Nach der Neuregelung des § 648a Abs. 1 Satz 1 BGB reicht es daher für einen Anspruch des Unternehmers gegen den Besteller auf Leistung einer Sicherheit aus, dass dem Unternehmer noch ein Vergütungsanspruch zusteht (BGH, Urteil vom 6. März 2014 – VII ZR 349/12 –, Rn. 14).

Auswirkungen für die Praxis

Im Fall einer Kündigung eines Bauvertrags gemäß § 650f Abs. 5 BGB reicht grundsätzlich der schlüssige Vortrag des Unternehmers zur Höhe der Vergütung gemäß § 650f Abs. 5 Satz 2 BGB aus, um hiernach die Höhe einer geforderten Sicherheit gemäß § 650f Abs. 1 BGB zu bemessen. Ein Abzug bei der Höhe der Sicherheit unter Anwendung von § 287 Abs. 2 ZPO kommt nicht in Betracht. Nach dieser Norm darf das Gericht Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen anstellen und unter Umständen zu Schätzungen greifen (Greger in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 287 Rn. 6 mwN.). Tatbestandliche Voraussetzung des § 287 Abs. 2 ZPO ist, dass entscheidungserhebliche Tatsachen zwischen den Parteien streitig sind. Für den Fall einer Kündigung des Vertrags reicht jedoch aus, dass der hieran angepasste Vortrag des Unternehmers zur Höhe der Vergütung schlüssig ist, um hiernach die Höhe der geforderten Sicherung zu bemessen (BGH, Urteil vom 6. März 2014 - VII ZR 349/12 Rn. 20, 26 ff.). Einen - streitigen - Abzug von der schlüssig dargelegten Vergütungsforderung ausnahmsweise nach Maßgabe von § 286 ZPO festzustellen, ohne dass damit der Rechtsstreit verzögert wird, bleibt möglich, für die Anwendung von § 287 Abs. 2 ZPO ist dagegen kein Raum (BGH, Urteil vom 17. August 2023 – VII ZR 228/22 –, Rn. 32).

13.12.2023
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BGH: Zum Anspruch auf Terminsverlegung

1. Die Erkrankung der anwaltlich vertretenen Partei selbst - bei einer juristischen Person die ihres Vertretungsorgans - zwingt nicht zu einer Terminsverlegung, wenn nicht gewichtige Gründe die persönliche Anwesenheit der Partei erfordern. Die Partei hat die gewichtigen Gründe substantiiert vorzutragen.

2. Erscheint die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht, ist sie nicht schon durch eine Arbeitsunfähigkeit ausreichend entschuldigt. Erforderlich ist vielmehr, dass die Partei krankheitsbedingt verhandlungsunfähig ist.

BGH, Urteil vom 14. September 2023 – IX ZR 219/22

Problemstellung

Unter welchen Bedingungen das Gericht einem Terminsverlegungsantrag einer anwaltlich vertretenen Partei wegen Erkrankung entsprechen muss, hatte der IX. Zivilsenat zu entscheiden.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit der Gewährung eines Darlehens. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt, in dem für die Klägerin niemand erschienen ist. Gegen das Versäumnisurteil hat die Klägerin Einspruch eingelegt. Das OLG hat darauf am 17. August 2022 Termin zur mündlichen Verhandlung für den 25. Oktober 2022 bestimmt, verschiedene Hinweise erteilt und der Klägerin Frist zur Stellungnahme gesetzt, die zweimal verlängert worden ist, zuletzt bis zum 10. Oktober 2022. Einen Antrag auf weitere Verlängerung und Terminsverlegung hat das OLG zurückgewiesen. In dem Termin ist der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erschienen, nicht aber der seinerzeit ebenfalls als Rechtsanwalt zugelassene Geschäftsführer der Komplementärin der Klägerin. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat eine Vertagung beantragt und keine Sachanträge gestellt. Das Berufungsgericht hat eine Vertagung abgelehnt und den Einspruch der Klägerin durch zweites Versäumnisurteil verworfen. Die Klägerin sei ordnungsgemäß zum Verhandlungstermin geladen gewesen. Die Einlassungsfrist sei angemessen gewesen und ein Vertagungsgrund habe nicht vorgelegen. Es sei nicht ersichtlich, dass der Geschäftsführer aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, den Termin zusammen mit dem weiteren Prozessbevollmächtigten der Klägerin hinreichend vorzubereiten. Es habe insoweit zumindest die Möglichkeit eines telefonischen Kontakts zwischen den beiden bestanden. Auch habe die Klägerin trotz des Unfalls ihres Geschäftsführers für das Anbringen des ersten Befangenheitsgesuchs einen dritten Rechtsanwalt mandatieren können, was ihre Handlungsfähigkeit beweise. Zudem begleite der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Rechtsstreit bereits seit 2017. Im Kern habe der Verhandlung außerdem der gleiche Sachverhalt wie in einem durch Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den BGH bereits rechtskräftig abgeschlossenen Parallelverfahren zugrunde gelegen, in welchem der Prozessbevollmächtigte den Geschäftsführer und dessen Ehefrau vertreten habe. Es komme hinzu, dass die vorgelegte Bescheinigung über eine fehlende Verhandlungsfähigkeit des Geschäftsführers nicht von einem Arzt unterzeichnet sei und die Diagnose einer Rippenfraktur für sich nicht genügend aussagekräftig sei, weshalb eine die Teilnahme an der Verhandlung hindernde Erkrankung des Geschäftsführers der Klägerin nicht glaubhaft gemacht sei. Damit lägen die Voraussetzungen für den Erlass eines zweiten Versäumnisurteils vor.    

Die Revision ist unzulässig. Gegen ein zweites Versäumnisurteil eines Berufungsgerichts findet allerdings die Revision gemäß § 565 Satz 1, § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO ohne Zulassung und ohne Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstands statt. Die Revision erfüllt aber nicht die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen der § 565 Satz 1, § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Ein (zweites) Versäumnisurteil, gegen das der Einspruch nicht statthaft ist, unterliegt der Revision insoweit, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe. Eine zulässige Revision setzt also die schlüssige Darlegung voraus, dass der Termin nicht schuldhaft versäumt worden ist. Wird die fehlende oder unverschuldete Säumnis nicht schlüssig dargelegt, ist die Revision als unzulässig zu verwerfen. So verhält es sich im Streitfall. Das Revisionsvorbringen der Klägerin ist unschlüssig. Es ergibt nicht, dass sie den Termin vom 25. Oktober 2022 vor dem Berufungsgericht ohne Verschulden versäumt hat. Eine Partei ist im Sinne der §§ 330 ff ZPO säumig, wenn sie trotz ordnungsgemäßer Bestimmung eines notwendigen Termins zur mündlichen Verhandlung nach Aufruf der Sache am hierzu bestimmten Ort nicht erscheint, bei notwendiger Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht durch einen beim Prozessgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten ist oder nicht zur Sache verhandelt. Nicht schuldhaft ist die Säumnis, wenn die Partei oder - bei notwendiger Vertretung - ihr Prozessvertreter an der Wahrnehmung des Verhandlungstermins unverschuldet verhindert war, mithin die Sorgfalt einer ordentlichen Prozesspartei gewahrt hat. Die Verschuldensfrage richtet sich nach den gleichen Grundsätzen wie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Klägerin nicht schlüssig dargetan, dass sie den Einspruchstermin vom 25. Oktober 2022 unverschuldet versäumt hat. Die Revision stellt nicht in Frage, dass die Klägerin ordnungsgemäß zum Verhandlungstermin geladen worden ist und in dem Termin trotz Erscheinens ihres Prozessbevollmächtigten keinen Sachantrag gestellt hat. Die Voraussetzungen für die von der Klägerin zunächst angestrebte Verlegung des Termins und später für die beantragte Vertagung der Verhandlung im Hinblick auf die geltend gemachte Erkrankung des Geschäftsführers ihrer Komplementärin (fortan: Geschäftsführer) hat das Berufungsgericht im Ergebnis rechtsfehlerfrei verneint. Nach § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin nur aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch beider Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen. Erhebliche Gründe iSv. § 227 Abs. 1 ZPO sind regelmäßig solche, die zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebots erfordern. Liegen solche Gründe vor, verdichtet sich das Ermessen des Gerichts zu einer Rechtspflicht, den Termin zu verlegen, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Wenn eine Partei anwaltlich vertreten ist, zwingt die Erkrankung der Partei selbst - bei einer juristischen Person die ihres Vertretungsorgans - nicht zu einer Terminsverlegung, wenn und weil ihr Prozessbevollmächtigter zur Wahrnehmung des Termins zur Verfügung steht. Durch ihn kann die Partei ihre Rechte im Verfahren in der Regel angemessen und effektiv wahrnehmen. Etwas anderes gilt nur, wenn gewichtige Gründe die persönliche Anwesenheit der Partei erfordern. Die Partei hat die gewichtigen Gründe substantiiert vorzutragen, weshalb ihre persönliche Anwesenheit in der Verhandlung erforderlich ist. Hinreichend gewichtige Gründe ergeben sich nicht schon aus der Bedeutung, welche der Prozess für die Partei hat. Das bloße Anwesenheitsinteresse einer anwaltlich vertretenen Partei ist durch ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nicht geschützt. Die mangelnde Terminvorbereitung ist nach § 227 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO kein Verlegungs- und Vertagungsgrund, solange sie nicht ihrerseits entschuldigt ist. Für eine genügende Entschuldigung kommt es zunächst darauf an, zu welchen Punkten die Partei eine zusätzlich erforderliche Vorbereitung geltend macht. Die Partei muss sodann substantiiert darlegen, aus welchen Gründen sie an einer ausreichenden Vorbereitung gehindert war und dass sie alles Zumutbare und Mögliche unternommen hat, um sich und ihren Anwalt im Hinblick auf den Verhandlungstermin ausreichend vorzubereiten.      

Daran gemessen hat die Klägerin erhebliche Gründe für eine Verlegung des Termins oder eine Vertagung der Verhandlung nicht hinreichend vorgetragen. Die Klägerin legt nicht schlüssig dar, dass eine Verlegung oder Vertagung deshalb geboten war, weil ihr Geschäftsführer gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Die Klägerin zeigt weder schlüssig auf, dass ihr Geschäftsführer ohne Verschulden am Erscheinen verhindert war, noch hat sie substantiiert dargelegt, dass eine Anwesenheit ihres Geschäftsführers in der mündlichen Verhandlung erforderlich war. Bereits eine seine Verhandlungsunfähigkeit begründende Erkrankung ihres Geschäftsführers zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2022 hat die Klägerin nicht schlüssig dargelegt. Erscheint die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht, ist dies nicht schon durch eine Arbeitsunfähigkeit ausreichend entschuldigt. Erforderlich ist vielmehr, dass die Partei krankheitsbedingt verhandlungsunfähig ist. Die Revision legt dies nicht schlüssig dar. Das ärztliche Attest vom 18. Oktober 2022, auf das sich die Revision beruft, ist ebenfalls nicht geeignet, das Ausbleiben des in München wohnhaften Geschäftsführers zu entschuldigen. Daraus ergibt sich allein, dass der Geschäftsführer aufgrund des am 2. Oktober 2022 erlittenen dreifachen Rippenbruchs wegen ausgeprägter Schmerzen und notwendiger regelmäßiger Schmerzmitteleinnahme bis 31. Oktober 2022 arbeitsunfähig ist; es ist nicht erkennbar, warum dies einer Teilnahme an der Verhandlung entgegensteht oder gar eine Verhandlungsunfähigkeit am 25. Oktober 2022 begründet. Unabhängig davon lässt die Revision unwidersprochen, dass der Geschäftsführer nach der Behauptung der Beklagten im Oktober 2022 am Wochenende vor der mündlichen Verhandlung mit dem eigenen Fahrzeug in sein Haus an den Gardasee gefahren ist. Jedenfalls ist damit der Glaubhaftmachung einer krankheitsbedingten Verhinderung des Geschäftsführers im Verhandlungstermin die Grundlage entzogen. Zudem hat die Klägerin nicht schlüssig dargelegt, dass gewichtige Gründe die persönliche Anwesenheit der Partei erforderten. Sie zeigt nicht auf, dass der Verhandlungstermin vor dem Berufungsgericht nicht von ihrem weiteren Prozessbevollmächtigten allein hätte sachgerecht wahrgenommen werden können. Dieser hat die Klägerin im Rechtsstreit seit der Klageerhebung 2017 ebenso umfassend vertreten wie im inzwischen rechtskräftig abgeschlossene Parallelverfahren mit zumindest deutlichen Bezügen zum Sachverhalt des Streitfalls. Auch wenn er hierbei auf Vor- und Zuarbeiten des Geschäftsführers zurückgegriffen hat, folgt daraus kein gewichtiger Grund für die Anwesenheit der Partei in der mündlichen Verhandlung. Vor diesem Hintergrund fehlt es an substantiierten Vorbringen dazu, weswegen die Anwesenheit des Geschäftsführers im Termin unabdingbar gewesen sein soll. Das gilt auch mit Blick auf den pauschalen Hinweis der Revision auf den Umfang der Sache. Es bleibt offen, was von dem Streitstoff aus Sicht der Klägerin überhaupt problematisch und erörterungsbedürftig gewesen wäre. Ebenso wenig ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerin, dass sie unverschuldet nicht in der Lage gewesen ist, die mündliche Verhandlung ausreichend vorzubereiten. Zwischen der Ladung und dem Termin zur mündlichen Verhandlung lagen über zwei Monate. Das Berufungsgericht gab mit seiner Terminsverfügung vom 17. August 2022 konkrete Hinweise auf den Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Die Klägerin zeigt nicht auf, warum ihr Geschäftsführer nicht in der Lage gewesen ist, ihren mit der Sache ebenfalls seit langem befassten Prozessbevollmächtigten innerhalb dieses Zeitraums ausreichend zu instruieren. Dass der Geschäftsführer hierzu wegen der Folgen seines am 2. Oktober 2022 erlittenen Unfalls nicht, insbesondere nicht fernmündlich, in der Lage gewesen ist, ist nicht schlüssig dargelegt. Das Berufungsgericht hat frühzeitig auf eine etwaige Anpassung der Anträge an die geänderte prozessuale Lage und auf die Unvollständigkeit der Anlagen hingewiesen. Trotz seiner geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigung hat der Geschäftsführer im Übrigen wenige Tage vor dem Termin eine weitere Anwaltskanzlei mit der Einreichung eines von ihm selbst formulierten siebenseitigen Befangenheitsgesuchs im Namen der Klägerin an das Berufungsgericht betrauen können. Dies lässt es als möglich erscheinen, dass er sich trotz seiner Erkrankung hinreichend mit der inhaltlichen Vorbereitung des Verhandlungstermins hätte beschäftigen und den Prozessbevollmächtigten entsprechend und genügend unterrichten können, um eine sachgerechte Vorbereitung der mündlichen Verhandlung sicherzustellen.

Kontext der Entscheidung

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH hat das Gericht bei seiner Entscheidung, ob bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Verhandlung vertagt wird (§ 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO), nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch beider Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen. Ist der Verhandlungstermin schon mehrfach verlegt worden, kommt dem Beschleunigungsgebot ein erhöhtes Gewicht zu. Bei einer solchen Sachlage darf das Gericht an das Vorliegen eines erheblichen Grunds i.S.v. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO strenge Anforderungen stellen (BGH, Urteil vom 25. November 2008 – VI ZR 317/07). Bei der Ausübung des Ermessens sind auch die Interessen der Gegenpartei zu berücksichtigen, deren prozessuales Recht auf zügige Entscheidung in der forensischen Praxis häufig nicht genügend beachtet wird, wenn etwa Terminsverlegungsanträge ohne Anhörung der Gegenpartei vorschnell beschieden werden. Verlegungsanträgen muss im Regelfall stattgegeben werden, wenn ein erheblicher Grund glaubhaft gemacht wird. Werden Kollisionen mit schon anberaumten anderen gerichtlichen Terminen vorgebracht, sind diese durch Vorlage der Ladung zu dem anderen Termin glaubhaft zu machen. Weiterhin ist, sofern der Terminsverlegung beantragende Rechtsanwalt nicht als Einzelanwalt tätig ist, zu begründen, warum die Wahrnehmung des Termins, dessen Verlegung beantragt wird, nicht durch einen anderen Rechtsanwalt aus der Kanzlei des Antragstellers möglich ist. Bei Terminen, die in den Zeitraum vom 01.07. bis 31.08. fallen, braucht, sofern nicht einer der Ausnahmefälle des § 227 Abs. 3 Satz 2 ZPO betroffen ist, ein Terminsverlegungsantrag nicht begründet zu werden, wenn er innerhalb einer Frist von einer Woche nach Zugang der Ladung gestellt wird (§ 227 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Will das Gericht einen Terminsverlegungsantrag wegen Prozessverschleppungsabsicht der Partei ablehnen, müssen die hierfür sprechenden Gründe in der Entscheidung hinreichend dokumentiert werden (BGH, Urteil vom 24. Januar 2019 – VII ZR 123/18). Stützt der Vorsitzende des Berufungsgerichts die Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags in seiner Verfügung darauf, die antragstellende Partei hätte sich jeder Mitwirkung am Berufungsverfahren verweigert, und verweist er insoweit auf deren bisheriges Prozessverhalten, ohne hierzu nähere Ausführungen zu machen, vermag dieser lediglich allgemein gehaltene Vorwurf eine Ablehnung des Terminsverlegungsantrags wegen einer Prozessverschleppungsabsicht nicht zu rechtfertigen (BGH, Urteil vom 24. Januar 2019 – VII ZR 123/18; Vossler MDR 2019, 1117).

Auswirkungen für die Praxis

Eine Partei ist iSd. §§ 330 ff. ZPO säumig, wenn sie trotz ordnungsgemäßer Bestimmung eines notwendigen Termins zur mündlichen Verhandlung nach Aufruf der Sache am hierzu bestimmten Ort nicht erscheint, bei notwendiger Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht durch einen beim Prozessgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten ist oder nicht zur Sache verhandelt. Nicht schuldhaft ist die Säumnis, wenn die Partei an der Wahrnehmung des Verhandlungstermins unverschuldet verhindert war (§§ 337, 233 ZPO, § 276 Abs. 2 BGB), mithin die Sorgfalt einer ordentlichen Prozesspartei gewahrt hat (BGH, Beschl. v. 26.11.2015 - VI ZR 488/14 -, Rn. 9 mwN.). So ist der Prozessbevollmächtigte, der zu einem auswärtigen Gerichtstermin anzureisen hat, bei der Auswahl des öffentlichen Verkehrsmittels grundsätzlich frei; er kann sich auch für das Flugzeug entscheiden. Bezieht er einen Inlandsflug in die Reiseplanung ein, braucht er für die Bemessung von Pufferzeiten für den Übergang zu einem Anschlussverkehrsmittel grundsätzlich keine Verzögerungen von mehr als einer Stunde in Rechnung zu stellen. Eine auf die Entwicklung der Wetterverhältnisse zur geplanten Flugzeit ausgerichtete Beobachtungspflicht trifft den Prozessbevollmächtigten nur bei bereits bestehenden oder angekündigten Schlechtwetterlagen, welche die Durchführung der Reise wahrscheinlich verhindern (BGH, Urt. v. 22.03.2007 - IX ZR 100/06 -, Rn. 9 ff.).

13.12.2023
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BGH: Nichtige Klauselgestaltung durch Architekt

Eine Vereinbarung, durch die sich ein Architekt verpflichtet, eine von ihm selbst entworfene, der Interessenlage des Bestellers entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung zu stellen, ist wegen eines Verstoßes gegen das in § 3 RDG geregelte gesetzliche Verbot nach § 134 BGB nichtig.

BGH, Urteil vom 9. November 2023 – VII ZR 190/22

Problemstellung

Mit den Konsequenzen der weitverbreiteten Praxis, dass Architekten für ihre Auftraggeber die Verträge mit von denen zu beauftragenden Bauunternehmern gestalten, hatte sich der VII. Zivilsenat zu befassen.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Anfang 2010 beauftragte die Klägerin den Beklagten mit Architektenleistungen der Leistungsphasen 1 bis 8 gemäß § 33 HOAI (2009) hinsichtlich des Neubaus eines Fabrikations- und Verwaltungsgebäudes. Der Beklagte stellte der Klägerin einen Bauvertragsentwurf mit einer von ihm formulierten Skontoklausel zur Verfügung, den diese bei der Beauftragung von zumindest vier bauausführenden Unternehmern verwandte. Unter Verwendung dieses Bauvertragsentwurfs beauftragte die Klägerin im März 2011 auch die J. & J. Bau GmbH mit Erd- und Kanalisations- sowie Rohbauarbeiten. Dieser Vertrag enthält unter "E. Auftragsbestätigung" folgende Vereinbarung: "Die Fa. J.  gewährt … ein Skonto von 3 % bei Zahlungen der durch die Bauleitung geprüften und angewiesenen Abschlagszahlungen bzw. Schlussrechnung innerhalb 10 Arbeitstagen nach Eingang bei der Bauherrschaft." Von der Schlussrechnung der J. & J. Bau GmbH behielt die Klägerin einen 3 %-igen Skontoabzug von 105.125,00 € netto (entsprechend 125.098,75 € brutto) ein. In einem Rechtsstreit der Klägerin gegen die J. & J. Bau GmbH erhob diese Widerklage auf Zahlung von 125.098,75 € mit der Begründung, die Skontoklausel sei als Allgemeine Geschäftsbedingung unwirksam, so dass die Klägerin zu Unrecht von der Schlussrechnung 125.098,75 € einbehalten habe. In diesem Prozess schlossen die Klägerin und die J. & J. Bau GmbH einen Vergleich, in dem sich die Klägerin den von der Schlussrechnung zurückbehaltenen Betrag auf die von ihr gegen die J. & J. Bau GmbH geltend gemachten Ansprüche anrechnen ließ. Die Klägerin ist der Auffassung, ihr sei der auf die Schlussrechnung der J. & J. Bau GmbH vorgenommene Skontoabzug nur deshalb nicht verblieben, da die vom Beklagten vorgeschlagene Skontoklausel unwirksam gewesen sei. Der Beklagte sei deshalb zum Schadensersatz in Höhe von 125.098,75 € verpflichtet. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen. Zwar habe der Beklagte mit der Skontoklausel eine Allgemeine Geschäftsbedingung vorgeschlagen, die einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht standhalte. Denn nach der Skontoklausel beginne die Skontofrist erst nach der Prüfung der Rechnung durch den Architekten und der Weiterleitung der geprüften Rechnung mit dem Eingang beim Auftraggeber, ohne dass der Auftragnehmer auf diesen Zeitraum vom Eingang der Rechnung beim Architekten bis zu deren Eingang beim Auftraggeber irgendeinen Einfluss hätte. Damit könne der Beginn der Skontofrist von Seiten des Auftraggebers auf einen vom Auftragnehmer nicht beherrschbaren Zeitraum verschoben werden. Dies stelle eine unangemessene Benachteiligung des Auftragnehmers dar. Der Beklagte habe mit dem Vorschlag zur Verwendung der Skontoklausel jedoch keine Pflicht verletzt. Nach Anlage 11 zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) gehöre zur Leistungsphase 7 gemäß Buchst. h) die Mitwirkung bei der Auftragserteilung. Unter Mitwirkung bei der Auftragserteilung sei die Vorbereitung und Anpassung der Verträge zu verstehen. Damit komme jedoch nicht zum Ausdruck, dass der Beklagte einen juristisch geprüften, rechtlich einwandfreien Vertragsentwurf geschuldet habe. Ein Architekt würde wie ein Rechtsanwalt behandelt werden, wenn man ihm die Pflicht auferlegte, jede selbst entworfene oder aus einen ihm zur Kenntnis gelangten Bauvertrag entnommene Klausel einem Anwalt zur Überprüfung vorzulegen. Anderenfalls könnte der Architekt einer Haftung im Bereich der Vertragsgestaltung nur entgehen, wenn er sich selbst anwaltlich beraten lassen würde. Das Architektenhonorar decke jedoch grundsätzlich die Leistung des Architekten ab und nicht zusätzliche Anwaltskosten. Ein Bauherr könne auch von seinem Architekten angesichts von dessen Ausbildung bei der Vertragsgestaltung keine vertieften juristischen Kenntnisse erwarten. Vor diesem Hintergrund sei eine Verletzung einer - beschränkten - Pflicht des Beklagten zur juristischen Kontrolle der von ihm vorgeschlagenen Skontoregelung nicht festzustellen. (OLG Stuttgart, Urteil vom 30. September 2022 – 10 U 12/22).  

Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden. Zwar hat das Berufungsgericht jedenfalls im Ergebnis zu Recht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB verneint. Der Revision kann aber gleichwohl der Erfolg nicht versagt werden, weil das Berufungsgericht bei seiner rechtlichen Würdigung den Streitstoff nicht ausgeschöpft hat. Auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts kommt nämlich ein Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz aus § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB beziehungsweise aus § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 3 RDG in Betracht, weil der Beklagte durch die Zurverfügungstellung der von ihm selbst entworfenen Skontoklausel gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen hat. Unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt hat das Berufungsgericht den Sachverhalt nicht geprüft und deshalb eine hierauf gestützte Haftung des Beklagten in seine Erwägungen nicht einbezogen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte einen Vertragstext mit der von ihm selbst entworfenen Skontoklausel der Klägerin zu deren Verwendung in ihren eigenen Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung gestellt. Die Klägerin hat diese Klausel in der Annahme, dass sie ihrer Interessenlage gerecht wird, bei Vertragsabschlüssen mit zumindest vier bauausführenden Unternehmern verwendet. Dieser Erwartung der Klägerin wollte der Beklagte auch entsprechen, da er nach seinem Vortrag die von ihm entworfene Skontoklausel vor ihrer Verwendung einem Rechtsanwalt zur Prüfung vorgelegt hat. Auf dieser Grundlage kann eine Haftung des Beklagten - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nicht damit abgelehnt werden, "jedem" habe klar sein müssen, dass der Beklagte als Architekt nicht über entsprechende juristische Kenntnisse verfüge. Ein solcher Erfahrungssatz besteht nicht. Dem Besteller als im Regelfall Laien auf dem Gebiet des Bauens und des Rechts erschließt sich grundsätzlich nicht, was von der Kompetenz des Architekten noch umfasst wird oder ausschließlich zum Aufgabenbereich der Anwaltschaft gehört.  

Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft außer Betracht gelassen, dass die Parteien mit der Zurverfügungstellung der Skontoklausel durch den Beklagten, damit die Klägerin diese zur Wahrnehmung ihrer Interessen in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern verwenden konnte, eine gemäß § 3 RDG unzulässige Rechtsdienstleistung zum Gegenstand ihres Architektenvertrages gemacht haben. Der Verstoß gegen § 3 RDG entzieht zwar einem Schadensersatzanspruch aus § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB die erforderliche vertragliche Grundlage, da er jedenfalls insoweit zur Nichtigkeit des Vertrages gemäß § 134 BGB führt, als dieser die unerlaubte Rechtsdienstleistung umfasst. Er schließt aber eine Haftung des Beklagten aus § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB beziehungsweise aus § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 3 RDG nicht aus.    

Nach § 3 RDG ist die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch das Rechtsdienstleistungsgesetz oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird. Die Voraussetzungen von § 3 RDG liegen vor. Der Beklagte erbrachte eine Rechtsdienstleistung nach § 2 Abs. 1 RDG, die weder durch § 5 Abs. 1 Satz 1, 2 RDG noch durch Anlage 11 Leistungsphase 7 Buchstabe h) zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) erlaubt wird und für die es auch sonst keine Rechtfertigung gibt. Der Beklagte hat eine Rechtsdienstleistung erbracht, indem er der Klägerin eine vermeintlich ihrer Interessenlage entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung gestellt hat. Nach § 2 Abs. 1 RDG ist eine Rechtsdienstleistung jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine Prüfung des Einzelfalls erfordert. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst diese Vorschrift jede konkrete Subsumtion eines Sachverhalts unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen, die über die bloße schematische Anwendung von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgeht. Ob es sich um eine einfache oder schwierige Rechtsfrage handelt, ist unerheblich. Nach diesen Maßstäben erforderte die Zurverfügungstellung der Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern eine Prüfung im Einzelfall, ob die Regelung der Interessenlage der Klägerin entspricht. Die Rechtsdienstleistung des Beklagten war nicht nach § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 RDG erlaubt. Danach sind Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit erlaubt, wenn sie als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören. Ob eine Nebenleistung vorliegt, ist nach ihrem Inhalt, Umfang und sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter Berücksichtigung der Rechtskenntnisse zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit erforderlich sind. Ziel dieser Regelungen ist es einerseits, diejenigen, die in einem nicht spezifisch rechtsdienstleistenden Beruf tätig sind, in ihrer Berufsausübung nicht zu behindern und andererseits, den erforderlichen Schutz der Rechtsuchenden vor unqualifiziertem Rechtsrat zu gewährleisten. Auf dieser Grundlage handelte es sich bei der vom Beklagten übernommenen Pflicht, der Klägerin eine ihrer Interessenlage entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung zu stellen, nicht um eine Nebenleistung, die zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des Architekten gehört. Der Architekt hat die Pflicht, die Leistungen zu erbringen, die erforderlich sind, um die mit dem Besteller vereinbarten Planungs- und Überwachungsziele zu erreichen. Dieses Aufgabengebiet und damit das Berufsbild des Architekten hat in vielfacher Hinsicht Berührungen zu Rechtsdienstleistungen. So kann es zum Erreichen der vereinbarten Planungs- und Überwachungsziele notwendig sein, über Kenntnisse des öffentlichen und privaten Baurechts zu verfügen und diese in der Beratung des Bauherrn umzusetzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Architekt als geschäftlicher Oberleiter, sachkundiger Berater und Betreuer des Bauherrn nicht unerhebliche Kenntnisse des Werkvertragsrechts, des BGB und der entsprechenden Vorschriften der VOB/B besitzen (BGH, Urteil vom 26. April 1979 - VII ZR 190/78). Die Tätigkeit des Architekten kann zudem erfordern, dem Bauherrn das planerische, wirtschaftliche und rechtliche Umfeld des Vorhabens zu erläutern und in diesem Zusammenhang öffentlich-rechtliche Vorschriften zum Bauplanungs- und Bauordnungsrecht in seine Beratung einzubeziehen. Insoweit soll der Architekt in seiner Berufsausübung durch das Rechtsdienstleistungsgesetz nicht behindert werden. Der Architekt ist jedoch nicht einem Rechtsberater des Bauherrn gleichzusetzen. Eine allgemeine Rechtsberatung wird von dem Berufsbild des Architekten nicht erfasst, da es insoweit an einer hinreichenden juristischen Qualifikation fehlt. Insoweit greift der Zweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes, den Schutz der Rechtsuchenden vor unqualifiziertem Rechtsrat zu gewährleisten. Die Zurverfügungstellung einer der Interessenlage der Klägerin entsprechenden Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern geht über die typischerweise mit der Verwirklichung von Planungs- und Überwachungszielen verbundenen Aufgaben und damit über das Berufsbild des Architekten hinaus. Denn die Erfüllung einer solchen Pflicht erfordert qualifizierte Rechtskenntnisse, wie sie grundsätzlich nur in der Anwaltschaft vorhanden sind. Es bedarf deshalb des Schutzes des Bauherrn als Rechtsuchenden vor unqualifiziertem Rat. Demgegenüber wird der Architekt in seiner Berufsausübung nicht behindert, da er die mit dem Bauherrn vereinbarten Planungs- und Überwachungsziele erreichen kann, ohne selbst eine Skontoklausel zur Verfügung zu stellen, die die Interessenlage des Bauherrn im Verhältnis zu den bauausführenden Unternehmern abbildet. Der Architekt muss den Bauherrn nur darauf hinweisen, dass ihm eine solche Tätigkeit nicht erlaubt ist und sich der Bauherr insoweit an einen Rechtsanwalt zu wenden hat. Die vom Senat getroffene Auslegung des Rechtsdienstleistungsgesetzes verletzt deshalb den Beklagten nicht in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).    

Die von dem Beklagten übernommene Rechtsdienstleistung war des Weiteren durch Anlage 11 Leistungsphase 7 h) zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) (im Folgenden: Anlage 11) weder unmittelbar noch mittelbar erlaubt. Nach dieser Regelung erhält ein Architekt ein Entgelt für das "Mitwirken bei der Auftragserteilung". Insoweit wird vertreten, der Architekt sei verpflichtet, Verträge zu entwerfen bzw. sämtliche Vertragsunterlagen zusammenzustellen, die auf die Interessen des Bauherrn abgestellt sind (Nachweise Rn. 33). Soweit der Verordnungsgeber insbesondere für rechtsbesorgende Tätigkeiten im Rahmen der HOAI eine Vergütung vorgesehen habe, sei damit ein Erlaubnistatbestand im Sinne von § 5 Abs. 1 RDG geschaffen, weil ansonsten eine Leistung vergütet werde, die wegen § 134 BGB nicht wirksam vereinbart werden könne. Ein Erlaubnistatbestand iSv. § 5 Abs. 1 RDG kann unmittelbar aus Anlage 11 bereits deshalb nicht abgeleitet werden, weil der Verordnungsgeber durch die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage in Art. 10 § 1 MRVG nicht ermächtigt wurde, Erlaubnistatbestände für die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen im Sinne von § 3 RDG zu regeln. Gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der dem Verordnungsgeber erteilten Ermächtigung in dem ermächtigenden Gesetz bestimmt werden. Beachtet die Verordnung diese Grenzen der Ermächtigung nicht, ist sie insoweit unwirksam. Mit Art. 10 § 1 MRVG hat der Gesetzgeber die Bundesregierung ausschließlich ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats eine Honorarordnung für Ingenieur- und Architektenleistungen zu erlassen. Art. 10 § 1 MRVG enthält dagegen über die reinen Honorarregelungen hinaus keine Ermächtigung, das Architekten- und Ingenieurrecht zu gestalten und beispielsweise Erlaubnistatbestände für grundsätzlich unzulässige Rechtsdienstleistungen zu normieren. Dementsprechend ist Anlage 11 verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass diese Regelung keinen Erlaubnistatbestand im Sinne von § 3 RDG enthält. Aus Anlage 11 kann daher auch nicht mittelbar geschlossen werden, eine Vereinbarung über die Zurverfügungstellung einer Skontoklausel, die die Interessen des Bauherrn berücksichtigt, zur Verwendung in den Verträgen mit bauausführenden Unternehmern sei vom Berufsbild des Architekten gedeckt. Eine solche Auslegung verkennt zudem das Verhältnis von formellen und materiellen Gesetzen wie dem Rechtsdienstleistungsgesetz zu bloß materiellen Gesetzen wie der HOAI als Rechtsverordnung. Die HOAI steht als Rechtsverordnung im Rahmen der Normenhierarchie unter dem Rechtsdienstleistungsgesetz als formellem Gesetz, das deshalb Vorrangwirkung entfaltet. Dementsprechend ist nicht das Rechtsdienstleistungsgesetz unter Heranziehung der Honorarregelungen der HOAI auszulegen. Vielmehr ist umgekehrt bei der Frage der Auslegung von Anlage 11 zu berücksichtigen, dass es keine Vergütung für eine Verpflichtung geben kann, die nach § 3 RDG iVm. § 134 BGB nichtig ist. Schließlich ist die von dem Beklagten übernommene unzulässige Rechtsdienstleistung nicht deshalb gerechtfertigt, weil er sich nach seinem Vortrag hinsichtlich der Skontoklausel der Hilfe eines Rechtsanwalts bedient hat. Die Einbeziehung eines Rechtsanwalts als Erfüllungsgehilfen zur Erbringung der Rechtsdienstleistung ändert nichts an der Unzulässigkeit der Rechtsdienstleistung und der Nichtigkeit der entsprechenden schuldrechtlichen Vereinbarung.

Vereinbarungen, die auf die Erbringung einer unerlaubten Rechtsdienstleistung zielen, sind nach § 134 BGB nichtig. Die Nichtigkeit der Vereinbarung der Parteien zur Pflicht des Beklagten, eine der Interessenlage der Klägerin entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung zu stellen, führt nicht dazu, dass der streitgegenständliche Anspruch nicht besteht. Zwar ergibt sich ein solcher Anspruch, wie vom Berufungsgericht ausschließlich geprüft, nicht aus § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB. Er kann jedoch unter den Voraussetzungen von § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB bzw. gemäß § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 3 RDG zuzusprechen sein.

Kontext der Entscheidung

In welchem Umfang ein Architekt seinen Auftraggeber rechtlich beraten darf, ohne das Rechtsdienstleistungsgesetz zu verletzen, hat bereits der I. Zivilsenat in einem Unterlassungsklageverfahren zu beurteilen gehabt, das die örtlich zuständige Rechtsanwaltskammer gegen eine Architektin angestrengt hatte, die ihre Auftraggeber in einem bauordnungsrechtlichen Widerspruchsverfahren vertreten hatte (BGH, Urteil vom 11. Februar 2021 – I ZR 227/19 –, dazu: Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 7/2021 Anm. 1 und Thode, jurisPR-PrivBauR 5/2021 Anm. 1). Auch diese Rechtsdienstleistungen sind nicht, wie der I. Zivilsenat festgestellt hat, durch oder aufgrund anderer Gesetze als dem Rechtsdienstleistungsgesetz erlaubt (§§ 1 Abs. 3, 3 Fall 2 RDG). Nach der Konzeption des Rechtsdienstleistungsgesetzes besteht eine Befugnis zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen nach anderen Gesetzen als dem RDG zum einen für die speziell rechtsdienstleistenden Tätigkeiten der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, die sachnah im jeweiligen Berufsgesetz geregelt sind. Zum anderen finden sich auch in anderen Gesetzen Vorschriften, die Rechtsberatungsbefugnisse enthalten. Eine erlaubte Rechtsberatung nach solchen anderen Gesetzen kommt allerdings nur in Betracht, wenn spezielle Rechtsdienstleistungsbefugnisse dort hinreichend konkret geregelt sind, die Befugnis also schon nach dem Wortlaut der Norm für einen bestimmten Bereich oder spezielle Tätigkeiten eingeräumt wird. Entsprechend konkrete Regelungen hat der I. Zivilsenat für den von ihm entschiedenen Fall nicht feststellen können. Auch der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) hat der I. Zivilsenat keine Rechtsdienstleistungsbefugnis außerhalb des RDG entnehmen können, da sie keine hinreichend konkreten Regelungen enthält, die Rechtsdienstleistungen gestatten. Die innerhalb der jeweiligen Leistungsphasen zu erbringenden Leistungen können lediglich bei der Frage Bedeutung erlangen, ob die Rechtsdienstleistungen nach § 5 Abs. 1 RDG erlaubt sind, weil sie als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild von Architekten gehören. Die in der Entscheidung des I. Zivilsenats in Rede stehenden Tätigkeiten waren auch keine erlaubten Nebenleistungen iSd. §§ 3 Fall 1, 5 Abs. 1 RDG. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 RDG sind Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit gestattet, wenn sie als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören. Ziel der Vorschrift ist es einerseits, diejenigen, die in einem nicht spezifisch rechtsdienstleistenden Beruf tätig sind, in ihrer Berufsausübung nicht zu behindern, und andererseits, den erforderlichen Schutz der Rechtsuchenden vor unqualifiziertem Rechtsrat zu gewährleisten. Erlaubt ist die Tätigkeit nach § 5 Abs. 1 Satz 1 RDG nur, wenn sie zum Berufs- oder Tätigkeitsbild desjenigen gehört, der die Rechtsdienstleistung erbringt, und wenn sie eine Nebenleistung zu einer Haupttätigkeit ist. Ob eine Nebenleistung vorliegt, ist nach ihrem Inhalt, Umfang und sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter Berücksichtigung der Rechtskenntnisse zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit erforderlich sind (§ 5 Abs. 1 Satz 2 RDG). § 5 Abs. 1 RDG kann nur Anwendung finden, wenn die fragliche Rechtsdienstleistung nicht selbst wesentlicher Teil der Haupttätigkeit ist. Der Schwerpunkt der Tätigkeit muss – soweit es sich nicht um Dienstleistungen von Angehörigen steuerberatender Berufe oder nach § 10 RDG registrierter Personen handelt – stets auf nichtrechtlichem Gebiet liegen. Zwar hat das Aufgabengebiet der Architekten in vielfacher Hinsicht Berührungen zu Rechtsdienstleistungen. Architekten sind sachkundige Berater und Betreuer des Bauherrn auf dem Gebiet des Bauwesens und müssen über nicht unerhebliche Kenntnisse des Werkvertragsrechts, des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Vorschriften der VOB/B verfügen. Die Beratungs- und Betreuungstätigkeit der Architekten dient dazu, dem Bauherrn das planerische, wirtschaftliche und rechtliche Umfeld des Vorhabens zu erläutern. Im Rahmen der Grundlagenermittlung etwa hat ein Architekt deshalb Aufklärungs- und Beratungspflichten gegenüber seinem Auftraggeber, die sich auch auf öffentlich-rechtliche Vorschriften zum Bauplanungs- und Bauordnungsrecht beziehen. Die Betreuungs- und Beratungspflichten der Architekten können dabei auch nach außen tretende rechtsberatende Elemente enthalten. Denkbar ist dies insbesondere dann, wenn im Zuge der Betreuung und Beaufsichtigung von Fertigstellungs- und Mängelbeseitigungsarbeiten für den Bauherrn Ansprüche gegenüber dem Werkunternehmer geltend zu machen sind. Aus all dem folgt jedoch nicht, dass zum Tätigkeitsbild der Architektinnen und Architekten bezogen auf Fragen des öffentlichen Rechts mehr als die fachliche, technische Begleitung und ggf. damit zusammenhängende Empfehlungen rechtlicher Art gehören. Mit einem Rechtsberater des Bauherrn ist der Architekt nämlich nicht gleichzusetzen.

Auswirkungen für die Praxis

Das Berufsbild des Architekten ist ebenso wie zur Bestimmung erlaubter Nebenleistungen für den Umfang der Deckung in der Berufshaftpflichtversicherung maßgeblich. Die Folge einer unerlaubten Rechtsberatung ist daher, dass kein Versicherungsschutz besteht (Fischer, jurisPR-PrivBauR 12/2020 Anm. 1). Bei unerlaubter Rechtsdienstleistung durch einen Architekten scheiden zwar vertragliche Schadensersatzansprüche des Auftraggebers gegen ihn aus. Denn der Verstoß gegen § 3 RDG führt dazu, dass der zugrunde liegende Vertrag jedenfalls insoweit gemäß § 134 BGB nichtig ist, wie er die unerlaubte Rechtsdienstleistung erfasst. Bei den §§ 2, 3 RDG handelt es sich aber um Schutzgesetze iSd. § 823 Abs. 2 BGB, deren Verletzung eine Schadensersatzpflicht begründen kann. Diese Anspruchsgrundlage hat der VII. Zivilsenat ausdrücklich bestätigt (BGH, Urteil vom 9. November 2023 – VII ZR 190/22 –, Rn. 40). Daneben kommt ein aus § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB in Betracht (BGH, Urteil vom 27. November 2019 – VIII ZR 285/18 –, Rn. 94). Versicherungsschutz des Architekten besteht aus den dargestellten Gründen nicht. Dasselbe muss gelten, sofern der Architekt für seinen Auftraggeber im Bereich der Mängelbeseitigung tätig wird. Bisher wurde angenommen, dass der bauleitende Architekt in der Regel Mängelrügen aussprechen, Fristen setzen und vereinbaren sowie für den Fall des Fristablaufs die Kündigung androhen dürfe, weil er auf die plangemäße Herstellung des Baus hinzuwirken und die Bauarbeiten zu koordinieren habe (OLG Köln, Urt. v. 29.12.2016 - I-7 U 131/15). Sobald aber die Ebene der Gewährleistung – nach heutiger Terminologie: Nacherfüllung – verlassen wird und Sekundärrechte geltend gemacht werden, gehört darauf bezogene Tätigkeit nicht mehr zum Berufsbild des Architekten. So hat das OLG Koblenz die Kündigung eines Bauvertrags durch den Architekten nicht mehr als Nebenleistung zum Architektenwerk und daher nach § 3 RDG als unzulässig angesehen (OLG Koblenz, Beschl. v. 07.05.2020 - 3 U 2182/19, mit zustimmender Anm. Schwenker, NZBau 2021, 187).

13.12.2023
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Zur Kostenregelung im Vergleich

Die Regelung der Kosten des Rechtsstreits in einem Vergleich erfasst nicht die Kosten des Vergleichs. Wenn die Parteien nichts anderes vereinbaren, gelten die Kosten eines Prozessvergleichs gemäß § 98 Satz 1 ZPO als gegeneinander aufgehoben.

OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juni 2023 – I-25 W 89/23 

Problemstellung

Das OLG Hamm hatte über die in der Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilte Frage zu entscheiden, ob die in einem Vergleich nach § 278 Abs. 6 ZPO von den Parteien vereinbarte Kostenregelung, nach der eine Partei die „Kosten des Rechtsstreits“ trägt, auch eine Einigungsgebühr nach Nr. 1003 VV RVG umfasst.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Parteien eines Rechtsstreits beendeten das Verfahren durch einen außergerichtlich vereinbarten, nach § 278 Abs. 6 ZPO von der Kammer festgestellten Vergleich, in dem sie hinsichtlich der Kosten regelten: "Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits". Im anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren hat der Kläger auch eine 1,0 Einigungsgebühr nach Nr. 1003 VV RVG angemeldet. Auf den Hinweis der Rechtspflegerin, dass die Einigungsgebühr nicht festsetzbar sei, weil die Parteien im Vergleich nichts über die Kosten des Vergleichs vereinbart hätten, diese damit als gegeneinander aufgehoben anzusehen seien (§ 98 ZPO), hat der Kläger diesen Kostenfestsetzungsantrag "berichtigt" und seine außergerichtlichen Kosten ohne die Einigungsgebühr beziffert. Im Kostenfestsetzungsbeschluss hat die Rechtspflegerin jedoch die ursprünglich vom Kläger angemeldeten außergerichtlichen Kosten insgesamt angesetzt. Dagegen hat die Beklagte unter Hinweis auf den korrigierten Kostenfestsetzungsantrag des Klägers sofortige Beschwerde eingelegt. Die Parteien hätten sich darauf verständigt, die Kosten des Vergleichs gegeneinander aufzuheben. Der Kläger hat daraufhin gemeint, die Korrektur sei nur irrtümlich erfolgt; der ursprüngliche, nunmehr erneut "berichtigend" gestellte Antrag sei zutreffend, weil eine in einem gerichtlichen Vergleich getroffene Kostenregelung, nach welcher eine Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, regelmäßig auch die infolge des Vergleichsabschlusses entstandene Einigungsgebühr erfasse. Die Kosten eines Prozessvergleichs gehörten regelmäßig zu den Kosten des Rechtsstreits, weil beides von den Parteien gewöhnlich als Einheit angesehen werde.

Mit Beschluss vom 23.02.2023 hat die Rechtspflegerin der sofortigen Beschwerde der Beklagten abgeholfen und den Kostenfestsetzungsbeschluss abgeändert. Die Einigungsgebühr sei nicht zu berücksichtigen, weil die Kosten eines abgeschlossenen Vergleichs gem. § 98 S. 1 ZPO als gegeneinander aufgehoben anzusehen seien, wenn die Parteien nicht ein anderes vereinbart haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelte § 98 S. 1 ZPO grundsätzlich auch dann, wenn die Parteien einen gerichtlichen Vergleich abschließen. Auch hier sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich zwischen den Kosten des Rechtsstreits und den Kosten des Vergleichs zu unterscheiden. Gegen diese Entscheidung wendet sich nunmehr der Kläger. Die Rechtspflegerin hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem zuständigen Senat zur Entscheidung vorgelegt. Nachdem der Senat die Parteien darauf hingewiesen hatte, dass die Beklagte ausdrücklich vorgetragen habe, die Parteien hätten sich darauf verständigt, die Kosten des Vergleichs gegeneinander aufzuheben, weshalb der Kläger seinen ursprünglichen Kostenfestsetzungsantrag auch entsprechend korrigiert habe, und der Kläger dem nicht entgegengetreten sei, hat der Kläger einen bis dato nicht bei der Akte befindlichen Schriftsatz vom 23.08.2022 vorgelegt, in dem er vorgetragen hatte, eine Verständigung der Parteien darüber, dass die Kosten des Vergleichs gegeneinander aufzuheben wären, sei weder mündlich noch schriftlich erfolgt.

Die sofortige Beschwerde des Klägers ist unbegründet. Die Rechtspflegerin hat in dem angefochtenen Beschluss vom 23.02.2023 zu Recht die vom Kläger zur Festsetzung angemeldete Einigungsgebühr außer Betracht gelassen. Gemäß § 103 Abs. 1 ZPO kann der Anspruch auf Erstattung von Prozesskosten nur aufgrund eines zur Zwangsvollstreckung geeigneten Titels (§ 794 ZPO) geltend gemacht werden, d.h. die Festsetzung einer etwaig entstandenen Gebühr erfordert als Grundlage eine entsprechende Kostengrundentscheidung, die hier auch die Erstattung einer etwaig entstandenen Einigungsgebühr umfassen müsste. Die Kostenregelung im von den Parteien getroffenen Vergleich bietet insoweit keine Grundlage, weil diese sich nach ihrem Wortlaut allein auf die Kosten des Rechtsstreits bezieht. Wie die Rechtspflegerin zutreffend ausgeführt hat, sind bei einem Prozessvergleich die Kosten eines abgeschlossenen Vergleichs gem. § 98 S. 1 ZPO als gegeneinander aufgehoben anzusehen, wenn nicht die Parteien ein anderes vereinbart haben. Denn es ist zu beachten, dass die Kosten "des Rechtsstreits" nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers (§ 98 ZPO) weder die Kosten eines gerichtlichen noch die Kosten eines außergerichtlichen Vergleichs umfassen. Beide Gruppen von Kosten folgen vielmehr eigenen, zudem auch nicht notwendig ergebnisgleichen Regeln. Vorliegend ist nicht festzustellen, dass sich die Parteien darauf verständigt hätten, dass etwaige Vergleichskosten als "Kosten des Rechtsstreits" von der Kostenregelung im Vergleich hätten umfasst sein sollen. Konkrete Gespräche oder eine ausdrückliche Einigung der Parteien diesbezüglich ist nicht ersichtlich oder vorgetragen. Auch der Kläger beruft sich insoweit lediglich darauf, dass regelmäßig angenommen werden könne, dass Parteien bei Abschluss eines Prozessvergleichs dessen Kosten als Kosten des Rechtsstreits behandeln wollten, weil er zum eigentlichen Prozessgeschehen gehöre und die Kosten gewöhnlich als Einheit angesehen würden. Nach Auffassung des Senats ist allein die Tatsache, dass die Parteien einen Prozessvergleich schließen, noch dazu im vorliegenden Fall einen solchen nach § 278 Abs. 6 ZPO, dessen Inhalt sie außergerichtlich vereinbart haben, kein ausreichender Grund für die Annahme, dass die Parteien mit der Regelung bzgl. der Kosten des Rechtsstreits (konkludent) auch die Kosten des Vergleichs mitumfassen wollten. Denn ein solch weitgehendes Verständnis, das nach der Erfahrung des Senats auch nicht der Praxis entspricht, würde die gesetzliche Regelung des § 98 S. 1 ZPO aushöhlen. Soweit der Senat in zurückliegender Zeit diesbezüglich eine andere Auffassung vertreten haben sollte, wird hieran nicht mehr festgehalten. Mangels einer Vereinbarung der Parteien über die Verteilung etwaiger Vergleichskosten gelten diese gem. § 98 S. 1 ZPO als gegeneinander aufgehoben, d.h. jede Partei trägt die Vergleichskosten selbst. Eine Festsetzung gegen die Beklagte scheidet damit aus.

Kontext der Entscheidung

Die Rechtslage ist nach wie vor ungeklärt. Zwar hat das OLG Hamm die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen (Rn. 25). Rechtsbeschwerde ist jedoch nicht eingelegt worden (Käseberg IBR 2023, 549). Es verbleibt, da die bisherige Rechtsprechung des BGH nicht eindeutig ist, bei einer nach OLG-Bezirken zersplitterten Rechtsprechung. Von der - mit dem Beschluss geänderten (Rn. 21) - Auffassung des OLG Hamm weicht die bisher wohl herrschende Meinung in der veröffentlichten Rechtsprechung ab. So umfasst nach Auffassung des OLG Hamburg eine im Vergleich getroffene Kostenregelung, nach der die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, auch die infolge des Vergleichsabschlusses entstandene Einigungsgebühr. Zwar unterscheide das Gesetz in § 98 ZPO zwischen den Kosten des Vergleichs und den Kosten des Rechtsstreits, so dass nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers die Kosten „des Rechtsstreits“ nicht die Kosten des gerichtlichen Vergleichs erfassten. Den Parteien sei es aber nach § 98 S. 1 ZPO unbenommen, die Vergleichskosten in die Kosten des Rechtsstreits einzubeziehen. In einer abweichenden Kostenregelung müssten die Vergleichskosten nicht besonders angesprochen werden. Es müssten aber hinreichende Anhaltspunkte gegeben sein, dass die Parteien die Kosten des Vergleichs als Kosten des Rechtsstreits behandeln wollten. Das könne bei den Kosten eines gerichtlichen Vergleichs regelmäßig angenommen werden, weil er zu dem eigentlichen Prozessgeschehen gehört, dessen Kosten von den Parteien gewöhnlich als Einheit angesehen werden. Mithin sind, wenn eine Partei in einem Prozessvergleich die Kosten des Rechtsstreits übernimmt, damit regelmäßig auch die Kosten des Prozessvergleichs erfasst (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 24. Juli 2014 – 4 W 83/14 –, Rn. 4). Eine vergleichbare Auffassung vertritt das OLG Köln. Danach sind, wenn die Parteien anlässlich eines gerichtlichen Vergleichs zwar eine ausdrückliche Regelung im Hinblick auf die Kosten des Rechtsstreites nicht aber wegen der Vergleichskosten treffen, letztere von dieser Regelung erfasst. Zwar sei es grundsätzlich denkbar, dass die Parteien trotz der Formulierung "Kosten des Rechtsstreites" die Vergleichskosten anders geregelt wissen wollen. Da im Kostenfestsetzungsverfahren eine Auslegung der Kostenregelung nur in beschränktem Maße möglich ist, müsse sich hinsichtlich eines anderen Willens der Parteien etwas aus ihrem protokollierten Erklärungen oder sonstwie aus der Sitzungsniederschrift ergeben (OLG Köln, Beschluss vom 10. Mai 2006 – 17 W 79/06 –, Rn. 9 - 11). In diese Richtung dürfte auch die Auffassung des V. Zivilsenats des BGH gehen. Dieser weist darauf hin, dass es den Parteien nach § 98 Satz 1 ZPO unbenommen ist, die Vergleichskosten in die Kosten des Rechtsstreits einzubeziehen. In einer abweichenden Kostenregelung müssen die Vergleichskosten auch nicht notwendig besonders angesprochen werden. Es müssen aber hinreichende Anhaltspunkte gegeben sein, dass die Parteien die Kosten des Vergleichs als Kosten des Rechtsstreits behandeln wollen. Das könne bei den Kosten eines gerichtlichen Vergleichs regelmäßig angenommen werden, weil er zu dem eigentlichen Prozessgeschehen gehört, dessen Kosten von den Parteien gewöhnlich als Einheit angesehen werden (BGH, Beschluss vom 25. September 2008 – V ZB 66/08 –, Rn. 14 - 15). Nach gerichtlichen und außergerichtlichen Vergleichen differenziert des VI. Zivilsenat des BGH. Für den Fall, dass die Parteien zu einer außergerichtlichen Einigung ohne förmliche Niederlegung eines Prozessvergleichs gefunden haben, gehören die Kosten eines außergerichtlichen Vergleichs nur dann zu den erstattungsfähigen Kosten des Rechtsstreits, wenn die Parteien dies vereinbart haben. § 98 Satz 1 ZPO gilt für einen außergerichtlichen Vergleich jedenfalls dann entsprechend, wenn der außergerichtliche Vergleich zur Prozessbeendigung führt (BGH, Beschluss vom 15. März 2011 – VI ZB 45/09 –, Rn. 9 - 11). Ansonsten hat sich der VI. Zivilsenat ausdrücklich der Rechtsprechung des V. Zivilsenats angeschlossen: „§ 98 ZPO trifft keine einheitliche Regelung über die Kosten eines Rechtsstreits bei Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs. Er befasst sich vielmehr in seinem Satz 1 nur mit den Kosten des Vergleichs. Die dort vorgesehene Regelung, dass die Kosten grundsätzlich als gegeneinander aufgehoben gelten, wird mit Satz 2 auf die Kosten des Rechtsstreits übertragen. Das führt zwar dazu, dass für die Kosten des Rechtsstreits und die Kosten des Vergleichs im Grundsatz die gleiche Kostenverteilung gilt, wenn die Parteien nichts anderes vereinbaren. Das ändert aber nichts daran, dass die Vorschrift zwischen den Kosten des Vergleichs einerseits und den Kosten des Rechtsstreits andererseits unterscheidet. Folge hiervon ist, dass die Kosten "des Rechtsstreits" nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers weder die Kosten eines gerichtlichen noch die Kosten eines außergerichtlichen Vergleichs umfassen. Beide Gruppen von Kosten folgen vielmehr eigenen, zudem nicht notwendig ergebnisgleichen Regeln. Hier haben die Parteien keine Kostenregelung getroffen und mithin auch nicht vereinbart, dass die Kosten des Vergleichs abweichend von § 98 ZPO als Kosten des Rechtsstreits behandelt werden sollen. Ein entsprechender Wille kommt auch nicht durch den Verfahrensablauf zum Ausdruck, weil in beiden Verfahren ein Anerkenntnisurteil gegen die jeweiligen Beklagten ergangen und ergänzend zwischen den Parteien ein Vergleich abgeschlossen worden ist, ohne eine Vereinbarung über die Kosten zu treffen.“ (BGH, Beschluss vom 15. März 2011 – VI ZB 45/09 –, Rn. 12 - 14).

Auswirkungen für die Praxis

Der bisherigen Auffassung des BGH entspricht somit: Sind nur die „Kosten des Rechtsstreits“ tituliert, zB in einem Beschluss nach § 91a, sind zwar regelmäßig auch die Kosten eines Prozessvergleichs festsetzbar, die eines außergerichtlichen Vergleichs aber nur, wenn die Parteien dies vereinbart haben (Herget in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 98 Rn. 6). Ob durch die Rechtsprechungsänderung des OLG Hamm auch bei den Zivilsenaten des BGH ein Umdenken einsetzen wird, bleibt abzuwarten, dürfte aber aufgrund der gefestigten Rechtsprechung des V. und des VI. Zivilsenats nicht sehr wahrscheinlich sein. Für die Verfahrensbevollmächtigten empfiehlt es sich jedoch, ausdrückliche Vereinbarungen über die Kosten eines Vergleichs zu treffen, sofern eine Kostenregelung auch der Vergleichskosten gewollt ist. In die Kostenregelung sollte daher die „Kosten des Rechtsstreits und des Vergleichs“ aufgenommen werden.  

13.12.2023
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BGH: Zum Beginn der Rechtsmittelfrist

1. Die Wirksamkeit einer Zustellung wird nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte.  

2. Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden.

BGH, Urteil vom 17. Oktober 2023 – X ZR 96/21

Problemstellung

Der X. Zivilsenat hatte sich mit der Frage zu befassen, wann die Rechtsmittelfrist beginnt, wenn die dem Rechtsmittelführer zugestellte Ausfertigung des Urteils einen Mangel aufweist und das Gericht auf entsprechenden Hinweis des Rechtsmittelführers diesem – nach Rückgabe der mangelbehafteten Ausfertigung – eine mit dem Original des Urteils übereinstimmende Ausfertigung zustellt.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beklagte ist Inhaberin eines angemeldeten Patents. Die Klägerin hat geltend gemacht, das Streitpatent sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in neun geänderten Fassungen verteidigt. Das Patentgericht hat das Patent insoweit für nichtig erklärt, als der Gegenstand der angegriffenen Ansprüche über die mit dem Hilfsantrag 2 verteidigte Fassung hinausgeht. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist am 2. September 2021 eine beglaubigte Abschrift des Urteils zugestellt worden, in der im Tatbestand die beiden letzten Absätze des Hilfsantrags 1 nach der (aus drei Zeilen bestehenden) Bezugnahme auf weitere Hilfsanträge stehen. Mit Schriftsatz vom Tag darauf teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Patentgericht mit, die Ausführungen auf der betreffenden Seite erweckten den Anschein, dass etwas fehle. Zugleich bat er um einen Hinweis, wie die Begründung hier zu lesen sei. Das Patentgericht hat die ursprünglich zugestellten Abschriften zurückgefordert und die Zustellung von mit dem Original übereinstimmenden Abschriften verfügt. Die berichtigte Fassung ist der Klägerin am 27. September 2021 zugestellt worden. Die Berufungsschrift der Klägerin ist am 27. Oktober 2021 beim BGH eingegangen, der gem. § 110 PatG Berufungsgericht ist.  

Die Berufung ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist von einem Monat eingelegt worden ist. Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist hat im Streitfall mit der Zustellung vom 2. September 2021 begonnen. Dem steht nicht entgegen, dass die damals zugestellte Abschrift des Urteils auf Seite 9 von der Urschrift abweicht. Die Wirksamkeit einer Zustellung wird nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als Beeinträchtigung oder Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf. Im Interesse einer klaren und praktikablen Handhabung ist hierbei auf eine typisierende Betrachtungsweise abzustellen. Als typischerweise wesentlicher Mangel ist vor allem das Fehlen ganzer Seiten anzusehen. Grundsätzlich führt danach schon das Fehlen einer einzigen Seite zur Unwirksamkeit der Zustellung. Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden. Dies ist etwa der Fall, wenn erst die berichtigte Entscheidung die Beschwer erkennen lässt oder ergibt, dass die Entscheidung überhaupt einem Rechtsmittel zugänglich ist, oder wenn erst aus dieser Fassung hervorgeht, gegen wen das Rechtsmittel zu richten ist.    Im Streitfall hat bereits die Zustellung der fehlerhaften Fassung die Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt. Der in der zugestellten Abschrift enthaltene Fehler ist nicht als typischerweise wesentlich anzusehen. Die zugestellte Abschrift enthielt alle Seiten des angefochtenen Urteils. Weder der in der Wiedergabe des Tatbestands enthaltene Fehler noch sonstige Umstände deuteten auf eine mögliche Unvollständigkeit hin. Wie die Klägerin in ihrer Eingabe an das Patentgericht zu Recht geltend gemacht hat, lässt die am 2. September 2021 zugestellte Abschrift auf Seite 9 erkennen, dass der wiedergegebene Text von dem tatsächlich gewollten abweicht. Der im Tatbestand vollständig wiedergegebene Wortlaut der Patentansprüche 1 und 5 in der Fassung von Hilfsantrag 1 wird unterbrochen durch die Bezugnahme auf den Wortlaut der weiteren Ansprüche. Dies deutet auf ein offensichtliches Schreibversehen hin, nicht aber auf eine Unvollständigkeit. Aus diesem Fehler ergaben sich auch keine Hinweise darauf, dass die zugestellte Abschrift des Urteils in weiteren Punkten von der Urschrift abweicht. Die Entscheidungsgründe lassen zweifelsfrei erkennen, dass das Patentgericht das Patent nur insoweit für nichtig erklärt hat, als es über den mit Hilfsantrag 2 verteidigten Gegenstand hinausgeht, und die Klage im Übrigen abgewiesen hat, wie dies auch im Tenor formuliert ist. Der offensichtliche Schreibfehler bei der Wiedergabe der Hilfsanträge war für diese Beurteilung nicht relevant. Die am 2. September 2021 in Gang gesetzte Berufungsfrist ist durch die Einlegung der Berufung am 27. Oktober 2021 nicht eingehalten worden.

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht erfüllt. Bei mehrfacher Zustellung einer Entscheidung kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein, wenn die erneute Zustellung durch den Gegner oder das Gericht veranlasst worden ist und das Gericht mitgeteilt hat, die erste Zustellung sei unwirksam oder gegenstandslos. Ein Prozessbevollmächtigter, der die erneute Zustellung selbst veranlasst hat, darf allerdings nicht ohne weiteres davon ausgehen, das Gericht habe die erste Zustellung als unwirksam angesehen. Im Streitfall hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die erneute Zustellung veranlasst. Die Geschäftsstelle des Patentgerichts hat bei der zweiten Zustellung zwar um Rückgabe der zuerst zugestellten Fassung gebeten. Sie hat sich aber nicht zur Wirksamkeit der ersten Zustellung verhalten. Bei dieser Ausgangslage fehlte es an einer hinreichenden Vertrauensgrundlage für die Annahme, die Berufungsfrist habe erst mit der zweiten Zustellung zu laufen begonnen.

Kontext der Entscheidung

Für die Zustellung als Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist kommt es entscheidend auf äußere Form und Inhalt der zur Zustellung verwendeten Ausfertigung an; bei Abweichungen ist die Ausfertigung maßgeblich, weil allein sie nach außen in Erscheinung tritt und die beschwerte Partei ihre Rechte nur anhand der Ausfertigung wahrnehmen kann und muss. Ist in der Ausfertigung ein Mangel enthalten, kann er sich aber auf die Urteilszustellung nicht schwerwiegender auswirken, als wenn er bereits in der Urschrift des Urteils enthalten gewesen wäre. Die Wirksamkeit der Zustellung wird nicht berührt, wenn es sich um einen Fehler handelt, der - wäre er bei der Urteilsabfassung unterlaufen - gemäß § 319 ZPO hätte korrigiert werden können. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als eine Beeinträchtigung oder gar Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf. Der Zustellungsempfänger muss aus der Ausfertigung wenigstens den Inhalt der Urschrift und vor allem den Umfang seiner Beschwer und die tragenden Entscheidungsgründe erkennen können. Das erstinstanzliche Urteil muss in der Fassung, in der es zugestellt wird, die Grundlage für das weitere prozessordnungsgemäße Handeln der Partei bilden können (BGH, Beschluss vom 24. Mai 2006 – IV ZB 47/05 –, Rn. 11). ) Ist das Urteil in seiner der Partei zugestellten Ausfertigung nicht klar genug, um die Grundlage für das weitere Handeln der Parteien zu bilden, beginnt mit der Bekanntmachung des Berichtigungsbeschlusses eine neue Rechtsmittelfrist zu laufen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Verfahrensregeln nicht um ihrer selbst Willen, sondern wesentlich auch im Interesse der Beteiligten geschaffen werden. Der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in einer Weise gehindert werden, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist. Der Irrtum eines Gerichts darf sich nicht dahin auswirken, dass Rechtsmittelmöglichkeiten erschwert oder ausgeschlossen werden (BGH, Beschluss vom 17. Januar 1991 – VII ZB 13/90 –, Rn. 12).

Auswirkungen für die Praxis

Die Berichtigung eines Urteils gemäß § 319 ZPO wegen offenbarer Unrichtigkeit hat grundsätzlich keinen Einfluss auf Beginn und Lauf der Rechtsmittelfrist. Gegen das berichtigte Urteil findet nur das gegen das ursprüngliche Urteil zulässige Rechtsmittel statt, und die Frist zu seiner Einlegung läuft (schon) von der Zustellung der unberichtigten Urteilsfassung an. Den Parteien wird zugemutet, im Rahmen ihrer Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels eine offenbare Unrichtigkeit des Urteils zu berücksichtigen, schon bevor dieses gemäß § 319 ZPO berichtigt wird (BGH, Beschluss vom 9. November 2016 – XII ZB 275/15 –, Rn. 6).

13.12.2023
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BGH: Screenshots zur Glaubhaftmachung bei beA-Störung

Zur Glaubhaftmachung der vorübergehenden technischen Unmöglichkeit gemäß § 130d Satz 3 ZPO durch Vorlage eines Screenshots: Die Vorlage eines Screenshots kann geeignet sein, die behauptete Störung glaubhaft zu machen.

BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2023 - XI ZB 1/23

(OLG Braunschweig, Entscheidung vom 20.12.2022 - 11 U 109/22; LG Braunschweig, Entscheidung vom 19.08.2022 - 5 O 5693/20 (623))

Das Problem:

Der Kläger hat gegen das ihm am 22. August 2022 zugestellte Urteil des Landgerichts am 22. September 2022 Berufung eingelegt. Die Frist zur Begründung ist auf seinen Antrag bis zum 24. November 2022 verlängert worden. Am 24. November 2022 um 22:18 Uhr hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers zwei Schriftsätze nebst einem Screenshot per Telefax an das Berufungsgericht übermittelt. Mit dem ersten dieser Schriftsätze hat sie mitgeteilt, dass aufgrund von Störungen derzeit überhaupt keine Verbindung zu dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) aufgebaut werden könne. Auf der Seite der Bundesrechtsanwaltskammer sei angegeben, dass seit ca. 14:06 Uhr die beA-Webanwendung nicht zur Verfügung stehe und mit Hochdruck an der Störungsbeseitigung gearbeitet werde. Da aufgrund der Größe des Schriftsatzes ein weiteres Zuwarten nicht mehr angezeigt sei, werde der beigefügte Fristverlängerungsantrag per Fax eingereicht. Mit dem zweiten Schriftsatz ist beantragt worden, die Berufungsbegründungsfrist im versicherten Einvernehmen der Gegenseite wegen starker Arbeitsüberlastung nochmals um einen Monat zu verlängern. Beide Schriftsätze hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers zudem unaufgefordert am 25. November 2022 per beA an das Berufungsgericht übermittelt. Mit Verfügung des Vorsitzenden vom 30. November 2022 ist der Kläger darauf hingewiesen worden, dass der Berufungssenat beabsichtigte, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, da sie nicht innerhalb der bis zum 24. November 2022 verlängerten Frist begründet worden sei und die an diesem Tag per Telefax eingereichten Schriftsätze nicht den Anforderungen des § 130d ZPO genügten, weil die vorübergehende Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen nicht gemäß § 130d Satz 3 ZPO glaubhaft gemacht worden sei. Daraufhin hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2022 eine Berufungsbegründung vorgelegt und mit weiterem Schriftsatz vom gleichen Tag die Richtigkeit des am 24. November 2022 geschilderten Sachverhalts unter Bezugnahme auf ihre Berufspflichten anwaltlich versichert sowie vorsorglich die Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist beantragt. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Kläger die Berufungsbegründungsfrist des § 520 Abs. 2 ZPO versäumt habe.

Die Entscheidung des Gerichts:

Die Rechtsbeschwerde des Klägers ist begründet. Denn das Berufungsgericht hat zu Unrecht nicht geprüft, ob dem Kläger die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren ist. Der Kläger hat am 8. Dezember 2022 und damit innerhalb der Monatsfrist aus § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist beantragt und gleichzeitig die versäumte Prozesshandlung nachgeholt, indem er die Berufungsbegründung eingereicht hat. Der Kläger war ohne sein Verschulden und ohne ein ihm gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist verhindert (§ 233 ZPO). Er durfte darauf vertrauen, dass sein am 24. November 2022 per Telefax übermittelter Antrag, die bis zu diesem Tag verlängerte Berufungsbegründungsfrist im Einverständnis mit der Beklagten erneut zu verlängern, nicht abgelehnt werde. Der Rechtsmittelführer ist generell mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung des ihm eingeräumten pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt. Im Wiedereinsetzungsverfahren kann sich der Rechtsmittelführer deshalb nur dann mit Erfolg auf sein Vertrauen in eine Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Bei Einwilligung des Gegners ist auch das Vertrauen in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt. Im Übrigen hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers zusätzlich einen konkreten Grund für den Antrag - starke Arbeitsüberlastung - angegeben. Der Fristverlängerungsantrag ist auch wirksam gestellt worden. Eine elektronische und damit formgerechte Übermittlung des Verlängerungsantrags vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist ist zwar nicht erfolgt. Allerdings waren entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung gemäß § 130d Satz 2, 3 ZPO erfüllt. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die am 24. November 2022 bestehende Störung des beA, die dazu führte, dass mehrere Stunden lang keine Verbindung zum beA aufgebaut werden konnte, eine vorübergehende technische Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument iSv. § 130d Satz 2 ZPO begründete und dass der Schriftsatz vom 24. November 2022 eine ausreichende Schilderung der einen Ausnahmefall nach § 130d Satz 2 ZPO begründenden Tatsachen enthält. Allerdings überspannt das Berufungsgericht die sich aus § 130d Satz 3 ZPO ergebenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer auf technischen Gründen beruhenden vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument, indem es im vorliegenden Fall eine anwaltliche Versicherung des Scheiterns der Übermittlung für zwingend erforderlich erachtet, ohne den vorgelegten Screenshot zu berücksichtigen. Die Vorlage dieses Screenshots, bei dem es sich um ein Augenscheinsobjekt iSv. § 371 Abs. 1 ZPO handelt, war geeignet, die behauptete Störung glaubhaft zu machen. Denn sein Inhalt stimmt überein mit den Angaben in der beA-Störungsdokumentation auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer und in dem Archiv der auf der Störungsseite des Serviceportals des beA-Anwendersupports veröffentlichten Meldungen für den Zeitraum Juli - Dezember 2022, nach denen vom 24. November 2022, 14:06 Uhr, bis zum 25. November 2022, 3:33 Uhr eine Störung des beA-Systems bestand, wodurch die beA-Webanwendung nicht zur Verfügung stand und eine Adressierung von beA-Postfächern bzw. eine Anmeldung am beA nicht möglich war.  

Konsequenzen für die Praxis:

Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob die Störung angesichts der auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer verfügbaren Informationen als offenkundig im Sinne von § 291 ZPO hätte behandeln können. Tatsachen sind allgemeinkundig, wenn sie zumindest am Gerichtsort der Allgemeinheit bekannt oder ohne besondere Fachkunde - auch durch Information aus allgemein zugänglichen zuverlässigen Quellen - wahrnehmbar sind. Die Tatsache muss nicht jedermann gegenwärtig sein, es genügt vielmehr, dass man sich aus einer allgemein zugänglichen und zuverlässigen Quelle ohne besondere Fachkunde über sie sicher unterrichten kann (BGH, Beschluss vom 24. Mai 2023 – VII ZB 69/21, MDR 2023, 1124). Diese Voraussetzungen sind durch die beA-Störungsdokumentation auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer erfüllt. Angesichts der Offenkundigkeit der Störung stellte es eine überflüssige Förmelei dar, Glaubhaftmachung durch anwaltliche Versicherung zu verlangen. Um den sichersten Weg zu beschreiten, sollte bis zur höchstrichterlichen Klärung der Anwendbarkeit des § 291 ZPO auf die vorliegende Konstellation vorsorglich eine anwaltliche Versicherung abgegeben werden.

Beraterhinweis:

Ist für einen Verlängerungsantrag die Zustimmung des Gegners erforderlich, muss diese mit dem Antrag vorgetragen werden (BGH, Beschl. v. 25.08.2021 - XII ZB 172/20, MDR 2021, 1348). Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung erneut zu verlängern, darf er darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben werde. Auch ein vorangegangener Hinweis, mit einer weiteren Verlängerung sei nicht zu rechnen, kann dem Vertrauen des Prozessbevollmächtigten des Berufungsführers in die Fristverlängerung nicht entgegenstehen. Ein solcher Hinweis entbindet das Gericht nicht davon, die in § 520 Abs. 2 ZPO angelegte Differenzierung danach, ob der Gegner eingewilligt hat oder nicht, und die vom Gesetzgeber beabsichtigte vereinfachte Verlängerungsmöglichkeit bei erteilter Einwilligung zu beachten (BGH, Beschl. v. 30.01.2023 - VIa ZB 15/22, MDR 2023, 379).

13.12.2023
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BGH: Kein Grundurteil bei unbeziffertem Feststellungsantrag

Der Erlass eines Grundurteils nach § 304 Abs. 1 ZPO erfordert, dass grundsätzlich alle Fragen, die zum Grund des Anspruchs gehören, erledigt sind und nach dem Sach- und Streitstand zumindest wahrscheinlich ist, dass der Anspruch in irgendeiner Höhe besteht. Eine entsprechende Trennung in ein Grund- und Betragsverfahren setzt einen Anspruch voraus, der auf die Zahlung von Geld oder die Leistung vertretbarer, der Höhe nach summenmäßig bestimmter Sachen gerichtet ist. Deswegen scheidet ein Grundurteil über einen unbezifferten Feststellungsantrag wesensgemäß aus.

BGH, Urteil vom 20. September 2023 – VIII ZR 432/21

Problemstellung

Der VIII. Zivilsenat hatte sich mit den Voraussetzungen für den Erlass eines Grundurteils nach § 304 ZPO zu befassen. Anders als das nur prozessuale Fragen klärende Zwischenurteil gemäß § 303 ZPO ist die Vorabentscheidung über den Grund (Grundurteil) ein materielles Zwischenurteil besonderer Art über den geltend gemachten Anspruch (Feskorn in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 304 Rn. 1 mwN.).

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger als (ehemaliger) Mieter und die Klägerin als Rentenversicherungsträgerin nehmen die beklagte Vermieterin auf Schadensersatz in Anspruch. Der Kläger erlitt am 23. Dezember 2011 während des Badens einen Atemstillstand. Eine durchgeführte Blutuntersuchung ergab eine Kohlenmonoxid-Vergiftung. Der Kläger behauptet, diese sei durch aus der Gastherme im (fensterlosen) Bad ausströmendes Kohlenmonoxid verursacht worden. Die letzte Wartung der Gastherme am 7. Juni 2011 sei unzureichend gewesen. Der Kläger ist seit der erlittenen Kohlenmonoxid-Vergiftung arbeitsunfähig und bezieht seit dem 1. Mai 2013 eine unbefristete Erwerbsunfähigkeitsrente. Mit seiner Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zur Zahlung von (bereits entstandenem) Verdienstausfall in Höhe von 135.794,56 €, einer monatlichen Entschädigungsrente ab dem 1. März 2016 in Höhe von 3.375,53 € bis zum 18. Oktober 2030 sowie eines angemessenen Schmerzensgeldes - nicht unter 150.000 € -, jeweils nebst Zinsen, zu verurteilen. Zudem hat er beantragt festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm die Schäden aus dem Gasthermenunfall vom 23. Dezember 2011 zu ersetzen. Die Klägerin hat aus übergegangenem Recht beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 99.562,39 € (erbrachte Leistungen und entgangene Beiträge) nebst Zinsen zu verurteilen. Ferner hat sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihr ab dem 1. März 2016 den Schaden aus dem Gasthermenunfall in Höhe des entgangenen Beitrags des Klägers zur gesetzlichen Rentenversicherung auf der Basis des monatlichen Bruttoentgelts (5.673,91 €) bis zum 18. Oktober 2030 zu zahlen, weiter festzustellen, dass die Beklagte die künftigen Erwerbsunfähigkeitsleistungen der Klägerin an den Kläger sowie hinsichtlich der Behandlung des Klägers die künftigen Heilbehandlungskosten inklusive Rehabilitationsmaßnahmen wegen des Unfalls vom 23. Dezember 2011 zu erstatten habe. Das Landgericht hat, nach Verwertung von Sachverständigengutachten, welche in einem vorangegangenen selbständigen Beweisverfahren und in einem Strafverfahren eingeholt worden waren, sowie deren mündlicher Erläuterung ein Grundurteil erlassen, wonach die Klage dem Grunde nach berechtigt ist. Die Berufung der Beklagten hat das Kammergericht zurückgewiesen.

Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Das vom Landgericht erlassene und vom Berufungsgericht bestätigte Grundurteil ist verfahrensfehlerhaft ergangen. Die Voraussetzungen, nach denen gemäß § 304 Abs. 1 ZPO im Wege eines Grundurteils entschieden werden kann, liegen nicht vor. Nach § 304 Abs. 1 ZPO kann das Gericht über den Grund vorab entscheiden, wenn ein Anspruch nach Grund und Höhe streitig und lediglich der Streit über den Anspruchsgrund entscheidungsreif ist. Dies erfordert, dass grundsätzlich alle Fragen, die zum Grund des Anspruchs gehören, erledigt sind und nach dem Sach- und Streitstand zumindest wahrscheinlich ist, dass der Anspruch in irgendeiner Höhe besteht. Eine entsprechende Trennung in ein Grund- und Betragsverfahren setzt einen Anspruch voraus, der auf die Zahlung von Geld oder die Leistung vertretbarer, der Höhe nach summenmäßig bestimmter Sachen gerichtet ist. Deswegen scheidet ein Grundurteil über einen unbezifferten Feststellungsantrag wesensgemäß aus. Hiernach durfte über die Feststellungsanträge der Kläger nicht im Wege eines Grundurteils entschieden werden. Dies hat das Berufungsgericht nicht beachtet und das erstinstanzliche Grundurteil, welches auch die jeweiligen Feststellungsanträge beider Kläger umfasst, verfahrensfehlerhaft unbeanstandet gelassen.

Bei den vorinstanzlichen Entscheidungen handelt es sich nicht um Teilurteile; sie erstrecken sich vielmehr auf sämtliche Klageanträge. Das Landgericht hat im Tenor die (gesamte) Klage als "dem Grunde nach berechtigt" angesehen. Diesen umfassenden, mithin (verfahrensfehlerhaft) auch die Feststellungsanträge einbeziehenden Ausspruch, hat das Berufungsgericht nicht beanstandet, sondern die Berufung der Beklagten (insgesamt) zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen des Zurückweisungsbeschlusses des Berufungsgerichts werden "die Klage", mithin auch die Feststellungsbegehren, umfassend dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Berufungsgericht unterscheidet nicht zwischen den Zahlungs- und den Feststellungsanträgen. Selbst wenn man - entgegen dem Vorstehenden - annähme, das Berufungsgericht habe lediglich über die Zahlungsanträge der Kläger entscheiden wollen, würde dies an der Fehlerhaftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts nichts ändern. Denn es läge dann in der Sache ein unzulässiges Teilurteil (§ 301 Abs. 1 ZPO) vor, weil in der vorliegenden Fallgestaltung der objektiven Klagehäufung von Leistungs- und Feststellungsbegehren, die aus demselben tatsächlichen Geschehen hergeleitet werden, aufgrund der Gefahr einander widersprechender Entscheidungen nicht durch Teilurteil gesondert über einen Teil der Ansprüche entschieden werden darf.      

Entgegen der Ansicht der Klägerin liegen hinsichtlich ihres Klageantrags festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Schaden aus dem Gasthermenunfall in Höhe des entgangenen Beitrags des Klägers zur gesetzlichen Rentenversicherung zum jeweils gültigen Beitragssatz bis zum regulären Renteneintritt des Klägers zu zahlen, die Voraussetzungen, nach denen ausnahmsweise auch über einen Feststellungsantrag (zunächst) durch ein Grundurteil entschieden werden kann, nicht vor. Ein Grundurteil über eine Feststellungsklage kann ausnahmsweise dann ergehen, wenn damit ein bestimmter Betrag in der Weise geltend gemacht wird, dass die Klage auch zu einem Ausspruch über die Höhe des Anspruchs führen soll. In einem solchen Ausnahmefall ist die Feststellungsklage in einer Weise beziffert, dass ein Grundurteil seinen Zweck erfüllen kann. Dieser Zweck besteht darin, das Verfahren zu vereinfachen und zu verbilligen, indem eine Vorklärung des Anspruchs und deren Überprüfung im Instanzenzug ermöglicht und damit gegebenenfalls eine aufwendige Beweisaufnahme erspart wird. Dieser Funktion entsprechend ist Voraussetzung des Erlasses eines Grundurteils - wie ausgeführt - ein nach Grund und Höhe streitiger Anspruch, mithin eine mögliche Trennung in ein Grund- und in ein Betragsverfahren. Eine solche Trennung ist bezüglich des vorgenannten Feststellungsantrags der Klägerin nicht möglich. Zwar verweist sie zutreffend darauf, dass der von ihr begehrte Betrag in Höhe des ausgebliebenen Beitrags des (erwerbsunfähigen) Klägers zur gesetzlichen Rentenversicherung "berechenbar" ist. Jedoch soll die Klage nicht auch zu einem Ausspruch über die Höhe dieses Anspruchs führen, da der Umfang der Pflicht der Beklagten, der Klägerin die - aufgrund der behaupteten Erwerbsunfähigkeit des Klägers - entgangenen Beitragsleistungen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen, wie im Antrag formuliert, von dem künftigen, jeweils gültigen Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung abhängt. Ein Betragsverfahren im Sinne des § 304 ZPO ist somit weder möglich noch von der Klägerin begehrt.    

Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann schließlich nicht als Entscheidung über den Grund der bezifferten Zahlungsanträge beider Kläger (§ 304 Abs. 1 ZPO) und als stattgebendes Teilendurteil (§ 301 Abs. 1 ZPO) über die unbezifferten Feststellungsanträge angesehen werden. In Fällen der vorliegenden Art ist im Einzelfall zu prüfen, ob das Berufungsgericht über Feststellungsanträge nicht lediglich - was nach Vorstehendem unzulässig ist - durch ein Grundurteil, sondern - was grundsätzlich zulässig wäre im Wege eines Endurteils entschieden hat, mit der Folge, dass ein Teil-Grundurteil und ein Teil-Endurteil vorliegen würde. Eine Auslegung in diesem Sinne setzt aber voraus, dass die Entscheidungsgründe oder der Gesamtinhalt des Urteils Anhaltspunkte für einen solchen Willen des Berufungsgerichts ergeben. Daran fehlt es hier. Ausweislich der Entscheidungsgründe hat das Berufungsgericht auch hinsichtlich der jeweiligen Feststellungsanträge beider Kläger lediglich das erstinstanzliche Zwischenurteil zum Grund bestätigen wollen und (auch) insoweit keine abschließende Endentscheidung getroffen. Sämtliche Feststellungsanträge umfassen künftige Schäden. Ein auf den Ersatz künftiger Schäden gerichteter Feststellungsantrag kann nur dann Erfolg haben, wenn die sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs vorliegen, also ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu möglichen künftigen Schäden führen kann. Zu solchen möglichen künftigen Schäden beider Kläger hat das Berufungsgericht keinerlei Ausführungen gemacht. Im Gegenteil ist es auf das Vorliegen weiterer, nach der Behauptung des Klägers auf das Unfallereignis zurückzuführender Gesundheitsschäden, insbesondere die dauerhafte Erwerbsunfähigkeit, nicht näher eingegangen. Es hat die erlittene Kohlenmonoxid-Vergiftung als Primärschaden ausreichen lassen und will die - auch für die Feststellungsanträge maßgebende - Frage, ob die vom Kläger behaupteten (weiteren) Gesundheitsschäden auf die Kohlenmonoxid-Vergiftung zurückzuführen sind (haftungsausfüllende Kausalität), erst im Betragsverfahren klären.      

Das Grundurteil ist zudem auch hinsichtlich der seitens beider Kläger gestellten Zahlungsanträge - mit Ausnahme des Antrags des Klägers auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgelds - verfahrensfehlerhaft. Ein Grundurteil darf - wie ausgeführt - nur ergehen, wenn ein Anspruch nach Grund und Höhe streitig ist, grundsätzlich alle Fragen, die zum Grund des Anspruchs gehören, erledigt sind und wenn nach dem Sach- und Streitstand zumindest wahrscheinlich ist, dass der Anspruch in irgendeiner Höhe besteht. Diese Wahrscheinlichkeit ergibt sich aus den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht. Das Berufungsgericht hat die vorgenannten Anforderungen zwar im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend erkannt. Es hat jedoch zur Begründung seiner Entscheidung lediglich allgemein auf Erwägungen zur Prozessökonomie abgestellt, aber die gebotenen Feststellungen dazu, dass den Klägern die von ihnen mit ihren Zahlungsanträgen jeweils geltend gemachten Schäden mit hoher Wahrscheinlichkeit entstanden sind, nicht getroffen. Der Kläger begehrt mit den Zahlungsanträgen die Erstattung seines - bereits erlittenen und künftigen - Verdienstausfalls. Feststellungen dazu, dass er einen solchen Schaden mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Höhe erlitten hat, fehlen. Das Berufungsgericht hat insoweit bereits den Inhalt des Klagebegehrens nicht in den Blick genommen. Mit seinen ersten beiden Klageanträgen macht der Kläger seinen Verdienstausfall geltend, den er aufgrund von ihm behaupteter dauerhafter Erwerbsunfähigkeit infolge des Gasthermenunfalls erlitten habe; er sei "durch die Vergiftung dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt". Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte aber bestritten, dass der Kläger infolge des Schadensereignisses seine Berufstätigkeit nicht mehr habe ausüben können, sondern darauf verwiesen, dieser sei nach der Kohlenmonoxid-Vergiftung ohne Befund beschwerdefrei aus dem Krankenhaus entlassen worden. Eine Pflicht der Beklagten den geltend gemachten Verdienstausfall des Klägers zu zahlen und damit die Wahrscheinlichkeit eines Anspruchs in irgendeiner Höhe, besteht aber nur, wenn die (dauerhafte) Arbeitsunfähigkeit des Klägers haftungsausfüllend kausal auf den Unfall zurückzuführen ist. Hierzu sind Feststellungen nicht getroffen. Das Berufungsgericht hat lediglich im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität die Primärschädigung in Form der Kohlenmonoxid-Vergiftung festgestellt und im Übrigen darauf verwiesen, es werde im Verfahren über die Höhe des Anspruchs zu klären sein, ob die vom Kläger "im einzelnen behaupteten Gesundheitsschäden" auf die Kohlenmonoxid-Vergiftung zurückzuführen seien. In gleicher Weise hat das Berufungsgericht auch bezüglich der Ansprüche der Klägerin keine Feststellungen dazu getroffen, ob - mit hoher Wahrscheinlichkeit - der von dieser mit ihrem Zahlungsantrag geltend gemachte Schaden (in irgendeiner Höhe) besteht. Ihr Zahlungsbegehren in Höhe von 99.562,39 € stützt die Klägerin auf entgangene Beitragszahlungen des Arbeitgebers des Klägers zu 1 zur gesetzlichen Rentenversicherung; hierbei stehen Beiträge ab dem Wegfall des Krankengelds in Rede. Ferner werden die für eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme des Klägers im Zeitraum vom 12. Juni bis zum 17. Juli 2012 aufgewandten Kosten sowie die Rentenzahlungen an den Kläger und die Krankenkassenbeiträge für diesen als (Erwerbsunfähigkeits-)Rentner geltend gemacht. Auch bezüglich dieser, maßgebend auf der behaupteten dauerhaften Erwerbsunfähigkeit des Klägers beruhenden Schäden hat das Berufungsgericht die gebotenen Feststellungen nicht getroffen. Die hohe Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts kann allein unter Zugrundelegung der vom Berufungsgericht angenommenen Primärverletzung einer Kohlenmonoxid-Vergiftung nicht bejaht werden.    

Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist überdies deshalb verfahrensfehlerhaft, weil es den Mangel der Mietsache (§ 536a Abs. 1, § 536 Abs. 1 BGB), welcher ursächlich für den Austritt von Kohlenmonoxid - und damit für die Gesundheitsverletzung des Klägers - gewesen sei, (allein) in der Verschmutzung des Wärmetauschers der Gastherme gesehen hat, ohne den insoweit von der Beklagten gehaltenen und unter Beweis gestellten Vortrag zum Verschmutzungszustand des Wärmetauschers am Unfalltag hinreichend zu berücksichtigen. Die Beklagte hat bestritten, dass der Wärmetauscher am Unfalltag verschmutzt gewesen sei und dies durch die Vernehmung des Bezirksschornsteinfegermeisters sowie des Notfallschornsteinfegers unter Beweis gestellt. Dieses Beweisbegehren der Beklagten stellt einen beachtlichen Beweisantrag dar, dem das Berufungsgericht, dem Gebot folgend, sich mit dem Streitstoff umfassend auseinanderzusetzen und den Sachverhalt durch die Erhebung der angetretenen Beweise möglichst vollständig aufzuklären, hätte nachgehen müssen. Anders als das Berufungsgericht gemeint hat, ist der Vortrag der Beklagten zum Nichtvorhandensein von wesentlichen Verschmutzungen des Wärmetauschers am Unfalltag hinreichend substantiiert. Ein Sachvortrag ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das gilt insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den Vorgängen hat. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten. Gemessen hieran hat die Beklagte ausreichend dargelegt, dass nach ihrer Auffassung der Wärmetauscher - entgegen der Feststellung des Berufungsgerichts - am Unfalltag nicht verschmutzt gewesen sei und damit nicht ursächlich für das nach der Behauptung der Kläger aus der Gastherme ausströmende Kohlenmonoxid gewesen sein könne, weil derartige Verschmutzungen von den benannten, am Unfalltag in der Mietwohnung anwesenden Zeugen nicht festgestellt worden seien. Einen näheren Vortrag zum genauen Verschmutzungszustand und zu der Art der Untersuchung des Wärmetauschers durch die benannten Zeugen konnte und musste die Beklagte, die im Gegensatz zu den beiden als Zeugen benannten Schornsteinfegern selbst am Unfalltag nicht vor Ort war, nicht halten. Sie musste insbesondere keine Ausführungen dazu machen, welche konkreten Untersuchungen die Zeugen an der Gastherme vorgenommen hatten und "inwiefern deshalb der Verschmutzungszustand des Wärmetauschers hätte festgestellt werden können". Die weitergehende Annahme des Berufungsgerichts, es erscheine "unwahrscheinlich", dass am Unfalltag angesichts des im Raum stehenden Gasthermenunfalls und der hinzugezogenen Feuerwehr eine genaue Untersuchung des Wärmetauschers auf Verschmutzungen stattgefunden habe, stellt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung dar. Eine unzulässige Beweisantizipation liegt vor, wenn der von einer Partei angebotene Beweis nicht erhoben wird, weil das Gericht dem unter Beweis gestellten Vorbringen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst. So liegt der Fall hier. Die Erwägungen des Berufungsgerichts tragen nicht dessen Annahme, es erscheine "unwahrscheinlich", dass die am Unfalltag anwesenden Schornsteinfeger (nähere) Untersuchungen der Gastherme durchgeführt hätten, so dass die Vernehmung der Zeugen keine sachdienlichen Erkenntnisse erbringen könnte. Denn für das Vorliegen eines hinreichend bestimmten Beweisantrags ist es nicht erforderlich, dass die Partei das Beweisergebnis im Sinne einer vorweggenommenen Beweiswürdigung wahrscheinlich macht. Das Berufungsgericht hat somit die nicht erhobenen Beweise vorab gewürdigt und eine bloße Mutmaßung zum Tatsachengeschehen am Unfalltag angestellt. Ob und welche Untersuchungen stattgefunden haben, ist durch die Vernehmung der hierfür benannten Zeugen zu klären.  

Kontext der Entscheidung

Das Urteil bestätigt die ständige Rechtsprechung aller Zivilsenate zu den Voraussetzungen eines Grundurteils. § 304 ZPO soll das Verfahren vereinfachen und verbilligen, indem eine Vorklärung des Anspruchs und deren Überprüfung im Instanzenzug ermöglicht und damit gegebenenfalls eine aufwendige Beweisaufnahme erspart wird. Dieser Funktion entsprechend setzt § 304 ZPO neben einem nach Grund und Höhe streitigen Anspruch  vor allem voraus, dass eine solche Trennung in Grund- und Betragsverfahren möglich ist. Diese Voraussetzung erfüllt nur ein auf die Zahlung von Geld oder die Leistung vertretbarer Sachen gerichteter Anspruch, der der Höhe nach summenmäßig bestimmt ist (std. Rspr., vgl nur: BGH, Urteil vom 19. Februar 1991 – X ZR 90/89 –, Rn. 6, mwN.). Ausnahmsweise kann ein Grundurteil über eine Feststellungsklage ergehen, wenn damit ein bestimmter Betrag in der Weise geltend gemacht wird, dass die Klage auch zu einem Ausspruch über die Höhe des Anspruchs führen soll (BGH, Urteil vom 27. Januar 2000 – IX ZR 45/98 –, Rn. 16, mwN.). Feststellungsklagen haben dann eine nach Grund und Betrag streitige Verpflichtung zum Gegenstand, wenn ein bestimmter Betrag in dem Sinne geltend gemacht wird, dass die Klage auch zu einem Ausspruch über die Höhe des Anspruchs führen soll. In einem solchen Ausnahmefall ist die Feststellungsklage in einer Weise beziffert, dass ein Grundurteil seinen Zweck erfüllen kann (BGH, Urteil vom 9. Juni 1994 – IX ZR 125/93 –, Rn. 11, mwN.). Voraussetzung eines Grundurteils ist dabei aber stets, dass der mit der Klage geltend gemachte Anspruch mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Höhe besteht (BGH, Urteil vom 27. Januar 2000 – IX ZR 45/98 –, Rn. 21, mwN.).

Auswirkungen für die Praxis

Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten (BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21). Zwar kann ein erhebliches Beweisangebot außer Acht bleiben, wenn das Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen kann. Es muss jede Möglichkeit ausgeschlossen sein, dass der übergangene Beweisantrag Sachdienliches ergeben könnte. Insbesondere kommt eine Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet nicht in Betracht, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt (BGH, Beschluss vom 21. November 2019 – V ZR 101/19 –, Rn. 10). Sachverständigenbeweis wird durch die Bezeichnung der zu begutachtenden Punkte angetreten. Von der beweispflichtigen Partei wird keine wissenschaftliche (sachverständige) Substantiierung der unter Beweis gestellten Tatsachen verlangt. Es muss vielmehr nur das Ergebnis mitgeteilt werden, zu dem der Sachverständige kommen soll, nicht der Weg, auf dem dies geschieht (BGH, Beschluss vom 02. November 2021 – IX ZR 39/20 –, Rn. 12).

13.12.2023
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BGH: Nichtberücksichtigung erheblichen Beweisangebots

1.   Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

2.   Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten.

BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Problemstellung

Wieder einmal musste sich der VI. Zivilsenat mit der Frage befassen, ob ein Gericht einen Beweisantrag ablehnen darf, weil es dem unter Beweis gestellten Vorbringen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger begehrt von den Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz im Zusammenhang mit der Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt. Die Beklagte zu 1 ist Trägerin des Klinikums; die Beklagte zu 2 dort angestellte Hebamme, die die Mutter des Klägers vor dessen Geburt betreut hat. Die Mutter des Klägers, die sich in der 40. Schwangerschaftswoche befand, traf um 2.55 Uhr im Klinikum der Beklagten zu 1 ein. Sie klagte weder über Wehen noch Schmerzen, äußerte aber die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Mutter zum Aufnahmezeitpunkt gegenüber der Beklagten zu 2 sind streitig. Um 2.57 Uhr legte die beklagte Hebamme der Mutter ein CTG-Gerät an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor. Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle und nach vergeblichen Weckversuchen rief die Hebamme um 3.15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3.18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Mutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine "Blutung > Regelstärke". Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3.26 Uhr den Alarm für eine Notsectio aus, um 3.34 Uhr wurde der Kläger entbunden. Er litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde der Kläger in eine Universitätsklinik verlegt. Der Umfang seiner Gesundheitsschäden ist streitig. Der Kläger hat geltend gemacht, beim Eintreffen im Klinikum habe seine Mutter auf starke Blutungen hingewiesen und auch darauf, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Aufgrund dieser Mitteilungen habe von einem geburtshilflichen Notfall ausgegangen werden müssen. Die Beklagten haben vorgetragen, die Mutter habe gegenüber der Beklagten zu 2 von Blutungen nichts berichtet. Das Anlegen des CTG-Gerätes sei als Erstmaßnahme zur Sicherung der Vitalität des Kindes richtig gewesen. Typische Leitsymptome einer vorzeitigen Plazentaablösung seien nicht vorhanden gewesen. Eine vaginale Untersuchung sei nicht vorrangig gewesen. Selbst wenn die Blutungen bei der Mutter bereits zu Hause eingesetzt hätten, hätte sich kein anderer Verlauf ergeben.  

Das Landgericht hat die Klage mangels Nachweises eines Behandlungsfehlers der Beklagten abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 300.000 € verurteilt und ihre Verpflichtung zum Ersatz sämtlichen weiteren materiellen und immateriellen Schadens festgestellt. Die Schadensersatzverpflichtung beruhe auf einem behandlungsfehlerhaften Vorgehen der Beklagten zu 2 bei der Betreuung der Mutter des Klägers. Nach Anhörung der Eltern und der Beklagten zu 2 sei der Senat überzeugt, dass die Eltern des Klägers bei Aufnahme der Mutter im Kreißsaal der Beklagten zu 2 über zu Hause einsetzende Blutungen berichtet hätten (OLG Rostock, Urteil vom 5. November 2021 – 5 U 119/13).      

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Beklagten rügen zu Recht, dass das Berufungsgericht die von ihnen benannten Zeugen Dr. G., Dr. F. und Dr. K. nicht vernommen und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nach Anhörung lediglich der Eltern und der Beklagten zu 2 aufgrund der Angaben der Eltern zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Mutter des Klägers der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme über Blutungen berichtet habe. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. So liegt es im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht bei seiner Annahme, die Eltern des Klägers hätten der Beklagten zu 2 bereits bei der Aufnahme im Kreißsaal über zu Hause einsetzende Blutungen der Mutter berichtet, beweisbewehrtes Sachvorbringen der Beklagten übergangen hat und einem erheblichen Beweisangebot nicht nachgegangen ist. Die Beklagten haben in den Instanzen vorgetragen, dass die Mutter gegenüber der Beklagten zu 2 nichts über eine Blutung berichtet habe, sondern erstmals bei Eintreffen der Zeugin Dr. G. über das Auftreten einer vaginalen Blutung gesprochen habe, so wie es in dem vorgelegten und unmittelbar nach der Sectio erstellten Gedächtnisprotokoll der Zeugen Dres. G., F. und K. und der Beklagten zu 2 festgehalten worden sei. Der nach der Sectio nochmals zur anamnestischen Situation befragte Vater habe erst dann zum ersten Mal erwähnt, dass die Kindsmutter bereits zu Hause eine vaginale Blutung gehabt habe. Hierzu hätten die Beklagten schon in ihrer Klagerwiderung Beweis durch Benennung der Zeuginnen Dres G., F. und K. angetreten und im Berufungsverfahren an die unerledigten Beweisantritte erinnert. Dieser Beweisantritt ist weder unzulässig noch fehlt dem Beweisangebot die Eignung zum Beweismittel. Das Berufungsgericht hat zur Frage der Mitteilung häuslicher Blutungen gegenüber der Beklagten zu 2 dennoch lediglich die Eltern des Klägers und die Beklagte zu 2 angehört.    

Der Antritt eines Zeugenbeweises erfordert - außer bei inneren Tatsachen - grundsätzlich keine Angaben dazu, wie der Zeuge die unter Beweis gestellte Tatsache erfahren haben soll. Ein Beweisantrag ist nur unter sehr engen Voraussetzungen als rechtsmissbräuchlich und daher als unzulässig zu bewerten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Partei ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufstellt; bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. Denn eine Partei ist in einem Zivilprozess häufig darauf angewiesen, Tatsachen zu behaupten, über die sie zwar keine genauen Kenntnisse besitzt, die sie nach Lage der Dinge aber für wahrscheinlich hält. Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten. Darüber hinaus scheidet die Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet aus, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt. Eine Begründung für einen solchen Ausnahmefall kann den Gründen des Berufungsurteils nicht entnommen werden. Das Berufungsgericht hat dazu nur ausgeführt, dass es die Angaben der Eltern für glaubhaft halte. Da bei der vaginalen Untersuchung der Mutter durch die Ärztin eine Blutung > Regelstärke festgestellt worden sei, sei es für den Senat nachvollziehbar, dass die Eltern, die wegen dieser Blutung die Klinik aufgesucht hätten, gegenüber der Beklagten zu 2 nicht nur den Verdacht eines Blasensprungs geäußert hätten, sondern ihr auch über die Blutung berichtet hätten. Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Eltern des Klägers begründen könnten, seien nicht ersichtlich und hätten auch die Beklagten nicht aufgezeigt. Es spreche auch sonst nichts dafür, dass die Eltern des Klägers die vorhandene Blutung erst der später herbeigerufenen Ärztin mitgeteilt hätten. Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Die Begründung eines Befunderhebungsfehlers der Beklagten zu 2 durch das Berufungsgericht steht und fällt mit der Annahme, dass der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme eine häusliche Blutung der Mutter mitgeteilt worden ist, die Veranlassung gegeben hätte, deren Vorlage zur Prüfung und Feststellung des Umfangs der Blutung zu kontrollieren.

Kontext der Entscheidung

Im Interesse der Wahrung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG darf das Gericht keine überspannten Anforderungen an die Darlegung stellen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung aller Zivilsenate des BGH, dass die offenkundig unrichtige Nichtberücksichtigung eines Bestreitens wegen mangelnder Substantiierung Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (BGH, Beschluss vom 28. Juli 2020 – VI ZR 300/18 –, mwN.) Vermag sich eine Partei an ein Geschehen nicht zu erinnern, kann sie dazu gleichwohl eine ihr günstige Behauptung unter Zeugenbeweis stellen, wenn sie hinreichende Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass der Zeuge das notwendige Wissen hat. Ob und inwieweit der Zeuge in der Lage ist, sich zu erinnern, ist erst durch die Vernehmung des Zeugen und die daran anschließende Würdigung seiner Aussage zu klären. Der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung der Partei ist ohne Bedeutung. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, muss das Gericht in die Beweisaufnahme eintreten und dabei ggf. die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen unterbreiten. Die Ablehnung eines für eine beweiserhebliche Tatsache angetretenen Zeugenbeweises ist nur dann zulässig, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann, oder wenn sie zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet, aber aufs Geratewohl gemacht, gleichsam „ins Blaue hinein“ aufgestellt, mit anderen Worten, aus der Luft gegriffen sind und sich deshalb als Rechtsmissbrauch darstellen (BGH, Beschl. v. 01.06.2005 - XII ZR 275/02 Rn. 7). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält (BGH, Urt. v. 08.05.2012 - XI ZR 262/10 Rn. 40). Die Zurückweisung einer beantragten Zeugenvernehmung wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass diese Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann; weder die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache noch die Unwahrscheinlichkeit der Wahrnehmung der Tatsache durch den benannten Zeugen berechtigen den Tatrichter schon dazu, von der Beweisaufnahme abzusehen (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2018 – XII ZR 99/17). Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Hiervon ist unter anderem dann auszugehen, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots auf einer vorweggenommenen Beweiswürdigung beruht. Eine unzulässige Beweisantizipation liegt vor, wenn der von einer Partei angebotene Beweis nicht erhoben wird, weil das Gericht dem unter Beweis gestellten Vorbringen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst (BGH, Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20 –, Rn. 10, mwN.).  

Auswirkungen für die Praxis

Besondere Anforderungen stellt die Rechtsprechung an den Vortrag der beweisbelasteten Partei in der Berufungsinstanz, wenn das Gericht verfahrensrechtswidrig eine Beweisaufnahme ablehnt. Hält das Berufungsgericht den Vortrag der beweisbelasteten Partei für „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt und lehnt es deshalb die beantragte Beweiserhebung als Ausforschungsbeweis ab, muss die betroffene Partei das Gericht auf von ihm bislang nicht beachteten höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätze zur Substantiierung von Beweisbehauptungen hinweisen. Unterlässt die betroffene Partei diese „Aufklärung“ des Gerichts, kommt eine Zulassung der Revision wegen des dem Berufungsgericht unterlaufenen Gehörsverstoßes nicht in Betracht, wenn es die Partei versäumt hat, im Rahmen der ihr eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken. Eine Partei ist in der Revisionsinstanz dann wegen des allgemeinen Grundsatzes der Subsidiarität daran gehindert, die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung geltend zu machen (BGH, Beschl. v. 28.01.2020 - VIII ZR 57/19; kritisch dazu: L. Jaeger, jM 2020, 280).

13.12.2023
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BGH: Zur Zulassungsprüfung der Berufung

1. Das Berufungsgericht muss vor Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Beschwer eine Zulassungsprüfung nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen ist, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen hat.

2. Ein Grund für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO wegen einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes liegt in der Unterlassung einer gebotenen Nachholung der Entscheidung über die Zulassung der Berufung nur, wenn ein Grund für die Zulassung der Berufung vorliegt.

BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZB 72/22

Problemstellung

Wird die Berufung vom Berufungsgericht als unzulässig verworfen, weil sie an sich nicht statthaft oder nicht in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist, findet gegen den Verwerfungsbeschluss die Rechtsbeschwerde statt, wie § 522 Abs. 1 Satz 3 ZPO bestimmt. War das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und hatte deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen, und hatte das Berufungsgericht die Zulassungsprüfung auch nicht nachgeholt, fragt sich, ob in diesem Fall die Rechtsbeschwerde auch ohne Zulassungsgrund iSd. § 574 Abs. 2 ZPO zulässig ist.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Amtsgericht hat den Beklagten verurteilt, es zu unterlassen, den Pkw des Klägers zu verkratzen. Der Beklagte hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das Landgericht hat den Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren auf bis zu 300 € festgesetzt und die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € nicht übersteige und das Amtsgericht die Berufung auch nicht zugelassen habe.      

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten ist unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Entgegen der Ansicht des Beklagten ergibt sich ihre Zulässigkeit nicht aus § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordern würde. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, ist der angefochtene Beschluss nicht schon deshalb aufzuheben, weil er nicht ausreichend mit Gründen versehen ist. Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben sowie den Streitgegenstand und die Anträge in beiden Instanzen erkennen lassen. Anderenfalls sind sie nicht mit den nach dem Gesetz (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 6 ZPO) erforderlichen Gründen versehen und bereits deshalb wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangels aufzuheben. Das Rechtsbeschwerdegericht hat grundsätzlich von dem Sachverhalt auszugehen, den das Berufungsgericht festgestellt hat (§ 577 Abs. 2 Satz 1 und 4, § 559 ZPO). Enthält der angefochtene Beschluss keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen, ist das Rechtsbeschwerdegericht zu einer rechtlichen Überprüfung nicht in der Lage. Dies gilt auch, wenn das Berufungsgericht die Berufung verwirft, weil die Berufungssumme nicht erreicht sei. Denn die Wertfestsetzung kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht die Grenzen des ihm von § 3 ZPO eingeräumten Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hat. Eine Sachdarstellung ist lediglich dann ausnahmsweise entbehrlich, wenn sich der maßgebliche Sachverhalt und das Rechtsschutzziel noch mit hinreichender Deutlichkeit aus den Beschlussgründen ergeben. Letzteres ist der Fall. Obgleich der Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts eine Sachdarstellung nicht enthält, ergibt sich aus dessen Gründen in Verbindung mit dem in Bezug genommenen Hinweisbeschluss, dass der Beklagte zur Unterlassung einer Beschädigung des Pkw des Klägers verurteilt wurde und sich hiergegen in vollem Umfang mit seiner Berufung wendet.

Entgegen der Ansicht des Beklagten verletzt die Entscheidung des Berufungsgerichts ihn auch nicht in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, weil das Berufungsgericht keine eigene Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hat. Allerdings muss das Berufungsgericht vor Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Beschwer eine Zulassungsprüfung nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen ist, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen hat. Es kann dahinstehen, ob hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Amtsgericht von einer 600 € übersteigenden Beschwer des Beklagten ausgegangen ist, so dass das Berufungsgericht die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nach den genannten Grundsätzen hätte nachholen müssen. Denn eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu der an sich gegebenen Berufung und damit ein Grund für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung iSv. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO wegen einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes liegt in der Unterlassung einer gebotenen Nachholung der Entscheidung über die Zulassung der Berufung nur, wenn ein Grund für die Zulassung der Berufung vorliegt. Dass dies der Fall wäre, macht die Rechtsbeschwerde jedoch nicht geltend. Sie beanstandet lediglich, dass das Berufungsgericht keine Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hat. Der Beklagte bringt auch nicht vor, das Berufungsgericht habe ihm den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung dadurch unzumutbar erschwert, dass es bei der Bemessung der Höhe seiner Beschwer durch das amtsgerichtliche Urteil die Grenzen seines insoweit bestehenden Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hätte. Ein Verstoß des Berufungsgerichts gegen das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes ist daher nicht schlüssig dargelegt.

Kontext der Entscheidung

Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BGH, dass für die durch gesetzliche Zulassung statthafte Rechtsbeschwerde das Vorliegen eines Zulassungsgrundes iSv 577 Abs. 2 ZPO zusätzliche Zulässigkeitsvoraussetzung ist. Dabei stimmen die Zulassungsgründe des § 577 Abs. 2 ZPO mit den Gründen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO überein (Feskorn in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 574 Rn. 8 – 9 mwN.). Die Prüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht entfällt auch dann nicht, wenn die Rechtsbeschwerde – unzutreffend – zugelassen worden ist. Entsprechender Vortrag wird nicht etwa dadurch entbehrlich, dass das Berufungsgericht die Rechtsbeschwerde in seiner Entscheidung zugelassen hat. Denn die Zulassung einer ohnehin kraft Gesetzes statthaften Rechtsbeschwerde entbehrt einer gesetzlichen Grundlage und entfaltet deshalb auch keine Bindungswirkung für das Rechtsbeschwerdegericht (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2005 – XII ZB 110/03 –, Rn. 9). Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat und deswegen von einem entsprechenden Wert der Beschwer der unterlegenen Partei ausgegangen ist, hält aber das Berufungsgericht diesen Wert nicht für erreicht, so muss das Berufungsgericht, das insoweit nicht an die Streitwertfestsetzung des Erstgerichts gebunden ist, die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind. Denn die unterschiedliche Bewertung darf nicht zu Lasten der Partei gehen (BGH, Beschluss vom 3. Juni 2008 – VIII ZB 101/07 –, Rn. 5).

Auswirkungen für die Praxis

Gegen Verwerfungsbeschlüsse nach § 522 Abs. 1 ZPO ist stets die Rechtsbeschwerde statthaft. Wird die Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen, weil sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre (§ 522 Abs. 3 ZPO). Der Beschluss ist somit wie eine Entscheidung durch Urteil mit der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar, soweit diese nicht mangels ausreichender Beschwer ausgeschlossen ist. Das statthafte Rechtsmittel ist die Nichtzulassungsbeschwerde, weil die Revisionszulassungsgründe nach § 543 ZPO aus der Sicht des Berufungsgerichts nicht vorliegen können, denknotwendig also eine Revisionszulassung ausscheidet (Heßler in Zöller, ZPO, 35 Aufl. 2024, § 522 Rn. 44 mwN.). Hat das Berufungsgericht jedoch die Berufung durch Urteil als unzulässig verworfen, ist gemäß § 544 Abs. 2 ZPO die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben, und zwar unabhängig vom Streitwert.

13.12.2023
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Keine Sicherheitsleistung für vorl. Vollstreckung einer Bauhandwerkersicherung

Für die vorläufige Vollstreckung einer Bauhandwerkersicherung gem. § 650f BGB ist keine Sicherheitsleistung zu erbringen.

Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Teilurteil vom 6. September 2023 – 12 U 59/23

Problemstellung

Auf Grund eines Antrags der zur Leistung einer Sicherheitsleistung verurteilten Beklagten, vorab über die vorläufige Vollstreckbarkeit des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils zu entscheiden, hatte das OLG darüber zu entscheiden, ob die Vorschriften der ZPO über die vorläufige Vollstreckbarkeit gegen Sicherheitsleistung auch für Urteile gelten, durch die der Beklagte verurteilt wird, eine Sicherheit nach § 650f BGB zu leisten.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin für Vergütungsansprüche einschließlich der dazugehörigen Nebenforderungen eine Sicherheit in Höhe von 377.718,63 € nach ihrer Wahl durch die in § 232 BGB aufgeführten Arten der Sicherheitsleistung zu leisten. Es hat das Urteil hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen und der Kosten des Rechtsstreits gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages, im Übrigen ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt. In Bezug auf die vorläufige Vollstreckbarkeit hat es ausgeführt, die Entscheidung beruhe auf § 709 Satz 1, 2 ZPO; soweit die Beklagte zur Sicherheitsleistung verurteilt worden sei, sei das Urteil ohne Sicherheitsleistung vollstreckbar.

Die Beklagte hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Die Berufung ist bislang noch nicht begründet worden. Die Beklagte wendet sich vorab gegen den Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit. Dazu führt sie aus, die Tatsache, dass das Landgericht die Verurteilung zur Leistung der Sicherheit ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt habe, verstoße gegen die Regelungen des Zivilprozessrechts in §§ 708ff. ZPO.    

Der Antrag auf Vorabentscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils gem. § 718 Abs. 1 ZPO ist nicht begründet. Nach Ansicht des Senats ist für die vorläufige Vollstreckung einer Bauhandwerkersicherung keine Sicherheitsleistung zu erbringen. Im Ergebnis und der wesentlichen Begründung folgt der Senat der Entscheidung des KG (KG Berlin, Urteil vom 22. Juni 2018 – 7 U 111/17). Nach Ansicht des KG ist eine Vollstreckbarkeitserklärung gegen Sicherheitsleistung nicht erforderlich, weil Gegenstand der verurteilten Leistung lediglich die Verpflichtung zu einer Sicherheitsleistung ist. Diese Verpflichtung zur Sicherheitsleistung ist nicht von einer - weiteren - Sicherheitsleistung abhängig zu machen. Dem folgt der Senat. Auch wenn grundsätzlich bei Urteilen, die nicht § 708 ZPO unterfallen, gem. § 709 Satz 1 ZPO eine Sicherheitsleistung für die vorläufige Vollstreckbarkeit zu erbringen ist, entfällt eine solche nach Ansicht des Senats bei der hier in Frage stehenden Bauhandwerkersicherung gem. § 650f BGB. Durch die Entscheidungen der Gerichte, eine Sicherheitsleistung für die vorläufige Vollstreckung einer Bauhandwerkersicherung festsetzen, wird Auftragnehmern ein Großteil des Druckpotentials genommen. Sie können vom Auftraggeber im Wege der Vollstreckung nur dann die Bauhandwerkersicherheit verlangen, wenn sie selbst im Rahmen der vorläufigen Vollstreckung den Betrag zunächst verauslagen. Damit wird in hohem Umfang Kapital gebunden und dies in einer Situation, in der dem Auftragnehmer ohnehin Geldmittel fehlen, nämlich diejenigen, die vom Auftragnehmer - berechtigt oder unberechtigt - zurückgehalten werden. Zu Recht weist die Klägerin auch darauf hin, dass der Bundesgerichtshof wiederholt betont hat, dass die Bestimmung des § 650f BGB dazu dienen soll, dem Unternehmer möglichst schnell und effektiv vom Besteller eine Sicherheit zu erhalten, und zwar mittelbar auch im Interesse der Liquidität des Unternehmers. Wenn der Unternehmer aber wegen der ihm noch nicht rechtskräftig zugesprochenen Bauhandwerkersicherheit Sicherheit zu leisten hätte, um diese Bauhandwerkersicherheit zu erlangen und diese Sicherheit auf eigene Kosten u.U. über mehrere Jahre Verfahrensdauer aufrechterhalten müsste, dann wäre der gesetzgeberische Zweck nicht nur nicht erreicht, sondern in sein Gegenteil verkehrt.  

Eine Sicherheitsleistung ist nach Ansicht des Senates auch nicht etwa deswegen erforderlich, weil im Falle der Vollstreckung die Möglichkeit besteht, dass dann, wenn die Beklagte keine Sicherheit – etwa durch Stellung einer Bürgschaft - leistet, die Klägerin die Möglichkeit hat, das grundsätzlich der Beklagten zustehende Wahlrecht, in welcher Form die Sicherheit zu leisten ist, an deren Stelle auszuüben. In diesem Fall könnte die Klägerin dann gemäß § 887 Absatz 2 ZPO auch Vorauszahlung des hierfür erforderlichen Geldbetrages verlangen. Damit besteht grundsätzlich die Gefahr, dass etwa Gläubiger der Klägerin auf diesen Betrag zugreifen, bevor er von der Klägerin an den Bürgen weitergeleitet wird bzw. werden kann. Dieses Risiko schätzt der Senat aber schon deshalb als gering ein, weil die Beklagte auch noch nach Beginn der Zwangsvollstreckung die Möglichkeit behält, sich von der Verbindlichkeit zu befreien, indem sie ihrer Verbindlichkeit zur Sicherheitsleistung in anderer Weise nachkommt, § 264 Absatz 1 2. Halbsatz BGB. Von daher scheint es auch aus diesem Grund nicht erforderlich, die Vollstreckbarkeit von einer Sicherheitsleistung in Höhe der ausgeurteilten Bauhandwerkersicherung abhängig zu machen.

Kontext der Entscheidung

Welche Urteile ohne Sicherheitsleistung und welche nur gegen Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt werden dürfen, regelt die ZPO in einem Regelausnahmeverhältnis. § 708 ZPO führt zunächst die Ausnahmefälle auf, bei denen die vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung auszusprechen ist. Für die Praxis die wichtigsten sind Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a ZPO (§ 708 Nr. 2 ZPO) und Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten (§ 708 Nr. 10 ZPO). Andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten sind ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar zu erklären, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 € nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 € ermöglicht (§ 708 Nr. 11 ZPO). Liegt keiner dieser Ausnahmefälle vor, sind Urteile – die ZPO nennt sie „andere Urteile“ - gegen eine der Höhe nach zu bestimmende Sicherheit für vorläufig vollstreckbar zu erklären, wie § 709 ZPO bestimmt. Urteile auf Stellung einer Sicherheit kennt der Katalog des § 708 ZPO nicht, so dass die Grundnorm des § 709 ZPO einschlägig ist. Daher sind nach der Systematik des Gesetzes Urteile, durch die die beklagte Partei zur Stellung einer Sicherheit gemäß § 650f BGB verurteilt werden, nur gegen Sicherheit für vorläufig vollstreckbar zu erklären. Die Gesetzeslage ist eindeutig. Das OLG Schleswig missachtet sie bewusst. Richterliche Rechtsfortbildung berechtigt den Richter aber nicht dazu, seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen (BGH, Urteil vom 26. September 2023 – XI ZR 98/22 –, Rn. 16). Der Grundsatz der Gewaltenteilung schließt es aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. September 2011 – 2 BvR 2216/06 –, Rn. 44). Der – als solcher nicht falsche - Hinweis des OLG, der Bundesgerichtshof habe wiederholt betont, „dass die Bestimmung des § 650f BGB dazu dienen soll, dem Unternehmer möglichst schnell und effektiv vom Besteller eine Sicherheit zu erhalten und zwar mittelbar auch im Interesse der Liquidität des Unternehmers. Wenn der Unternehmer aber wegen der ihm noch nicht rechtskräftig zugesprochenen Bauhandwerkersicherheit Sicherheit zu leisten hätte, um diese Bauhandwerkersicherheit zu erlangen und diese Sicherheit auf eigene Kosten u.U. über mehrere Jahre Verfahrensdauer aufrechterhalten müsste, dann wäre der gesetzgeberische Zweck nicht nur nicht erreicht, sondern in sein Gegenteil verkehrt.“ (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Teilurteil vom 6. September 2023 – 12 U 59/23 –, Rn. 17), ändert nichts daran, dass dem Gericht die Befugnis fehlt, eine von ihm als unbefriedigend empfundene Rechtslage zu missachten. Der Hinweis des Senats auf ein Urteil des Kammergerichts (Rn. 13) führt im Übrigen nicht weiter. Der Entscheidung des KG, der sich das OLG Schleswig anschließen will (KG Berlin, Urteil vom 22. Juni 2018 – 7 U 111/17), fehlt ebenfalls eine überzeugende Begründung. In ihr hieß es ursprünglich nur: „Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1,97 Abs. 1, 708 Nr. 10 und 711 ZPO, wobei die Vollstreckbarkeitserklärung auf die Kosten des Rechtsstreits zu beschränken war, da es in der Hauptsache (nur) um die Leistung einer Sicherheit geht.“ (KG Berlin, Urteil vom 22. Juni 2018 – 7 U 111/17 –, Rn. 45). Später hat der Senat den Tenor „berichtigt“ wie folgt: „Das Urteil vom 22. Juni 2018 ist nur hinsichtlich der Kosten des Rechtsstreits für vorläufig vollstreckbar erklärt worden, da es in den Hauptsache ja nur um die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung geht. Dabei ist als selbstverständlich vorausgesetzt worden, dass diese Verpflichtung zur Sicherheitsleistung nicht von einer - weiteren - Sicherheitsleistung abhängig zu machen ist. Da dies offensichtlich nach dem Wortlaut des Tenors in der ursprünglichen Fassung missverstanden werden kann, ist der Tenor wie geschehen berichtigt worden.“ (KG Berlin, Urteil vom 22. Juni 2018 – 7 U 111/17 –, Rn. 47). Beide Gerichte verkennen, dass die Sicherheit nach § 650f BGB, die in §§ 232 – 240 BGB näher ausgestaltet ist, materiell-rechtlicher Natur ist und damit von der prozessualen Sicherheit zu unterscheiden ist, die in § 108 ZPO geregelt ist. Zwar dient die Sicherheit nach § 108 ZPO allein der gegnerischen Partei, indem sie Ansprüche des Schuldners wegen Vollstreckung aus einer nicht rechtskräftigen Entscheidung schützt (Musielak/Voit/Foerste, 20. Aufl. 2023, ZPO § 108 Rn. 1). Dies ändert aber nichts daran, dass die einschlägigen Vorschriften der ZPO öffentliches Recht darstellen, das nicht der Disposition der Parteien unterliegt. Eine Gleichsetzung der materiell-rechtlichen Sicherheit mit einer prozessrechtlichen ist daher unzulässig. Das geltende Recht verlangt daher auch für Verurteilungen auf Stellung einer Sicherheit nach § 650f BGB, die vorläufige Vollstreckbarkeit nur gegen Sicherheitsleistung des Gläubigers auszusprechen. In welcher Höhe diese Sicherheit zu bemessen ist, ist eine andere Frage (dazu unter D).

Auswirkungen für die Praxis

Was die die Bemessung der Sicherheitsleistung bei einer Verurteilung zur Bauhandwerkersicherung gemäß § 650 f BGB anbelangt, besteht in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein breites Meinungsspektrum. Teilweise wird die volle Höhe der vom Auftraggeber zu stellenden Sicherheit (zzgl. Aufschlag für Kosten und weitere Schäden) für maßgeblich gehalten (OLG Karlsruhe, Teilurteil vom 11. Oktober 2016 – 8 U 102/16; OLG Hamm, Teilurteil vom 9. Januar 2019 – I-12 U 123/18 –, dazu: Fischer, jurisPR-PrivBauR 7/2019 Anm. 4). Diese Auffassung vernachlässigt, dass der Schuldner nicht zur Zahlung des von der Sicherheitsleistung erfassten Betrages verurteilt worden ist, sondern (lediglich) zur Stellung einer Sicherheit. Dementsprechend kann die obsiegende Gläubigerin nur gemäß § 887 Abs. 1 ZPO Hinterlegung gem. §§ 232 Abs. 1, 233 BGB beanspruchen und zugleich nach § 877 Abs. 2 ZPO Vorauszahlung des dafür erforderlichen Betrages verlangen (LG Hagen (Westfalen), Beschluss vom 30. November 2010 – 21 O 83/10 –, bestätigt - ohne weitere Begründung - durch OLG Hamm Beschl. v. 28.1.2011 – 19 W 2/11, BeckRS 2011, 3762). Dies verbietet es, den Streitwert der Klage nach § 650f BGB mit der zu sichernden Forderung gleichzusetzen. Ebenso ist es aus den oben dargestellten Gründen nicht erlaubt, auf eine Sicherheitsleistung gänzlich zu verzichten. Angebracht erscheint statt dieser beiden Extrempositionen die Wahl eines Mittelwegs (so auch: Giers/Scheuch in: Kindl/Meller-Hannich, Zwangsvollstreckung, 4. Auf. 2021, § 709 ZPO Rn. 4). Diesen hat in überzeugender Weise das OLG Hamburg gesucht (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Teilurteil vom 23. Oktober 2015 – 9 U 91/15 –, dazu: Münch, jurisPR-PrivBauR 11/2016 Anm. 5). Dabei geht es von der Grunderwägung aus, dass, wenn die Befugnis des Gläubigers zur vorläufigen Vollstreckbarkeit nach § 709 Satz 1 ZPO von der Erbringung einer vorherigen Sicherheitsleistung abhängt, diese dem Interesse des Schuldners dient und ihm vollen Ersatz für diejenigen Nachteile gewähren soll, die er bei einer etwaigen Zwangsvollstreckung erleidet; er soll davor geschützt werden, dass er zwar die Vollstreckung duldet, aber bei einem objektiv unrechtmäßigen Vollstreckungszugriff eventuelle Ersatzansprüche gegen den vollstreckenden Gläubiger nicht realisieren kann, wozu vor allem ein etwaiger Ersatzanspruch des Vollstreckungsschuldners nach § 717 Absatz 2 ZPO gehört (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Teilurteil vom 23. Oktober 2015 – 9 U 91/15 –, Rn. 5). Zu berücksichtigen seien daher die Kosten des Verfahrens auf Herausgabe bzw. Kraftloserklärung der Sicherheitsleistung. Außerdem seien die Avalzinsen für eine Bürgschaft zu berücksichtigen, die mit 2% der Sicherheitssumme über einen Zeitraum von fünf Jahren anzusetzen seien, dem voraussichtlichen Zeitraum für das Herausgabeverfahren nebst Rechtsmittelverfahren. Außerdem sei ein Sicherheitszuschlag von 5% des ausgeurteilten Betrages gerechtfertigt. Denn es sei nicht ausgeschlossen, dass es im Rahmen der Zwangsvollstreckung zu einer Vorschusszahlung gemäß § 887 Abs. 2 ZPO komme und dass Gläubiger des Vollstreckungsgläubigers auf den Vorschussbetrag zugreifen könnten. Dieses – geringe – Risiko sei mit 5% der zu leistenden Bauhandwerkersicherung zu bewerten (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Teilurteil vom 23. Oktober 2015 – 9 U 91/15 –, Rn. 7 - 9). Im Ergebnis errechnet das OLG für eine Sicherheit in Höhe von 543.398,05 € eine Sicherheitsleistung von 163.000,00 €. Die Berechnungsweise durch das OLG Hamburg, der sich auch das OLG Celle angeschlossen hat (OLG Celle, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 5 W 18/17 –, Rn. 10), überzeugt grundsätzlich, wenn man auch über einzelne Bewertungen streiten mag.

13.12.2023
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BGH: Leistung in irriger Annahme einer Bestellung

Gemäß § 241a Abs. 2 Fall 2 BGB sind gesetzliche Ansprüche nicht ausgeschlossen, wenn die Leistung in der irrigen Vorstellung einer Bestellung erfolgte und der Empfänger dies zwar nicht selbst erkannt hat, ihm aber in entsprechender Anwendung von § 166 Abs. 1 BGB die Kenntnis einer anderen Person von dieser irrigen Vorstellung des Unternehmers zuzurechnen ist.

BGH, Urteil vom 26. September 2023 – XI ZR 98/22

Problemstellung

Durch die Lieferung beweglicher Sachen oder durch die Erbringung sonstiger Leistungen durch einen Unternehmer an den Verbraucher wird ein Anspruch gegen den Verbraucher nicht begründet, wenn der Verbraucher die Waren oder sonstigen Leistungen nicht bestellt hat, wie § 241a Abs. 1 BGB bestimmt. Nach § 241a Abs. 2 BGB sind aber gesetzliche Ansprüche nicht ausgeschlossen, wenn die Leistung nicht für den Empfänger bestimmt war oder in der irrigen Vorstellung einer Bestellung erfolgte und der Empfänger dies erkannt hat oder bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können. Mit dem Anwendungsbereich des Ausnahmetatbestandes der am 30.06.2000 in Kraft getretenen Norm hatte sich erstmalig höchstrichterlich der XI. Zivilsenat zu befassen.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die klagende Bank nimmt den Beklagten auf Rückzahlung eines auf sein Konto überwiesenen Geldbetrages in Anspruch. Der Beklagte und seine damalige Ehefrau führten bei der Bank ein gemeinsames Konto, auf das die Klägerin einen Betrag in Höhe von 3.490 € überwies. Aus ihrer Sicht erfolgte damit die Auszahlung der Darlehensvaluta aus einem zwischen ihr und dem Beklagten geschlossenen Darlehensvertrag. Tatsächlich war der Beklagte aber nicht an dem vermeintlichen Vertragsschluss beteiligt, vielmehr handelte seine damalige Ehefrau unter seinem Namen. Bei dem durchgeführten Video-Identverfahren trat der Stiefvater der damaligen Ehefrau des Beklagten unter Vorlage des Personalausweises des Beklagten auf. Die Unterschrift des Kreditnehmers auf dem Kreditvertrag wurde von der damaligen Ehefrau des Beklagten gefälscht. Nachdem die Klägerin die Kündigung des vermeintlichen Darlehensvertrags wegen Zahlungsrückstandes erklärt hatte, erfolgten Teilzahlungen in Höhe von insgesamt 1.055,20 €. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von 2.434,80 € nebst Zinsen. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Rückzahlung des auf das Konto überwiesenen Betrages, insbesondere nicht aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB. Ob die Voraussetzungen für einen solchen Anspruch erfüllt seien, könne dahinstehen, da er jedenfalls nach § 241a BGB ausgeschlossen sei. Es liege eine unbestellte Leistung iSv. § 241a Abs. 1 BGB vor, da es an einer dem Beklagten zurechenbaren Aufforderung fehle. Der Beklagte habe die Klägerin unstreitig nicht um ein Darlehen bzw. um die Auszahlung auf das mit seiner Ehefrau gemeinsam geführte Konto gebeten.  

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob - wie das Berufungsgericht gemeint hat - es sich bei der Überweisung der "Darlehensvaluta" um eine sonstige unbestellte Leistung im Sinne von § 241a Abs. 1 BGB handelt, oder ob - wie der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung gemeint hat - die Erfüllung eines Scheinvertrages - wie hier - nicht unter § 241a Abs. 1 BGB fällt. Denn selbst wenn § 241a Abs. 1 BGB eingreifen würde, wären gesetzliche Ansprüche der Klägerin nach § 241a Abs. 2 Fall 2 BGB nicht ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind gesetzliche Ansprüche dann nicht ausgeschlossen, wenn die Leistung in der irrigen Vorstellung einer Bestellung erfolgte und der Empfänger dies erkannt hat oder bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können. In einem solchen Fall soll es nach dem Willen des Gesetzgebers bei den allgemeinen Regeln verbleiben, weil diese zu einer angemessenen Rückabwicklung führen (BT-Drucks. 14/2658, S. 46). Wegen des eindeutigen Willens des Gesetzgebers käme eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht, selbst wenn die Vorschrift gegen Unionsrecht verstieße. § 241a BGB dient der Umsetzung mehrerer Richtlinien. Der im Fall einer Darlehensgewährung und damit einer Finanzdienstleistung einschlägige Art. 9 der Richtlinie 2002/65/EG nF bestimmt, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um die Verbraucher für den Fall, dass unbestellte Waren geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht wurden, von jeder Verpflichtung zu befreien, wobei das Ausbleiben einer Antwort nicht als Zustimmung gilt.  

Es kann dahinstehen, ob der nationale Gesetzgeber mit § 241a Abs. 2 Fall 2 BGB zu Lasten des Verbrauchers hinter den Anforderungen aus Art. 9 der Richtlinie 2002/65/EG nF zurückgeblieben ist, auch wenn mit dieser Richtlinie grundsätzlich eine Vollharmonisierung unionsrechtlicher Vorschriften über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen bezweckt ist und Art. 9 der Richtlinie 2002/65/EG nF keine ausdrückliche Ausnahme von diesem Grundsatz enthält. Denn selbst wenn diese Vorschrift dahingehend auszulegen sein sollte, dass der Verbraucher, dem eine unbestellte Finanzdienstleistung erbracht worden ist, von sämtlichen vertraglichen und gesetzlichen Ansprüchen zu befreien ist, kommt eine entsprechende unionrechtskonforme Auslegung von § 241a Abs. 2 Fall 2 BGB nicht in Betracht. Die Entscheidung darüber, ob im Rahmen des nationalen Rechts ein Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung besteht, obliegt den nationalen Gerichten. Eine richtlinienkonforme Auslegung darf nicht dazu führen, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt wird. Richterliche Rechtsfortbildung berechtigt den Richter nicht dazu, seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Demgemäß kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Frage, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspricht. Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung darf nicht zu einer Auslegung des nationalen Rechts contra legem führen. Die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege findet ihre Grenzen an dem nach der innerstaatlichen Rechtstradition methodisch Erlaubten. Nach diesen Maßgaben kommt eine einschränkende Auslegung von § 241a Abs. 2 Fall 2 BGB nicht in Betracht. Der Gesetzgeber hat § 241a BGB mit Wirkung vom 30. Juni 2000 eingefügt, um Art. 9 zweiter Spiegelstrich der Richtlinie 97/7/EG aF umzusetzen, der den Mitgliedstaaten aufgibt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um "den Verbraucher von jedweder Gegenleistung für den Fall zu befreien, dass unbestellte Waren geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht wurden, wobei das Ausbleiben einer Reaktion nicht als Zustimmung gilt." Dabei ist er davon ausgegangen, dass die verbraucherschützende Gesamtintention der Richtlinie 97/7/EG aF eher eine weite Auslegung des Gegenleistungsbegriffs nahelege, und deshalb eine klarstellende Regelung im allgemeinen Schuldrecht geschaffen werden soll, die den Verbraucher im Falle bewusst unbestellt zugesendeter Waren oder der Erbringung unbestellter Dienstleistungen von sämtlichen Verbindlichkeiten, auch von solchen auf Nutzungsherausgabe, Schadensersatz und Rückgabe freistellt. Dagegen sollten dem Unternehmer mit § 241a Abs. 2 BGB ausnahmsweise seine gesetzlichen Ansprüche belassen werden, wenn vom Empfänger nicht bestellte Waren oder sonstige Leistungen irrtümlich bei diesem landen, dieser jedoch erkennen konnte, dass es sich nicht um bewusst unbestellte Leistungen, sondern lediglich um eine irrtümliche Leistung an ihn handelt. Voraussetzung dafür sollte sein, dass der Leistungserbringer tatsächlich von einer Bestellung ausgegangen ist und der Leistungsempfänger hätte erkennen können, dass die Leistung für einen anderen bestimmt war oder der Leistungserbringer irrtümlich von einer Bestellung durch den Empfänger ausgegangen ist. Denn in einem solchen Fall führten die allgemeinen Regeln zu einer angemessenen Rückabwicklung.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist dem Beklagten in entsprechender Anwendung von § 166 Abs. 1 BGB die Kenntnis seiner Ehefrau von der irrigen Vorstellung einer Bestellung auf Seiten der Klägerin zuzurechnen. Der Regelung des § 166 Abs. 1 BGB ist der allgemeine Rechtsgedanken zu entnehmen, dass sich - unabhängig von dem Vorliegen eines Vertretungsverhältnisses - derjenige, der einen anderen mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, das in diesem Rahmen erlangte Wissen des anderen zurechnen lassen muss. So liegt der Fall hier. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat sich bis zur Trennung des Beklagten von seiner damaligen Ehefrau allein letztere um die finanziellen Angelegenheiten der Familie und insbesondere um die Verwaltung des gemeinsamen Kontos gekümmert. Sie hatte deshalb bei der Vornahme und Abwicklung von Geldgeschäften eine tatsächlich ähnliche Stellung wie ein Vertreter. Der Beklagte ließ sich insoweit bewusst von seiner Ehefrau in ähnlicher Weise repräsentieren wie durch einen rechtsgeschäftlichen Stellvertreter. Allein weil der Beklagte sich um das Konto nicht kümmerte, konnte die Ehefrau bei der Klägerin den Irrtum hervorrufen, mit dem Beklagten einen Darlehensvertrag geschlossen zu haben, und die Klägerin ohne dessen Wissen dazu veranlassen, die vermeintliche Darlehensvaluta auf das gemeinsame Konto zu überweisen. Die Interessenlage entspricht daher so sehr der Interessenlage eines rechtsgeschäftlichen Vertretungsverhältnisses, dass es sachgerecht ist, das Wissen, das die Ehefrau in Ausübung des ihr übertragenen Wirkungskreises erworben hat, in entsprechender Anwendung des § 166 Abs. 1 BGB dem Beklagten zuzurechnen. Unerheblich ist, ob die damalige Ehefrau des Beklagten mit der Aufnahme des Darlehens unter seinem Namen ihre Befugnisse im Innenverhältnis vorsätzlich überschritten hat. Das schließt - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - eine Wissenszurechnung im Verhältnis zum Beklagten nicht aus, weil die Darlehensaufnahme unter dem Namen des Beklagten noch in innerem Zusammenhang mit dem ihr überlassenen Wirkungskreis stand.    

Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben. Da weitere Feststellungen weder erforderlich noch zu erwarten sind, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden und die Berufung des Beklagten zurückweisen. Der Klägerin steht der geltend gemachte Bereicherungsanspruch, der nicht durch § 241a BGB ausgeschlossen ist, zu und der Beklagte kann diesem Anspruch keinen Schadensersatzanspruch wegen unsorgfältiger Durchführung des Video-Identifizierungsverfahrens entgegenhalten. Die Voraussetzungen für einen Anspruch der Klägerin aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB liegen vor. Der Beklagte ist durch die Überweisung auf das gemeinsame Konto, mit der die Klägerin den vermeintlich mit dem Beklagten geschlossenen Darlehensvertrag erfüllen wollte, durch Leistung der Klägerin rechtsgrundlos bereichert worden, weil durch das Handeln der damaligen Ehefrau des Beklagten unter dessen Namen zwischen den Parteien kein Darlehensvertrag zustande gekommen ist. Denn das Handeln seiner Ehefrau unter seinem Namen ist ihm nicht zuzurechnen, weil nicht festgestellt ist, dass die Ehefrau bei Abschluss des Darlehensvertrags und Unterzeichnung der Auszahlungsanweisung unter dem Namen des Beklagten in Ausübung einer bestehenden Vertretungsmacht (§ 164 Abs. 1 Satz 1 BGB analog) gehandelt hätte, der Beklagte den Vertragsschluss genehmigt hätte (§ 177 Abs. 1 BGB analog) oder die Voraussetzungen für das Eingreifen der Grundsätze über die Anscheins- oder die Duldungsvollmacht vorlägen. Der Beklagte kann sich gemäß § 819 Abs. 1 BGB nicht auf den Wegfall der Bereicherung nach § 818 Abs. 3 BGB berufen, auch wenn die damalige Ehefrau des Beklagten den überwiesenen Betrag abgehoben hatte, bevor der Beklagte von dem Zahlungseingang erfuhr. Der Ehefrau des Beklagten war bekannt, dass der überwiesene Betrag von der Klägerin als Darlehen gewährt worden war und deshalb nicht dauerhaft behalten werden durfte, sondern zurückgezahlt werden musste. Diese Kenntnis, die für die Anwendung des § 819 Abs. 1 BGB ausreicht, muss sich der Beklagte - ebenso wie im Rahmen von § 241a BGB - in entsprechender Anwendung von § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen, weil er seiner Ehefrau die finanziellen Angelegenheiten der Familie und insbesondere die Verwaltung des gemeinsamen Kontos vollständig überlassen und sich nicht um die Kontobewegungen gekümmert hatte. Der Beklagte kann dem Bereicherungsanspruch der Klägerin keinen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 2 BGB wegen mangelhafter Sorgfalt bei der Identifizierung des (vermeintlichen) Darlehensnehmers im Rahmen der Durchführung des Video-Identifizierungsverfahrens sowie des Vergleichs der Unterschriften auf dem gezeigten Personalausweis und den Vertragsunterlagen entgegenhalten. Soweit der Beklagte aufgrund der Auszahlung der Valuta auf das gemeinsame Konto einem Bereicherungsanspruch der Klägerin ausgesetzt ist, ergibt sich aus §§ 814, 815 BGB, dass einem solchen Anspruch nur eine positive Kenntnis des Bereicherungsgläubigers entgegengehalten werden kann, während fahrlässige und auch grob fahrlässige Unkenntnis unerheblich sind. Diese Wertung kann nicht durch einen Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 2 BGB wegen unsorgfältiger Prüfung der Identität des Empfängers vor der Leistungserbringung überspielt werden.

Kontext der Entscheidung

Mit der Erbringung einer unbestellten Leistung kann der Unternehmer auch keine gesetzlichen Ansprüche gegen den Verbraucher erwerben. Dies betrifft nicht nur Ansprüche mit Gegenleistungscharakter wie auf Wertersatz oder Nutzungsentschädigung, sondern auch Ansprüche auf Herausgabe aus Eigentum (§ 985 BGB) oder Bereicherungsrecht (§ 812 Abs. 1 BGB). In diesem vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollten Anspruchsausschluss (vgl. RegE, BT-Drs. 14/2658, S. 46; Rechtsausschuss, BT-Drs. 14/3195, S. 32) äußert sich der Sanktionscharakter der Vorschrift (Toussaint in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 241a BGB (Stand: 01.02.2023), Rn. 14). Für die Beweislast gilt, dass nach den allgemeinen Regeln der Versender im Rahmen des § 241a Abs. 1 BGB das Vorliegen einer Bestellung zu beweisen hat. Im Hinblick auf § 241a Abs. 2 BGB hat der Versender zu beweisen, dass die Leistung irrig an den Empfänger gelangt (bzw. gerichtet) war und der Empfänger dies bei gehöriger Sorgfalt zumindest hätte erkennen können (Saenger in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 241a Rn. 42).

Auswirkungen für die Praxis

Zu Recht wird in der Kommentarliteratur festgestellt, dass die vom Gesetzgeber mit der Einführung des § 241a BGB bekämpfte Absatzmethode in der Praxis nicht zu existieren scheint (Toussaint in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 241a BGB (Stand: 01.02.2023), Rn. 18). Zwar gibt es – aufgrund der mit der Vorschrift aufgeworfenen zahlreichen dogmatischen Probleme – eine Fülle literarischer Äußerungen zu § 241a BGB (vgl. die ausführlichen Literaturhinweise bei: Saenger in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 241a Rn. 20 ff.). Die  über 20 Jahre nach Inkrafttreten der Vorschrift ergangene besprochene Entscheidung ist – soweit ersichtlich- die erste zum „Kernbereich“ des § 241a BGB.

13.12.2023
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BGH: Berufung muss Beschwer bekämpfen

Eine Berufung ist unzulässig, wenn sie nicht wenigstens teilweise den in erster Instanz erhobenen Klageanspruch weiterverfolgt, sondern lediglich im Wege der Klageänderung einen neuen, bislang nicht geltend gemachten Anspruch zur Entscheidung stellt.  

BGH, Beschluss vom 19. September 2023 – XI ZB 31/22

Problemstellung

Der XI. Zivilsenat hatte über die Zulässigkeit einer Berufung zu entscheiden, nachdem die Parteien sich über den erstinstanzlich geltend gemachten Anspruch vergleichsweise geeinigt hatten und die Klägerin in der Berufungsinstanz lediglich im Wege der Klageänderung einen neuen, bisher nicht geltend gemachten Anspruch geltend machte.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger verlangt von der beklagten Bank nach einem von ihm erklärten Widerruf die Rückabwicklung eines mit ihr geschlossenen Verbraucherdarlehensvertrags. Das Landgericht hat die Klage auf Feststellung, dass die primären Leistungspflichten des Klägers aus dem Darlehensvertrag zur Zahlung von Zinsen und zur Erbringung von Tilgungsleistungen aufgrund des Widerrufs erloschen seien, als unbegründet abgewiesen. Dagegen hat der Kläger fristgerecht Berufung eingelegt und diese begründet. Nachdem er das Darlehen vollständig abgelöst hatte, hat er den Feststellungsantrag in der Hauptsache für erledigt erklärt und (stattdessen) Zahlung der auf das Darlehen erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen sowie der Anzahlung auf den Fahrzeugkaufpreis in Höhe von insgesamt 35.330,91 € verlangt. Die Beklagte hat sich der Erledigungserklärung angeschlossen. Später hat der Kläger im Hinblick auf eine zwischenzeitliche Veräußerung des Fahrzeugs sein Zahlungsbegehren auf 8.338,91 € reduziert.

Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Berufung sei mit der übereinstimmenden Erledigungserklärung der Parteien bezüglich der negativen Feststellungsklage unzulässig geworden. Eine zulässige Berufung setze voraus, dass der Berufungsführer mit der Berufung die Beschwer bekämpfe, die sich für ihn aus dem angefochtenen Urteil, d.h. hier für ihn als Kläger aus der Abweisung der Klage ergebe. Ein Rechtsmittel sei daher unzulässig, wenn es den in der Vorinstanz erhobenen und abgewiesenen Klageanspruch nicht wenigstens teilweise weiterverfolge, sondern lediglich im Wege der Klageerweiterung einen neuen Anspruch zur Entscheidung stelle, über den in erster Instanz nicht entschieden worden sei. Eine bloße Erweiterung oder Änderung der Klage könne nicht das alleinige Ziel des Rechtsmittels sein. Die Beschwer müsse dabei nicht nur im Zeitpunkt der Rechtsmitteleinlegung vorliegen, sie dürfe auch nicht vor Schluss der mündlichen Verhandlung entfallen sein. Eine allein verbliebene Beschwer des Klägers im Kostenpunkt genüge nach § 99 Abs. 1 ZPO nicht.  

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Berufung zu Recht als unzulässig verworfen. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels der Berufung setzt voraus, dass der Angriff des Rechtsmittelführers (auch) auf die Beseitigung der im vorinstanzlichen Urteil enthaltenen Beschwer gerichtet ist. Das Rechtsmittel ist mithin unzulässig, wenn mit ihm lediglich im Wege der Klageänderung ein neuer, bislang nicht geltend gemachter Anspruch zur Entscheidung gestellt wird; vielmehr muss zumindest auch der in erster Instanz erhobene Klageanspruch wenigstens teilweise weiterverfolgt werden. Die Erweiterung oder Änderung der Klage kann nicht alleiniges Ziel des Rechtsmittels sein, sondern nur auf der Grundlage eines zulässigen Rechtsmittels verwirklicht werden. Deshalb muss nach einer Klageabweisung das vorinstanzliche Begehren zumindest teilweise weiterverfolgt werden. Eine Berufung, welche die Richtigkeit der vorinstanzlichen Klageabweisung nicht in Frage stellt und ausschließlich einen neuen - bisher noch nicht geltend gemachten - Anspruch zum Gegenstand hat, ist unzulässig. Nach diesen Maßstäben ist die Berufung des Klägers unzulässig, weil er sein erstinstanzliches Begehren nicht weiterbetrieben, sondern im Wege der Klageänderung einen neuen, bislang nicht erhobenen Anspruch zur Prüfung unterbreitet hat. Die auf die positive Feststellung eines bestimmten Saldos aus einem Rückgewährschuldverhältnis gerichtete und die auf die Feststellung des Wegfalls von Primärpflichten des Darlehensnehmers aus dem Darlehensvertrag zielende Klage betreffen unterschiedliche Streitgegenstände. Aufgrund dessen handelt es sich beim Übergang von dem einen zu dem anderen Antrag um eine Klageänderung iSd. § 263 ZPO und nicht bloß um eine Antragsbeschränkung oder -erweiterung iSd. § 264 Nr. 2 ZPO oder als ein dem Vorgehen nach § 264 Nr. 3 ZPO vergleichbares Verfahren. Dies gilt gleichermaßen in Bezug auf den vom Kläger in erster Instanz verfolgten negativen Feststellungsantrag und dem in zweiter Instanz geltend gemachten Anspruch auf Rückgewähr der erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen. Denn der Zahlungsantrag stellt in Form der Leistungsklage die Fortsetzung der positiven Feststellungsklage dar und wäre im Fall des Übergangs als Klageerweiterung nach § 264 Nr. 2 ZPO anzusehen. Gegenüber der negativen Feststellungsklage betrifft die Zahlungsklage dagegen einen anderen Streitgegenstand. Nichts Anderes folgt daraus, dass die Wirksamkeit des Widerrufs des Klägers für beide Ansprüche Tatbestandsvoraussetzung ist. Hierbei handelt es sich bloß um ein Begründungselement, das indes die Rechtsnatur der geltend gemachten Ansprüche als unterschiedliche Streitgegenstände unberührt lässt. Gründe der Prozessökonomie, die dafür sprechen könnten, ein ausschließlich auf Klageänderung gerichtetes Rechtsmittel im Interesse einer sachdienlichen Erledigung des Prozessstoffs zuzulassen, haben kein solches Gewicht, als dass sie es rechtfertigen könnten, von dem für alle Rechtsmittel geltenden grundlegenden Erfordernis abzugehen, dass der Angriff des Rechtsmittelführers auf die Beseitigung der im vorinstanzlichen Urteil enthaltenen Beschwer gerichtet sein muss.

Kontext der Entscheidung

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine zulässige Klageerweiterung in der Berufungsinstanz eine zulässige Berufung voraus. Eine solche liegt nur dann vor, wenn der Berufungskläger noch bei Schluss der mündlichen Verhandlung die aus dem erstinstanzlichen Urteil folgende Beschwer beseitigen will. Eine Berufung des Klägers ist danach unzulässig, wenn sie den in erster Instanz erhobenen Klageanspruch nicht wenigstens teilweise weiterverfolgt, sondern lediglich im Wege der Klageerweiterung einen neuen, bislang nicht geltend gemachten Anspruch zur Entscheidung stellt. Die bloße Erweiterung oder Änderung der Klage in zweiter Instanz kann nicht alleiniges Ziel des Rechtsmittels sein (BGH, Urteil vom 30. November 2005 – XII ZR 112/03 –, Rn. 15, mwN.). Eine zunächst zulässige Berufung wird daher unzulässig, wenn der Berufungskläger nach Wegfall der Beschwer aus dem erstinstanzlichen Urteil durch Abschluss eines Vergleichs mit der Berufung nur noch eine Erweiterung der Klage in zweiter Instanz verfolgt. Auf die Zulässigkeit der Klageerweiterung als solcher kommt es dann nicht mehr an.

Auswirkungen für die Praxis

Die Berufungsbegründung muss die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben. Dazu gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche tatsächlichen oder rechtlichen Gründe er ihnen im Einzelnen entgegensetzt. Besondere formale Anforderungen bestehen nicht; für die Zulässigkeit der Berufung ist es insbesondere ohne Bedeutung, ob die Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind. Jedoch muss die Berufungsbegründung auf den konkreten Streitfall zugeschnitten sein. Es reicht nicht aus, die Auffassung des Erstgerichts mit formularmäßigen Sätzen oder allgemeinen Redewendungen zu rügen oder lediglich auf das Vorbringen erster Instanz zu verweisen (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2012 – XI ZB 25/11 –, Rn. 10, mwN.). Hat das Erstgericht die Abweisung der Klage auf mehrere voneinander unabhängige, selbstständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, muss die Berufungsbegründung in dieser Weise jede tragende Erwägung angreifen. Andernfalls ist das Rechtsmittel unzulässig (BGH, Beschluss vom 12. Mai 2009 – XI ZB 21/08 –, Rn. 13, mwN.). Die Zulässigkeit der Berufung kann offenbleiben, wenn das Revisionsgericht formell rechtskräftig abschließend auf ihre Unbegründetheit erkennen kann, ohne dass schutzwürdige Interessen der Parteien entgegenstehen (BGH, Urteil vom 7. November 2022 – VIa ZR 737/21).

13.12.2023
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BGH: Keine Wiedereinsetzung bei falscher beA-Adresse

Ist einem Rechtsanwalt schon zuvor aufgefallen, dass eine Mitarbeiterin trotz richtiger anderslautender Angabe des Empfängergerichts im Briefkopf des Berufungsbegründungsschriftsatzes fehlerhaft ein anderes Oberlandesgericht als Empfänger im beA-Verzeichnis ausgewählt hatte, kann er nicht mehr davon ausgehen, er betraue eine sonst zuverlässige Mitarbeiterin damit, nunmehr "in einem zweiten Anlauf" eigenverantwortlich den richtigen beA-Empfänger auszuwählen. Er muss daher die Korrektur und die richtige Versendung persönlich überprüfen.

BGH, Beschluss vom 31. August 2023 – III ZB 72/22

Problemstellung

Wann sich ein Rechtsanwalt für die Versendung einer Berufungsbegründung nach Entdeckung einer falschen beA-Adresse mit einer Einzelanweisung an eine Mitarbeiterin begnügen kann und wann er deren Ausführung persönlich überprüfen muss, hatte der III. Zivilsenat zu entscheiden.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin hat gegen ein ihr am 22. März 2022 zugestelltes Urteil des Landgerichts Hamburg am 20. April 2022 Berufung beim Hanseatischen Oberlandesgericht eingelegt, das die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß bis zum 23. Juni 2022 verlängerte. Die auf diesen Tag datierte Berufungsbegründung der Klägerin ging erst am 27. Juni 2022 zusammen mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ein. Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs hat die Klägerin vorgetragen, der von ihr bevollmächtigte Rechtsanwalt W. habe die seit Januar 2017 in seiner Kanzlei tätige, stets sorgfältig, zuverlässig und beanstandungsfrei arbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte D. mit der Einreichung des an das "Hanseatische Oberlandesgericht, Sievekingplatz 2, 20355 Hamburg" adressierten Berufungsbegründungsschriftsatzes beauftragt. Da aber im Gesamtverzeichnis der beA-Postfächer dieses nicht als "Hanseatisches Oberlandesgericht", sondern als "Oberlandesgericht Hamburg", und mit dem Zusatz "Hanseatisches" nur das "Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen" aufgeführt sei, habe Frau D. irrtümlich letzteres als Empfänger der Berufungsbegründung ausgewählt. Nachdem Rechtsanwalt W. dies bei der Vornahme der qualifizierten elektronischen Signatur an ihrem Computer aufgefallen sei, habe er sie angewiesen, "noch einmal den Adressaten der Nachricht zu prüfen und zu korrigieren". Da Frau D. im beA-Verzeichnis aber wiederum nur das "Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen" gefunden und deshalb angenommen habe, dass Bremen und Hamburg ein gemeinsames Oberlandesgericht mit Sitz in Bremen unterhalten würden, habe sie die Berufungsbegründung schließlich (doch) an diesen Empfänger versandt. Die Klägerin meint, Rechtsanwalt W. habe auch ohne Kontrolle darauf vertrauen dürfen, dass Frau D. die ihr erteilte konkrete Einzelweisung befolgen beziehungsweise sich bei auftretenden Zweifeln zur Rücksprache an ihn wenden würde. In seiner zur Glaubhaftmachung von der Klägerin vorgelegten eidesstattlichen Versicherung hat Rechtsanwalt W. angegeben: "Ich wies Frau D. darauf hin, dass das Berufungsgericht in Hamburg zuständig wäre und sie dies bitte ändern möge. Hierauf antwortete sie, dass sie dies tun werde", während Frau D. zu diesem Punkt an Eides statt versichert hat: "Herr W. sichtete die von mir erstellte beA-Nachricht und fragte, warum das Gericht in Bremen säße, eigentlich zuständig wäre das Berufungsgericht in Hamburg. Hierauf antwortete ich, dass ich das nochmal prüfen und ggf. korrigieren würde".

Das Berufungsgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen. Die Klägerin habe nicht dargelegt und glaubhaft gemacht habe, dass die Fristversäumung nicht auf einem ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruhe. Vielmehr sei nach ihrem eigenen Vorbringen davon auszugehen, dass dieser durch unzureichende Überwachung der Versendung der Berufungsbegründung an das richtige Oberlandesgericht die Versäumung der Frist verschuldet habe. Auf das Vertrauen, dass eine zuverlässige Büroangestellte eine konkrete Einzelweisung befolge, könne sich Rechtsanwalt W. nicht berufen. Denn Frau D. habe sich schon dadurch, dass sie trotz richtiger Adressatenbezeichnung im Berufungsbegründungsschriftsatz das falsche Gericht aus der beA-Empfängerliste ausgewählt habe, nicht als hinreichend kompetent und zuverlässig erwiesen, um sie später eigenverantwortlich diesen Fehler korrigieren zu lassen. Vielmehr hätte Rechtsanwalt W. diese Korrektur und die richtige Versendung persönlich überprüfen müssen.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin macht ohne Erfolg geltend, dass das Berufungsgericht die Anforderungen an die anwaltlichen Sorgfaltspflichten überspannt, der Klägerin dadurch den Zugang zur Berufungsinstanz in unzumutbarer Weise erschwert und ihr eine in der Sphäre der Gerichte liegende Ursache für die Fristversäumung angelastet habe. Vielmehr hat es zu Recht angenommen, dass die Klägerin ein fehlendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Fristversäumung nicht dargelegt und glaubhaft gemacht hat. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist nicht schon deshalb zu gewähren, weil das zuständige Oberlandesgericht in Hamburg am Tag des Fristablaufs als Empfängergericht im beA nicht unter seiner amtlichen Bezeichnung "Hanseatisches Oberlandesgericht" (ohne Ortsangabe), sondern nur als "Oberlandesgericht Hamburg" aufgefunden und ausgewählt werden konnte. Zwar könnte eine für eine Fristversäumung ursächliche fehlerhafte oder irreführende Eintragung im Gesamtverzeichnis der beA-Postfächer eine Wiedereinsetzung begründen. Denn die besonderen Risiken, die auf den technischen Gegebenheiten eines vom Gericht eingesetzten oder zugelassenen Kommunikationsmittels beruhen, sind der Sphäre der Justiz zuzurechnen und dürfen nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Dies gilt vor allem, wenn die Verwirklichung dieser Risiken die entscheidende Ursache für die Fristversäumung gewesen ist. Jedoch ergibt sich aus dem Wiedereinsetzungsvorbringen der Klägerin nicht, dass die Fristversäumung durch die möglicherweise irreführende Benennung des Berufungsgerichts im Empfängerverzeichnis des beA entscheidend verursacht wurde. Denn danach hat nicht diese Gerichtsbezeichnung, sondern vielmehr das (Fehl-)Verhalten der Mitarbeiterin des Prozessbevollmächtigten der Klägerin den maßgeblichen Kausalbeitrag für die Übermittlung des als solchen richtig adressierten Berufungsbegründungsschriftsatzes an das unzuständige Oberlandesgericht in Bremen am Tag des Fristablaufs geleistet. Nach dem Inhalt der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen hatte Rechtsanwalt W. Frau D. nämlich auf das von ihr aus dem beA-Verzeichnis als Empfänger zunächst ausgewählte Oberlandesgericht in Bremen angesprochen und sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eigentlich das "Berufungsgericht in Hamburg" zuständig sei. Trotz dieses Hinweises und ungeachtet der Diskrepanz zu der im Schriftsatz enthaltenen Adressierung wiederholte Frau D. nachfolgend ihren Fehler, indem sie aus dem beA-Verzeichnis erneut das unzuständige "Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen" auswählte und die Berufungsbegründung dorthin übermittelte. Stattdessen hätte sie, da sie nach eigenen Angaben auch bei der nochmaligen Suche im Gesamtverzeichnis der beA-Postfächer kein anderes Hanseatisches Oberlandesgericht als das in Bremen gefunden hatte, die in der eidesstattlichen Versicherung von Rechtsanwalt W. behauptete allgemeine Arbeitsanweisung befolgen müssen, sich bei Unklarheiten bei der Ermittlung des richtigen beA-Empfänger-Postfachs an den sachbearbeitenden Rechtsanwalt zu wenden. Insbesondere hätte sie ohne vorherige Rückfrage nicht einfach davon ausgehen dürfen, dass Hamburg und Bremen ein gemeinsames Oberlandesgericht mit Sitz in Bremen unterhalten würden.    

Den Prozessbevollmächtigten der Klägerin trifft daran, dass der Berufungsbegründungsschriftsatz trotz seines Hinweises nicht rechtzeitig vor Fristablauf an das zuständige Berufungsgericht in Hamburg übermittelt wurde, ein eigenes, seiner Partei zurechenbares Überwachungsverschulden. Zwar ist ein der Partei zuzurechnendes Verschulden ihres Rechtsanwalts an der Fristversäumung nicht gegeben, wenn dieser einer Kanzleiangestellten, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte. Denn ein Rechtsanwalt darf darauf vertrauen, dass eine zuverlässige Büroangestellte eine konkrete Einzelweisung befolgt, und ist unter diesen Umständen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung seiner Weisung zu vergewissern. Dies kann insbesondere dann anzunehmen sein, wenn es sich um einfache Verrichtungen wie etwa die Versendung von Schriftsätzen handelt, die der Rechtsanwalt ohnehin zur selbständigen Erledigung auf sein geschultes und zuverlässiges Personal übertragen kann. Allerdings hat die Klägerin nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter seine Mitarbeiterin konkret und bestimmt angewiesen hätte, den Berufungsbegründungsschriftsatz nur an dasjenige Oberlandesgericht, das in Hamburg unter der im Schriftsatz angegebenen Adresse ansässig ist, zu versenden. Eine solche Anweisung, die keinen Interpretations- und Entscheidungsspielraum eröffnet hätte und (deshalb) selbst in Ansehung des vorhergehenden Fehlers der Angestellten bei der Auswahl des beA-Empfängerpostfachs möglicherweise nicht mehr kontrollbedürftig gewesen wäre, lässt sich weder dem Wiedereinsetzungsantrag selbst noch der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung von Frau D. entnehmen. Vielmehr ergibt sich daraus, anders als aus der eigenen eidesstattlichen Versicherung von Rechtsanwalt W., lediglich ein Auftrag an Frau D. , das von ihr aus dem Gesamtverzeichnis der beA-Postfächer ausgewählte (falsche) Empfängergericht nochmals zu "prüfen" und - jedenfalls nach ihrem Verständnis - (nur) "gegebenenfalls" zu korrigieren, also in eigener Verantwortung über eine Berichtigung zu entscheiden. Auf die Richtigkeit dieses Prüfungsergebnisses hätte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin aber nicht ohne eigene Kontrolle vertrauen dürfen. Nachdem ihm schon zuvor aufgefallen war, dass Frau D. trotz richtiger anderslautender Angabe des Empfängergerichts im Briefkopf des Berufungsbegründungsschriftsatzes fehlerhaft das Oberlandesgericht in Bremen als Empfänger im beA-Verzeichnis ausgewählt hatte, konnte er nicht mehr davon ausgehen, er betraue eine sonst zuverlässige Mitarbeiterin damit, nunmehr "in einem zweiten Anlauf" eigenverantwortlich den richtigen beA-Empfänger auszuwählen. Dies gilt umso mehr, als Rechtsanwalt W. nach dem Inhalt der eidesstattlichen Versicherung von Frau D. nicht ohne Weiteres annehmen durfte, dass sie das "Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen" nur versehentlich, etwa infolge eines "Verrutschens" des Cursors in der Auswahlmaske, und nicht absichtlich angeklickt hätte. Denn ihre Äußerung, sie werde die von ihr getroffene Auswahl "nochmal prüfen und gegebenenfalls korrigieren", lässt erkennen, dass sie es weiterhin für möglich hielt, dass das Oberlandesgericht in Bremen der richtige Empfänger sei.

Kontext der Entscheidung

Entschieden ist bereits, dass wegen der Partei zuzurechnenden Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten Wiedereinsetzung (gegen den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist) nicht gewährt werden kann, wenn der Rechtsanwalt, nachdem er entdeckt hat, dass die Berufungsbegründung an das Ausgangsgericht gesendet worden ist, seinem Personal nur eine mündliche Einzelanweisung zur Versandwiederholung erteilt und die Ausführung nicht kontrolliert hat (BGH, Beschluss vom 14. Februar 2022 – VIa ZB 6/21). Nachdem der Prozessbevollmächtigte bemerkt hatte, dass die Berufungsbegründung versehentlich an das Landgericht versandt worden war, konnte er nicht mehr davon ausgehen, er erteile die Anweisung, den Schriftsatz erneut - nunmehr an das Oberlandesgericht - zu übersenden, einer sonst zuverlässigen Angestellten. Der Prozessbevollmächtigte hätte daher nicht auf Sicherheitsvorkehrungen verzichten dürfen. Vielmehr war er gehalten, über die mündlich erteilte Weisung hinaus durch weitere Maßnahmen sicherzustellen, dass der Schriftsatz korrekt versandt wird, etwa indem er sich die Eingangsbestätigung (§ 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO) der erneuten Versendung hätte vorlegen lassen. Nichts anderes gilt, soweit sich der Kläger auf eine spätere Nachfrage des Prozessbevollmächtigten bei der Angestellten beruft, ob der Versand an das Oberlandesgericht nunmehr erfolgt sei, worauf diese geantwortet habe, sie werde den korrekten Versand nun erledigen. Nach dem Gesagten hätte sich der Prozessbevollmächtigte nicht mit einer solchen Antwort der Angestellten begnügen dürfen. (BGH, Beschluss vom 14. Februar 2022 – VIa ZB 6/21 –, Rn. 8 - 9).

Auswirkungen für die Praxis

Ein Rechtsanwalt muss bei nur mündlich erteilten Anweisungen ausreichende Vorkehrungen dagegen treffen, dass die Erledigung in Vergessenheit gerät. Dafür genügt im Regelfall die klare und präzise Anweisung, die Erledigung sofort vorzunehmen, insbesondere wenn zudem eine weitere allgemeine Büroanweisung besteht, einen solchen Auftrag stets vor allen anderen auszuführen. Die Gefahr, dass eine solche sofort auszuführende Weisung sogleich vergessen oder aus sonstigen Gründen nicht befolgt wird, macht eine nachträgliche Kontrolle ihrer Ausführung dann nicht erforderlich. Der Rechtsanwalt muss aber, wenn er nicht die sofortige Ausführung seiner Anweisung anordnet, durch allgemeine Weisung oder besonderen Auftrag Vorkehrungen gegen das Vergessen treffen (BGH, Beschl. v. 21.05.2019 - II ZB 4/18 Rn. 13). Eine konkrete Einzelanweisung des Rechtsanwalts an sein Büropersonal, einen fristwahrenden Schriftsatz per Telefax zu übersenden, macht die weitere Ausgangskontrolle, auch die zusätzliche allabendliche Kontrolle fristgebundener Sachen, nicht entbehrlich. Die allabendliche Ausgangskontrolle fristgebundener Anwaltsschriftsätze mittels Abgleichs mit dem Fristenkalender dient nicht allein dazu, zu überprüfen, ob sich aus den Eintragungen noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben. Sie soll vielmehr auch gewährleisten, festzustellen, ob möglicherweise in einer bereits als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung noch aussteht. Zu diesem Zweck sind Fristenkalender so zu führen, dass auch eine gestrichene Frist noch erkennbar und bei der Endkontrolle überprüfbar ist. Das ist auch bei einer elektronischen Kalenderführung erforderlich, denn sie darf keine hinter der manuellen Führung zurückbleibende Überprüfungssicherheit bieten (BGH, Beschluss vom 4. November 2014 – VIII ZB 38/14 –, Rn. 10).

13.12.2023
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BGH: Zur Bezeichnung eines per beA übermittelten bestimmenden Schriftsatzes

Nach § 26 Abs. 1 RAVPV (Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer) darf der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs ein für ihn erzeugtes Zertifikat keiner weiteren Person überlassen und hat die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN geheim zu halten. Handelt der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dem zuwider und überlässt er das nur für seinen Zugang erzeugte Zertifikat und die zugehörige Zertifikats-PIN einem Dritten, muss er sich so behandeln lassen, als habe er die übermittelte Erklärung selbst abgegeben.

BGH, Beschluss vom 31. August 2023 - VIa ZB 24/22

Problemstellung

Nach § 26 Abs. 1 RAVPV darf der Inhaber eines für ihn erzeugten Zertifikats dieses keiner weiteren Person überlassen; die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN muss er geheim halten. Der VIa-Zivilsenat hatte darüber zu entscheiden, welche Rechtsfolgen es hat, wenn der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs ein für ihn erzeugtes Zertifikat und die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN einer Mitarbeiterin überlässt.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger, der von der Beklagten Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Fahrzeugs mit Dieselmotor begehrt, hat gegen das klageabweisende Urteil des Landgerichts fristgemäß Berufung eingelegt. Innerhalb der bis zum 8. September 2022 verlängerten Frist zur Begründung der Berufung ist ausweislich des bei der Akte befindlichen Transfervermerks bei dem Berufungsgericht unter dem Dateinamen "Berufungsschriftsatz.pdf" aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) des Prozessbevollmächtigten des Klägers und unter dessen Nutzer-ID ein auf den 17. November 2021 datierter, an ein anderes Oberlandesgericht adressierter und eingangs andere Parteien anführender Schriftsatz eingegangen. Nach einem Hinweis des Berufungsgerichts sind dort am 12. September 2022 die Berufungsbegründung und ein Wiedereinsetzungsantrag eingegangen. Der Kläger trägt vor, die Berufungsbegründungsfrist sei unverschuldet versäumt worden. In der Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten werde eine Frist erst nach wirksamer Postausgangskontrolle und erst dann gestrichen, wenn der fristerledigende Schriftsatz vollständig nebst Anlagen geprüft, "signiert" und der Sendebericht kontrolliert worden sei. Ferner sehe die Büroorganisation vor, dass eine Kanzleikraft zum Nachmittag/Abend eines jeden Tages eine abschließende Fristenkontrolle aller zum jeweiligen Tag ablaufenden Fristen unter Nutzung der Übersicht des Anwaltsprogramms durchführe, um die ordnungsgemäße Erstellung und den Versand von fristwahrenden Schriftsätzen zu überprüfen. Im konkreten Fall habe die Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte versucht, die Berufungsbegründung über das Anwaltsprogramm zu versenden. Da dies nicht funktioniert habe, habe sie, nachdem sie zuvor nochmals kontrolliert habe, dass es sich um den richtigen Schriftsatz handle, um 16:28 Uhr den Versand per beA vorgenommen. Das Prüfprotokoll habe die Übersendung per beA als "erfolgreich" ausgewiesen. Der Prozessbevollmächtigte habe die Versendung des Schriftsatzes noch am gleichen Tag überprüft. Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dem Wiedereinsetzungsgesuch lasse sich nicht entnehmen, dass in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten eine hinreichende Ausgangskontrolle gewährleistet gewesen sei. Auch bei der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im elektronischen Rechtsverkehr mittels beA sei es unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen. Dabei sei eine Prüfung erforderlich, ob die richtige Datei versandt worden sei. Der Rechtsanwalt müsse durch eine Organisationsanweisung oder durch konkrete Einzelanweisung sicherstellen, dass jeder fristgebundene Schriftsatz mit einem individuellen Dateinamen versehen werde, der später anhand von Prüfprotokoll und Eingangsbestätigung die Kontrolle auf Fehlversendungen ermögliche. Dass in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers eine solche Kontrolle angeordnet worden wäre, lasse sich dem Wiedereinsetzungsgesuch nicht entnehmen.  

Die Rechtsbeschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat dem Kläger zu Recht die Wiedereinsetzung versagt und seine Berufung als unzulässig verworfen. Die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung beruht auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, das dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers muss sich so behandeln lassen, als habe er selbst um 16:28 Uhr den nicht zum Verfahren gehörenden Schriftsatz anstelle der Berufungsbegründung an das Berufungsgericht versandt, dessen Übermittlung die Frist zur Berufungsbegründung nicht wahren konnte. Nach § 26 Abs. 1 RAVPV (Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung) darf der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs ein für ihn erzeugtes Zertifikat keiner weiteren Person überlassen und hat die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN geheim zu halten. Möglich ist nach § 23 Abs. 2 und 3 RAVPV zwar, unter den dort genannten Voraussetzungen anderen Personen Zugang zu dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach zu gewähren und von einem Rechtsanwalt qualifiziert signierte elektronische Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg zu übersenden. Voraussetzung ist aber, dass für die anderen Personen ein Zugangskonto angelegt ist und der Zugang der anderen Personen über ihr Zugangskonto unter Verwendung eines ihnen zugeordneten Zertifikats und einer zugehörigen Zertifikats-PIN erfolgt. Handelt der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dem zuwider und überlässt er das nur für seinen Zugang erzeugte Zertifikat und die zugehörige Zertifikats-PIN einem Dritten, muss er sich so behandeln lassen, als habe er die übermittelte Erklärung selbst abgegeben. Entsprechend muss sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Rahmen der Prüfung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen nach § 233 ZPO die Übersendung des verfahrensfremden Schriftsatzes am Spätnachmittag des letzten Tages der Berufungsbegründungsfrist so zurechnen lassen, als habe er den verfahrensfremden Schriftsatz anstelle der Berufungsbegründung selbst auf den Weg gebracht. Zu diesem Zeitpunkt konnte er auch nicht mehr erwarten, dass die Übersendung eines mit dem Berufungsverfahren nicht in Zusammenhang stehenden Schriftsatzes innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs noch so rechtzeitig bei dem Berufungsgericht bemerkt werden würde, dass die Nachreichung der Berufungsbegründung noch am 8. September 2022 hätte gewährleistet werden können.

Aber auch dann, wenn sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Übersendung des verfahrensfremden Schriftsatzes anstelle der Berufungsgründung nicht als selbst veranlasst zurechnen lassen müsste, wäre die Fristversäumung mit der Folge der Anwendung des § 85 Abs. 2 ZPO durch ihn verschuldet. Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs mittels beA entsprechen denjenigen bei der Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Auch bei der Nutzung des beA ist es unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen. Die Kontrollpflichten umfassen dabei die Überprüfung der nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO übermittelten automatisierten Eingangsbestätigung des Gerichts. Sie erstrecken sich unter anderem darauf, ob die Übermittlung vollständig und an den richtigen Empfänger erfolgt ist. Dabei ist für das Vorliegen einer Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO auch erforderlich, dass gerade der Eingang des elektronischen Dokuments im Sinne von § 130a Abs. 1 ZPO, das übermittelt werden sollte, bestätigt wird. Die Bestätigung der Versendung irgendeiner Nachricht oder irgendeines Schriftsatzes genügt nicht. Vielmehr ist anhand des zuvor sinnvoll vergebenen Dateinamens auch zu prüfen, ob sich die automatisierte Eingangsbestätigung auf die Datei mit dem Schriftsatz bezieht, dessen Übermittlung erfolgen sollte. Dies rechtfertigt sich daraus, dass bei einem Versand über beA - anders als bei einem solchen über Telefax - eine Identifizierung des zu übersendenden Dokuments nicht mittels einfacher Sichtkontrolle möglich ist und deshalb eine Verwechslung mit anderen Dokumenten, deren Übersendung nicht beabsichtigt ist, nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann. Diese Sorgfaltspflichten hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht erfüllt. Die angeführte Kontrolle des zu übersendenden Dokuments durch eine Kanzleikraft im Vorfeld des elektronischen Versands führt nicht zu einer Herabsetzung der Sorgfaltsanforderungen an die Überprüfung der Eingangsbestätigung. Dem Vortrag des Klägers lässt sich nicht entnehmen, dass in der Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten eine ordnungsgemäße Überprüfung der automatisierten Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO dahingehend, ob die richtige Datei übermittelt wurde, sichergestellt war. Das hätte einen in der Kanzlei zuvor vergebenen sinnvollen Dateinamen vorausgesetzt, der in der Eingangsbestätigung erscheint und ohne Weiteres die Prüfung erlaubt, ob der richtige Schriftsatz übersandt wurde. Zu einer dahingehenden Organisationsanweisung ist nichts vorgetragen. Der hier verwendete Dateiname "Berufungsschriftsatz.pdf" war nicht geeignet, eine Verwechslung auszuschließen, da er weder die Zuordnung zu einem bestimmten Verfahren noch eine hinreichende Unterscheidung von anderen Dokumenten im selben Verfahren ermöglicht. Eine Kontrolle durch den Prozessbevollmächtigten am Nachmittag/Abend des Tages des Fristablaufs war nicht geeignet, den Organisationsmangel auszugleichen. Wegen des unklaren Dateinamens war bei der Überprüfung anhand der Eingangsbestätigung nicht erkennbar, dass der falsche Schriftsatz übersandt worden war. Der Organisationsmangel kann als Ursache für die Fristversäumnis nicht ausgeschlossen werden. Hätte in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers eine Anordnung zur sinnvollen, eine Verwechslung mit anderen Dokumenten ausschließenden Benennung der mittels beA versandten Dateien bestanden, wäre die Übermittlung des falschen Schriftsatzes an das Berufungsgericht rechtzeitig erkannt worden und hätte die richtige Datei noch am gleichen Tag fristwahrend an das Berufungsgericht übersandt werden können.

Kontext der Entscheidung

Die anwaltliche Sorgfalt bei der Übermittlung fristwahrender Schriftsätze mittels beA erfordert eine Prüfung anhand des zuvor vergebenen Dateinamens, ob sich die automatisierte elektronische Eingangsbestätigung des Gerichts auch auf die Datei mit dem Schriftsatz bezieht, dessen Übermittlung erfolgen sollte. Dies rechtfertigt sich daraus, dass bei einem Versand über beA - anders als bei einem solchen über Telefax, bei dem das Original des Schriftsatzes zur Übermittlung in das Telefax-Gerät eingelegt wird - eine Identifizierung des zu übersendenden Dokuments nicht mittels einfacher Sichtkontrolle möglich ist und deshalb eine Verwechslung mit anderen Dokumenten, deren Übersendung nicht beabsichtigt ist, nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann. Dem Rechtsanwalt werden damit auch keine unzumutbaren Überprüfungspflichten auferlegt. Denn die Kontrolle ist über die Nachrichtenansicht der beA-Webanwendung, anhand des Übermittlungsprotokolls mittels der dort verfügbaren Informationen unter der Überschrift "Anhänge" sowie anhand des Abschnitts "Zusammenfassung und Struktur" des Prüfprotokolls möglich (BGH, Beschluss vom 21. März 2023 – VIII ZB 80/22 –, Rn. 26 - 27, mwN.). Die Kontrolle des Signaturvorgangs (§ 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO) allein reicht für eine ob re

ordnungsgemäße Ausgangskontrolle nicht aus (BGH, Beschl. v. 24.05.2022 - XI ZB 18/21). Für die Ausgangskontrolle des elektronischen Postfachs bei fristgebundenen Schriftsätzen genügt nicht die Feststellung, dass die Versendung irgendeines Schriftsatzes mit dem passenden Aktenzeichen an das Gericht erfolgt ist, sondern anhand des zuvor sinnvoll vergebenen Dateinamens ist auch zu prüfen, welcher Art der Schriftsatz war (BGH, Beschl. v. 17.03.2020 - VI ZB 99/19 Rn. 16).

Auswirkungen für die Praxis

Nach § 26 Abs. 1 RAVPV (Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer) darf das Zertifikat (Chipkarte) keiner anderen Person überlassen werden, die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN muss geheim gehalten werden. Soll ein Mitarbeiter die Versendung übernehmen, muss daher das Dokument qualifiziert elektronisch signiert werden. Erfolgt der Zugang zum Anwaltspostfach verbotswidrig durch eine andere Person, z.B. durch ermächtigten Kanzleimitarbeiter sind die damit vorliegenden Erklärungen eines Unbefugten zwar formgerecht. Über die Folgen einer verbotswidrigen Nutzung hat höchstrichterlich – soweit ersichtlich – erstmalig das BSG entschieden (BSG, Urteil vom 14. Juli 2022 – B 3 KR 2/21 R). Danach muss sich ein Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs, setzt er sich über die Verpflichtung zur ausschließlich eigenen - höchstpersönlichen - Nutzung durch Überlassung des nur für seinen Zugang erzeugten Zertifikats und der dazugehörigen Zertifikats-PIN an Dritte oder auf andere Weise bewusst hinweg, das von einem Dritten abgegebene elektronische Empfangsbekenntnis auch dann wie ein eigenes zurechnen lassen, wenn die Abgabe ohne seine Kenntnis erfolgt ist. Bis zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs waren die beteiligten Rechtsanwälte wie der Rechtsverkehr geschützt durch das Schriftformerfordernis und die daraus abgeleiteten Anforderungen an die höchstpersönliche und eigenhändige Unterschriftsleistung. Im elektronischen Rechtsverkehr ist dies abgelöst durch die Sicherungen entweder der qualifizierten elektronischen Signatur oder der vom Gesetzgeber im Interesse einer gesteigerten Akzeptanz der elektronischen Kommunikation begründeten Möglichkeit der Übermittlung von Dokumenten aus besonderen elektronischen Anwaltspostfächern. Im Interesse des Rechtsverkehrs an der strikten Verlässlichkeit der mit einem elektronischen Empfangsbekenntnis abgegebenen Erklärung kann sich ein Postfachinhaber deshalb nicht auf die Unbeachtlichkeit von Erklärungen berufen, die er unter Verstoß gegen die Sicherheitsanforderungen des elektronischen Rechtsverkehrs selbst ermöglicht hat. Verhält es sich so, hat er sich eine von Dritten abgegebene Erklärung vielmehr so zurechnen lassen, als habe er sie selbst abgegeben und im Vorhinein - durch die nicht vorgesehene Eröffnung der Nutzungsmöglichkeit für den Dritten – autorisiert (BSG, Urteil vom 14. Juli 2022 – B 3 KR 2/21 R –, Rn. 15). Dem schließt sich nunmehr der BGH für den Zivilprozess an, indem er feststellt: „Handelt der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dem (i.e.: § 26 Abs. 1 RAVPV) zuwider und überlässt er das nur für seinen Zugang erzeugte Zertifikat und die zugehörige Zertifikats-PIN einem Dritten, muss er sich so behandeln lassen, als habe er die übermittelte Erklärung selbst abgegeben.“ (BGH, Beschluss vom 31. August 2023 – VIa ZB 24/22 –, Rn. 9).

13.12.2023
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BGH: Kenntnisvermittlung offenbarungspflichtiger Umstände beim Kaufvertrag

Der Verkäufer eines bebauten Grundstücks, der dem Käufer Zugriff auf einen Datenraum mit Unterlagen und Informationen zu der Immobilie gewährt, erfüllt hierdurch seine Aufklärungspflicht, wenn und soweit er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird.

BGH, Urteil vom 15. September 2023 – V ZR 77/22

Problemstellung

Der u.a. für Grundstückskaufverträge zuständige V. Zivilsenat hatte zu entschieden, ob der Verkäufer eines bebauten Grundstücks, der dem Käufer Zugriff auf einen Datenraum mit Unterlagen und Informationen zu der Immobilie gewährt, hierdurch seine Aufklärungspflicht erfüllt, wenn und soweit er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beklagte zu 1 (Verkäuferin) verkaufte der Klägerin mit notariellem Vertrag vom 25. März 2019 mehrere Gewerbeeinheiten in einem großen Gebäudekomplex zu einem Kaufpreis von 1.525.000 € unter Ausschluss der Sachmängelhaftung. In dem Kaufvertrag versicherte die Verkäuferin, dass keine Beschlüsse gefasst seien, aus denen sich eine künftig fällige Sonderumlage ergebe, mit Ausnahme eines Beschlusses über die Dachsanierung mit wirtschaftlichen Auswirkungen von 5.600 € jährlich für den Käufer (§ 4 Nr. 2). Zudem versicherte die Verkäuferin, dass nach ihrer Kenntnis außergewöhnliche, durch die Instandhaltungsrücklage nicht gedeckte Kosten im laufenden Wirtschaftsjahr nicht angefallen seien und ihr auch nicht bekannt sei, dass solche Kosten bevorstünden oder weitere Sonderumlagen beschlossen worden seien (§ 4 Nr. 7). Weiter heißt es in dem Kaufvertrag, der Verkäufer habe dem Käufer die Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre übergeben und der Käufer habe Kenntnis von dem Inhalt der Unterlagen (§ 4 Nr. 8). Die Klägerin wurde als Eigentümerin der Einheiten in das Grundbuch eingetragen. Im Rahmen der Kaufvertragsverhandlungen, die auf Seiten der Verkäuferin von dem Geschäftsführer ihrer Komplementärin, dem Beklagten zu 2 geführt wurden, hatte die Klägerin Zugriff auf einen von der Verkäuferin eingerichteten virtuellen Datenraum erhalten, der verschiedene Unterlagen zu dem Kaufobjekt enthielt. Am Freitag, den 22. März 2019, stellte die Verkäuferin die seit dem 1. Juli 2007 zu führende Beschlusssammlung in den Datenraum ein; darin enthalten war das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016. In dieser Versammlung hatten die Eigentümer beschlossen, die Mehrheitseigentümerin auf Zahlung von 50 Mio. € in Anspruch zu nehmen zur Umsetzung eines in der Eigentümerversammlung vom 17. Mai 2006 gefassten sog. „Umbau- und Revitalisierungs“-Beschlusses über umfangreiche bauliche Änderungen in dem Gebäudekomplex. Zugleich war abgelehnt worden, eine Sonderumlage in gleicher Höhe von den Eigentümern der Gewerbeeinheiten unter Freistellung der Wohnungseigentümer zu erheben. Um die Aufbringung der Sanierungskosten durch die Sonderumlage durchzusetzen, hatte eine andere Eigentümerin Klage erhoben. Das Verfahren endete im Januar 2020 mit einem Vergleich, demzufolge von den Eigentümern der Gewerbeeinheiten eine Sonderumlage von zunächst 750.000 € - bei Bedarf bis zu 50 Mio. € - für Instandhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen am Gemeinschaftseigentum erhoben werden sollte. Auf dieser Grundlage wurde auch die Klägerin in Anspruch genommen. Daraufhin erklärte sie mit Schreiben vom 2. März 2020 die Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung, vorsorglich den Rücktritt vom Kaufvertrag.

Mit der Klage verlangt die Klägerin von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Freistellung von den zur Finanzierung des Kaufpreises eingegangenen Darlehensverbindlichkeiten, hilfsweise die Zahlung von 1.500.000 €, daneben die Zahlung von 184.551,82 € - jeweils Zug um Zug gegen Übereignung der Gewerbeeinheiten und Abtretung der Rückgewähransprüche bezüglich der eingetragenen Grundschulden - sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden und des Annahmeverzugs. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin habe gegen die Verkäuferin keinen Anspruch auf Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten aus § 812 Abs. 1 BGB. Ihr stehe kein Recht zur Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB zu. Die Verkäuferin habe in dem notariellen Kaufvertrag zutreffende Erklärungen abgegeben, denn eine Sonderumlage sei bis zum Vertragsschluss nicht beschlossen worden. Ob sich aufgrund der bei Abschluss des Kaufvertrages fehlenden Bestandskraft des die Sonderumlage ablehnenden Beschlusses vom 1. November 2016 eine künftig fällige Sonderumlage hinreichend konkret ergeben und die Verkäuferin insoweit objektiv eine falsche Zusicherung abgegeben habe, könne dahinstehen. Denn jedenfalls sei der Tatbestand der arglistigen Täuschung diesbezüglich subjektiv nicht erfüllt, weil nicht feststehe, dass die Verkäuferin von der auf die Erhebung einer Sonderumlage abzielenden Klage Kenntnis gehabt habe. Die Klägerin habe auch keinen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB, denn die Verkäuferin habe nicht unter Missachtung ihrer Aufklärungspflicht wahre Tatsachen unterdrückt. Insbesondere könne die Klägerin der Verkäuferin nicht vorwerfen, das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 erst unmittelbar vor dem Notartermin „klammheimlich“ in den Datenraum eingestellt und ihr damit „untergeschoben“ zu haben. Denn die Klägerin habe schon mit dem Verkaufsexposé den Hinweis auf diese Eigentümerversammlung und auf eine anstehende Ertüchtigung der Fassade und Umgestaltung des Gebäudekomplexes auf zwei Ebenen erhalten. Dem sei sie nicht nachgegangen. Zudem müsse sich die Klägerin ihre in dem Kaufvertrag abgegebene Bestätigung, die Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre erhalten zu haben, entgegenhalten lassen. Es habe in ihrer Verantwortung gelegen, sich über die maßgebliche Beschlusslage der Eigentümergemeinschaft zu informieren. Die Parteien hätten auch keine Frist vereinbart, innerhalb derer Informationen über den Kaufgegenstand in den elektronischen Datenspeicher längstens eingestellt werden konnten. Das Vorbringen der Klägerin, sie sei entgegen der bisherigen Übung nicht auf die Zurverfügungstellung weiterer Unterlagen hingewiesen worden, sei zu allgemein gehalten und widersprüchlich. Gegen den Beklagten zu 2 stünden der Klägerin ebenfalls keine Schadensersatzansprüche zu. Mangels arglistiger Täuschung scheide eine deliktische Haftung nach §§ 823, 826 BGB aus. Für einen Anspruch aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 3, § 241 Abs. 2 BGB fehle es an einer Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens.

Die gegen die Verkäuferin gerichtete Revision ist in vollem Umfang begründet. Im Ergebnis zutreffend ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Klägerin einen solchen Anspruch nicht auf § 812 Abs. 1 BGB stützen kann. Richtigerweise folgt dies bereits daraus, dass der Anspruch aus § 812 Abs. 1 BGB auf Herausgabe des Erlangten gerichtet ist, die Klägerin hiermit bei einer Überweisung des Kaufpreises also nur Wertersatz in Höhe des Nennbetrags der Überweisung verlangen kann (vgl. § 818 Abs. 2 BGB). Eine Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten scheidet dagegen als Anspruchsziel aus. Denn aus dem Darlehensvertrag hat die Verkäuferin keine Ansprüche erlangt; sie war nicht Vertragspartei. An dieser Stelle kann also dahingestellt bleiben, ob der Klägerin ein Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB zustand. Zutreffend ist auch die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Klägerin nicht nach § 437 Nr. 2, §§ 440, 323 und 326 Abs. 5 BGB zum Rücktritt von dem Kaufvertrag berechtigt war und nach § 437 Nr. 3, §§ 440, 280, 281, 283 und 311a BGB Schadensersatz verlangen kann, weil sie weder einen Sach- noch einen Rechtsmangel des Kaufobjekts geltend macht. Die Klägerin leitet Ansprüche nicht aus dem Zustand des Gebäudes ab, namentlich nicht aus einer von ihr nicht erkannten Sanierungsbedürftigkeit, sondern daraus, dass die Beklagten sie ihrer Ansicht nach nicht hinreichend über eine konkret drohende Sonderumlage in Höhe von bis zu 50 Mio. € aufgeklärt haben. Der Beschluss einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE) über die Erhebung einer Sonderumlage ist weder eine Eigenschaft des Gebäudes noch - auch wenn er Zahlungspflichten des Teileigentümers gegenüber der GdWE begründet - ein Recht Dritter in Bezug auf den Kaufgegenstand i.S.v. § 435 Satz 1 BGB. Das Teileigentum wird durch einen solchen Beschluss nicht belastet und der Teileigentümer in seiner Nutzungs- und Verfügungsbefugnis nicht beschränkt.      

Rechtsfehlerhaft verneint das Berufungsgericht jedoch einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Verkäuferin aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB. Ein solcher Anspruch kommt unter drei Gesichtspunkten in Betracht: wegen einer unzutreffenden Erklärung der Verkäuferin in dem notariellen Kaufvertrag, wegen einer unrichtigen oder unvollständigen Antwort der Verkäuferin auf Fragen der Klägerin sowie wegen einer unterbliebenen Aufklärung der Klägerin durch die Verkäuferin über einen offenbarungspflichtigen Umstand. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist zunächst nicht ausgeschlossen, dass der Klägerin ein Schadensersatzanspruch wegen Verschuldens bei Vertragsschluss aufgrund einer unzutreffenden Erklärung der Verkäuferin in dem notariellen Kaufvertrag zusteht. Zwar muss bei Vertragsverhandlungen, in denen die Beteiligten entgegengesetzte Interessen verfolgen, nicht jeder Umstand, der für den anderen nachteilig sein könnte, offenbart werden. Macht der Verkäufer jedoch tatsächliche Angaben, die für den Kaufentschluss des anderen Teils von Bedeutung sein können, so müssen diese richtig sein, und zwar auch dann, wenn eine Offenbarungspflicht nicht bestand. Nicht zu beanstanden ist, dass das Berufungsgericht die Versicherung der Verkäuferin in § 4 Nr. 2 des Kaufvertrages, es sei mit Ausnahme der Dachsanierung kein Beschluss gefasst, aus dem sich eine künftig fällige Sonderumlage ergebe, als zutreffend bewertet. Der Beschluss vom 17. Mai 2006 regelte nur die Haftung einzelner Eigentümer für den Fall des Zahlungsausfalls der Mehrheitseigentümerin. Rechtsfehlerhaft ist indes die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen Anspruch der Klägerin im Hinblick auf die Erklärung der Verkäuferin in § 4 Nr. 7, dass nach ihrer Kenntnis außergewöhnliche, durch die Instandhaltungsrücklage nicht gedeckte Kosten im laufenden Wirtschaftsjahr bisher nicht angefallen seien und auch nicht bevorstünden, ablehnt. Das Berufungsgericht versteht die von der Verkäuferin abgegebene Erklärung ersichtlich als sog. Wissenserklärung. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, zumal die Erklärung nicht auf eine Beschaffenheit des Kaufobjekts bezogen ist. Die rechtliche Bedeutung einer Wissenserklärung oder Wissensmitteilung liegt darin, dass der Verkäufer gemäß § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 2 BGB dafür haftet, dass seine Angaben richtig und vollständig sind. Hier kommt in Betracht, dass die Erklärung als unvollständig anzusehen ist und die Verkäuferin dies zu vertreten hat. Aus den der Verkäuferin bekannten Protokollen der Versammlungen der Wohnungs- und Teileigentümer ging hervor, dass Kosten für anstehende bauliche Maßnahmen in Höhe von 50 Mio. € im Raum standen, die von der Instandhaltungsrücklage nicht gedeckt waren und deshalb - ggf. auch gerichtlich - gegenüber der Mehrheitseigentümerin geltend gemacht werden sollten. Damit war der Beschluss aus dem Jahre 2006, den das Berufungsgericht dahin versteht, dass die Mehrheitseigentümerin möglicherweise selbst die Arbeiten durchführen bzw. in Auftrag geben sollte, überholt. Denn die Eigentümer gingen bei der Beschlussfassung am 1. November 2016 ersichtlich davon aus, dass die GdWE die Maßnahmen durchführen und die Mehrheitseigentümerin (nur) wegen der Kosten in Anspruch genommen werden soll. Somit bestand das Risiko, dass bei einer erfolglosen Inanspruchnahme der Mehrheitseigentümerin im Innenverhältnis (auch) die übrigen Eigentümer für die Kosten aufkommen müssen. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, die Erklärung der Verkäuferin, dass nach ihrer Kenntnis außergewöhnliche, durch die Instandhaltungsrücklage nicht gedeckte Kosten nicht bevorstünden, zumindest als unvollständig anzusehen, zumal diese Erklärung keine Einschränkung dahin enthält, dass sie sich lediglich auf „konkret“ bevorstehende Kosten bezieht. Sollte die Erklärung somit als falsch oder zumindest als unvollständig anzusehen sein, würde das Vertretenmüssen der Verkäuferin insoweit vermutet (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB).

Ebenso wenig kann mit der Begründung des Berufungsgerichts ein Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen einer unrichtigen oder unvollständigen Antwort der Verkäuferin auf Fragen der Klägerin ausgeschlossen werden. Der Verkäufer ist - wiederum unabhängig vom Bestehen einer Offenbarungspflicht - verpflichtet, Fragen des Käufers richtig und vollständig zu beantworten. Das Berufungsgericht lässt ausdrücklich offen, ob die Klägerin vor Abschluss des Kaufvertrages gefragt hat, ob und welcher Kostenanteil in Anbetracht des Sanierungsstaus womöglich auf sie zukomme, und ob die Verkäuferin hierauf geantwortet hat, ihre Büroeinheiten verfügten über eine Option zur Umwandlung in Wohneinheiten, bei denen eine Kostenbeteiligung an Instandhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen, welche eigentlich nur die Ladeneigentümer beträfen, nicht vorgesehen sei. Für das Revisionsverfahren ist daher zu unterstellen, dass die Frage gestellt und auf diese Weise beantwortet wurde. Auf dieser Grundlage kann ein vorvertragliches Verschulden der Verkäuferin nicht mit Begründung verneint werden, der Klägerin sei vor Vertragsschluss bekannt gewesen, dass an dem Gebäudekomplex ein Bedarf an baulichen Sanierungsmaßnahmen in nicht unbedeutendem Umfang bestanden habe, und die Antwort der Verkäuferin habe der Klägerin zumindest einen Eindruck von der Größenordnung der sie etwa treffenden Kostenlast vermittelt. Denn die Antwort der Verkäuferin wäre zwar richtig, wenn die beschriebene Umwandlungsoption tatsächlich bestanden haben sollte. Sie wäre aber sowohl im Hinblick auf die ohne Umwandlung eintretende Kostenbelastung als auch im Hinblick auf den Kostenumfang unvollständig. Denn sie lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass Kosten für anstehende bauliche Maßnahmen in Höhe von 50 Mio. € im Raum standen, die von der Instandhaltungsrücklage nicht gedeckt waren und deshalb - ggf. auch gerichtlich - gegenüber der Mehrheitseigentümerin geltend gemacht werden sollten, bei deren Ausfall aber im Innenverhältnis von allen Eigentümern aufzubringen wären. Eine Vervollständigung der Antwort durch das Nachreichen von Dokumenten - hier das Einstellen des Protokolls vom 1. November 2016, aus dem sich die bestehende Problematik und ihre Größenordnung hätten erkennen lassen, in den Datenraum - kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn hierdurch die auch ohne konkrete Nachfrage bestehende Aufklärungspflicht nicht erfüllt wird, etwa weil - wie hier - die Dokumente kurz vor der Beurkundung ohne gesonderten Hinweis in den Datenraum eingestellt werden.

Rechtsfehlerhaft ist schließlich auch die Annahme des Berufungsgerichts, die Verkäuferin habe hinsichtlich des Kostenumfangs für die anstehenden Sanierungsmaßnahmen keine sie treffende Aufklärungspflicht verletzt. Die Verkäuferin hätte die Klägerin auch ungefragt über den Kostenumfang aufklären müssen. Diese Pflicht ist nicht dadurch entfallen oder erfüllt worden, dass sie am 22. März 2019 das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 in den Datenraum eingestellt hat. Die Tatsache, dass Sanierungsmaßnahmen mit einem Kostenumfang von 50 Mio. € ausstanden, war ein offenbarungspflichtiger Umstand, über den die Verkäuferin die Klägerin hätte aufklären müssen. Bei Vertragsverhandlungen besteht zwar keine allgemeine Rechtspflicht, den anderen Teil über alle Einzelheiten und Umstände aufzuklären, die dessen Willensentschließung beeinflussen könnten. Vielmehr ist grundsätzlich jeder Verhandlungspartner für sein rechtsgeschäftliches Handeln selbst verantwortlich und muss sich deshalb die für die eigene Willensentscheidung notwendigen Informationen auf eigene Kosten und eigenes Risiko selbst beschaffen. Allerdings besteht auch bei Vertragsverhandlungen, in denen die Parteien entgegengesetzte Interessen verfolgen, für jeden Vertragspartner die Pflicht, den anderen Teil über Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und daher für seinen Entschluss von wesentlicher Bedeutung sind, sofern er die Mitteilung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Vertragsanschauung redlicherweise erwarten darf. Ein solcher Umstand kann auch dann vorliegen, wenn er geeignet ist, dem Vertragspartner erheblichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Nach diesem Maßstab musste die Verkäuferin die Klägerin - auch ungefragt - darüber aufklären, dass bauliche Maßnahmen am Gemeinschaftseigentum im Kostenumfang von bis zu 50 Mio. € ausstanden. Dieser Kostenumfang war für die Klägerin zweifelsohne von erheblicher Bedeutung. Dass er bei einer Besichtigung ohne Weiteres erkennbar war, ist nicht festgestellt und auch nicht ersichtlich. Es muss sich nicht (sämtlich) um Maßnahmen handeln, die aufgrund eines erkennbar schlechten Zustands des Gebäudes erforderlich sind, also um echte Instandhaltungs- oder Instandsetzungsmaßnahmen. Vielmehr kann es sich - zumindest teilweise - auch um eine beabsichtigte Modernisierung bzw. modernisierende Verbesserung handeln, wie der Begriff „Revitalisierung“ in dem Beschluss aus dem Jahre 2006 andeutet. Die Aufklärungspflicht der Verkäuferin galt auch unabhängig davon, dass diese Kosten vorrangig von der Mehrheitseigentümerin getragen werden sollten und eine Sonderumlage noch nicht beschlossen war. Denn solange die geplanten baulichen Maßnahmen nicht umgesetzt und bezahlt waren, bestand für die Klägerin als künftige Eigentümerin mehrerer Gewerbeeinheiten die konkrete Gefahr, dass die hierfür anfallenden Kosten anteilig von ihr getragen werden müssen.  

Diese Aufklärungspflicht ist nicht dadurch entfallen, dass die Verkäuferin das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 am 22. März 2019 in den Datenraum eingestellt hat und die Klägerin damit die Möglichkeit hatte, sich die Information selbst zu verschaffen. Die für den Käufer bestehende Möglichkeit, sich die Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand selbst zu verschaffen, schließt die Pflicht des Verkäufers zur Offenbarung nicht von vornherein aus. So darf ein verständiger und redlicher Verkäufer zwar davon ausgehen, dass bei einer Besichtigung ohne Weiteres erkennbare Mängel auch dem Käufer ins Auge springen werden und deshalb eine gesonderte Aufklärung nicht erforderlich ist. Konstellationen, in denen dem Käufer auf andere Weise die Möglichkeit gegeben wird, sich die Kenntnis selbst zu verschaffen, stehen der Besichtigungsmöglichkeit aber nicht ohne Weiteres gleich. Mit Blick auf übergebene Unterlagen ist eine Gleichstellung nur dann gerechtfertigt, wenn ein Verkäufer aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die Unterlagen nicht nur zum Zweck allgemeiner Information, sondern unter einem bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird. Solche Umstände liegen etwa vor, wenn der Verkäufer dem Käufer im Zusammenhang mit möglichen Mängeln ein Sachverständigengutachten überreicht. Dagegen kann ein Verkäufer nicht ohne Weiteres erwarten, dass der Käufer Finanzierungsunterlagen oder einen ihm übergebenen Ordner mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt auf Mängel des Kaufobjekts durchsehen wird. Das gilt gleichermaßen, wenn es nicht um einen offenbarungspflichtigen Mangel, sondern um einen anderen offenbarungspflichtigen Umstand geht, etwa - wie hier - um die aus einer ausstehenden Sanierungsmaßnahme drohende Kostenlast für den Käufer. Diese Rechtsprechung ist sinngemäß auf den Fall zu übertragen, dass der Verkäufer einen Datenraum mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt einrichtet und dem Käufer hierauf Zugriff gewährt. Allerdings wird in der Rechtsprechung und Literatur zum Unternehmenskauf mit unterschiedlichem Ergebnis diskutiert, ob die (durch die Einrichtung eines Datenraums ermöglichte) Durchführung einer Due Diligence - also einer Überprüfung des Kaufgegenstands in technischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht - durch den Käufer Auswirkungen auf die Aufklärungspflichten des Verkäufers hat, und wenn ja, welche. Nach Ansicht des Senats lässt sich die Frage, ob der Verkäufer eines bebauten Grundstücks mit der Einrichtung, Bestückung und Eröffnung eines (physischen oder virtuellen) Datenraums seiner Aufklärungspflicht gegenüber dem späteren Käufer hinsichtlich eines offenbarungspflichtigen, in dem Datenraum als Information vorhandenen Umstandes genügt, nicht allgemein und losgelöst von den Umständen des Einzelfalls beantworten. Im Grundsatz findet die Rechtsprechung des Senats zu übergebenen Unterlagen auf den Fall, dass der Verkäufer dem Käufer Zugriff auf Unterlagen in einem Datenraum gewährt, sinngemäße Anwendung. In beiden Fällen gilt gleichermaßen, dass es zwar nicht generell, aber im Einzelfall an einer Informationsasymmetrie zwischen Verkäufer und Käufer und damit an einem Bedürfnis für eine gesonderte Aufklärung fehlen kann. Der Umstand allein, dass der Verkäufer einen Datenraum einrichtet und den Kaufinteressenten den Zugriff auf die Daten ermöglicht, lässt aber angesichts der Vielgestaltigkeit der Abläufe in der Praxis nicht stets den Schluss zu, dass der Käufer den offenbarungspflichtigen Umstand zur Kenntnis nehmen wird. Ist allerdings im Einzelfall die Erwartung gerechtfertigt, dass der Käufer bestimmte, von dem Verkäufer in dem Datenraum bereit gestellte Informationen - etwa im Rahmen einer Due Diligence - wahrnehmen und in seine Kaufentscheidung einbeziehen wird, ist eine gesonderte Aufklärung durch den Verkäufer nicht erforderlich. Der Verkäufer eines bebauten Grundstücks, der dem Käufer Zugriff auf einen Datenraum mit Unterlagen und Informationen zu der Immobilie gewährt, erfüllt hierdurch seine Aufklärungspflicht, wenn und soweit er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird.

Ob der Verkäufer die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von einem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird, hängt somit von den Umständen des Einzelfalls ab, etwa davon, ob und in welchem Umfang der Käufer eine Due Diligence durchführt, wie der Datenraum und der Zugriff hierauf strukturiert und organisiert sind und welche Vereinbarungen hierzu getroffen wurden sowie welcher Art die Information ist, um deren Offenbarung es geht, und die Unterlage, in der sie enthalten ist. Im Ausgangspunkt kann der Verkäufer einer Immobilie, der einen Datenraum eingerichtet hat, von dem Käufer, der eine Due Diligence durchführt, eher erwarten, dass er die zur Verfügung gestellten bzw. dem Zugriff eröffneten Unterlagen vollständig durchsehen und deren jeweilige Bedeutung für seine Kaufentscheidung überprüfen wird, als von einem Käufer, der keine Due Diligence durchführt. Dies gilt insbesondere, wenn der Käufer bei der Durchführung der Due Diligence von Experten unterstützt und beraten wird. Der Verkäufer kann allerdings nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass eine Due Diligence durchgeführt wird. Denn auch wenn der Käufer für sein rechtsgeschäftliches Handeln selbst verantwortlich ist und sich deshalb die für die eigene Willensentscheidung notwendigen Informationen auf eigene Kosten und eigenes Risiko selbst beschaffen muss, trifft ihn von Gesetzes wegen keine Pflicht oder Obliegenheit, vor dem Kauf einer Immobilie eine Due Diligence durchzuführen, geschweige denn zu einer solchen Prüfung Experten hinzuziehen. Die Untersuchungsobliegenheit beim beiderseitigen Handelskauf nach § 377 Abs. 1 HGB greift erst nach Ablieferung der Sache; zudem findet die Vorschrift auf Grundstücksgeschäfte keine Anwendung. Eine Obliegenheit des Käufers zur Durchführung einer Due Diligence könnte sich daher - wenn hierzu keine ausdrückliche Vereinbarung getroffen wurde - allenfalls aus einem Handelsbrauch (§ 346 HGB) oder einer Verkehrssitte ergeben. Ob eine Verkehrssitte besteht, ist allerdings keine Rechts-, sondern eine Tatfrage.  

Führt der Käufer eine Due Diligence durch, was der Verkäufer nach allgemeinen Grundsätzen darzulegen und ggf. zu beweisen hat, ist neben etwaigen vertraglichen Vereinbarungen von Käufer und Verkäufer zum Ablauf der Due Diligence zu berücksichtigen, wie viele Personen mit welcher Qualifikation die Prüfung nach Kenntnis des Verkäufers durchführen, insbesondere ob der Käufer nach dem Kenntnisstand des Verkäufers Berater mit Sachkunde in dem Fachbereich hinzugezogen hat, aus dem die Information stammt. Weiter sind, gleich ob eine Due Diligence durchgeführt wird, die tatsächlichen Umstände der Einrichtung und Nutzung des Datenraums zu berücksichtigen. Es kommt etwa auf den Umfang der dort eingestellten Informationen an, sowie darauf, ob diese zutreffend benannt und systematisch geordnet sind, ob es ein Inhaltsverzeichnis oder eine Suchfunktion gibt, ob der Käufer auf nachträglich eingestellte Informationen gesondert hingewiesen wird, welches Zeitfenster ihm für die Überprüfung der Informationen zur Verfügung steht, und ob der Käufer die Information gesondert angefordert bzw. zum Ausdruck gebracht hat, dass es für ihn auf einen Umstand besonders ankommt. Für die berechtigte Erwartung des Verkäufers, dass der Käufer eine Information selbst auffinden wird, wenn sie für ihn von Interesse ist, spielt zudem dessen - dem Verkäufer bekannte - Geschäftsgewandtheit eine Rolle. Von besonderer Bedeutung ist schließlich der Umstand selbst, um dessen Aufklärungsbedürftigkeit es geht. Handelt es sich etwa um einen Umstand, der - für den Verkäufer erkennbar - für den Käufer von ganz erheblicher Bedeutung ist, etwa weil er den Vertragszweck vereiteln oder dem Käufer ganz erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügen kann, und ist der Umstand aus den bereitgestellten Daten nicht ohne Weiteres erkennbar, dem Verkäufer aber bekannt und unschwer zu offenbaren, dann kann der Käufer regelmäßig einen gesonderten Hinweis erwarten. Der Verkäufer darf in diesem Fall nicht sehenden Auges abwarten, ob der Käufer die nur schwer erkennbare Information aus den bereitgestellten Daten ermittelt, sondern muss diese trotz Due Diligence kommunizieren. Ob der Umstand aus den bereitgestellten Daten ohne Weiteres erkennbar ist, kann auch davon abhängen, in welcher (Art von) Unterlage und an welcher Stelle innerhalb der Unterlage die Information vorhanden ist, namentlich ob es sich um ein Dokument handelt, das ein Käufer vor dem Erwerb einer Immobilie im Regelfall auch ohne - oder im Rahmen der dem Verkäufer kommunizierten - besondere Interessen an Einzelaspekten des Objekts durchsehen wird. Dies kann wiederum davon abhängen, wie geschäftsgewandt der Käufer ist und ob er von sachkundigen Personen beraten wird. Vorliegend hat die Verkäuferin ihre Aufklärungspflicht hinsichtlich des Kostenumfangs der anstehenden baulichen Maßnahmen nicht dadurch erfüllt, dass sie das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 am 22. März 2019 in den Datenraum eingestellt hat, ohne die Klägerin hierüber in Kenntnis zu setzen. Die Verkäuferin konnte nicht die berechtigte Erwartung haben, dass die Klägerin die in dem Protokoll enthaltenen Informationen noch vor Vertragsschluss zur Kenntnis nimmt. Die Klägerin hatte ohne gesonderten Hinweis auf das neu eingestellte Dokument keinen Anlass, in dem Zeitfenster zwischen dem Einstellen des Protokolls am Freitag, den 22. März 2019, und dem Notartermin am Montag, den 25. März 2019, um 10 Uhr noch einmal Einsicht in den Datenraum zu nehmen. Auch wenn keine Frist für das Einstellen von Dokumenten in den Datenraum vereinbart war, musste die Klägerin am letzten Arbeitstag vor dem Notartermin nicht mehr mit neu eingestellten Dokumenten rechnen.  

Eine Aufklärungspflichtverletzung der Verkäuferin lässt sich auch nicht mit dem Argument des Berufungsgerichts verneinen, die Klägerin habe dem in dem Protokoll vom 1. August 2017 enthaltenen Hinweis auf die Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 selbst nachgehen müssen. Richtig daran ist, dass auch ein durchschnittlicher Käufer einer Wohnungs- oder Teileigentumseinheit, der keine besonderen Kenntnisse auf dem Gebiet des Immobilienerwerbs hat, sich üblicherweise von dem Verkäufer zumindest die Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre vorlegen lassen und diese darauf durchsehen wird, ob sich hieraus Anhaltspunkte für anstehende umfangreichere Instandhaltungs- oder Sanierungsmaßnahmen ergeben. Es kommt daher durchaus in Betracht, dass die Klägerin die Obliegenheit traf, das dem Verkaufsexposé beigefügte Protokoll der Versammlung vom 1. August 2017 vollständig zu lesen und sich aufgrund des dort enthaltenen Hinweises auf die Versammlung vom 1. November 2016 von der Verkäuferin auch das Protokoll dieser Versammlung vorlegen zu lassen. Ein etwaiger Verstoß der Klägerin gegen eine sie insoweit möglicherweise treffende Erkundigungsobliegenheit wirkt sich aber nicht unmittelbar auf die Aufklärungspflicht der Verkäuferin aus, sondern könnte allenfalls die Annahme eines Mitverschuldens der Klägerin für die Entstehung des Schadens im Rahmen der Haftung der Verkäuferin nach § 280 Absatz 1, § 311 Absatz 2 Nummer 1, § 241 Absatz 2 BGB begründen. Die Aufklärungspflicht der Verkäuferin wäre hingegen nur dann erfüllt, wenn diese aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben konnte, dass die Klägerin durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird. Das ist aber ausgeschlossen, weil das Protokoll der Versammlung vom 1. November 2016, aus dem die aufklärungsbedürftige Information hervorgeht, der Klägerin in einer Weise zur Verfügung gestellt wurde, dass mit einer Kenntnisnahme von vornherein nicht (mehr) zu rechnen war. Ebenso wenig ist die Aufklärungspflicht der Verkäuferin deshalb als erfüllt anzusehen, weil die Klägerin bei Durchsicht aller ihr zugänglichen Unterlagen Anhaltspunkte für eine anstehende Ertüchtigung der Fassade und Umgestaltung des Gebäudekomplexes auf zwei Ebenen hätte haben können. Denn die Klägerin hatte ihrem Vortrag zufolge konkret nach der auf sie wegen anstehender baulicher Maßnahmen möglicherweise zukommenden Kostenlast gefragt und von der Verkäuferin eine zumindest unvollständige Antwort erhalten. Ob die Klägerin eine Obliegenheit zu weiteren Nachfragen hinsichtlich bevorstehender Kosten getroffen hätte, wenn sie besonders geschäftsgewandt und sachkundig auf dem Gebiet des Immobilienerwerbs wäre oder wenn sie eine umfangreiche Due Diligence unter Hinzuziehung qualifizierter Berater durchgeführt hätte, kann dahinstehen, weil auch hierzu keine Feststellungen getroffen wurden. Zudem könnte – wie bereits ausgeführt – selbst die Annahme einer solchen Obliegenheit allenfalls zu einem Mitverschulden der Klägerin führen, nicht aber dazu, dass die Aufklärungspflicht der Verkäuferin als erfüllt anzusehen wäre.  

Soweit die Berufung gegen die Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 2 zurückgewiesen worden ist, ist die Revision ebenfalls ganz überwiegend begründet. Das Berufungsgericht verneint allerdings im Ergebnis zu Recht die Begründetheit des Antrags auf Feststellung des Annahmeverzugs des Beklagten zu 2. Den übrigen Anträgen – Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten, Zahlung von 184.551,82 € und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden – kann der Erfolg nicht mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung versagt werden. Das Berufungsgericht nimmt zwar zu Recht an, dass sich die Klägerin insoweit nicht auf einen Schadensersatzanspruch aus § 280 Absatz 1, § 311 Absatz 3, § 241 Absatz 2 BGB stützen kann. Denn der Beklagte zu 2 hat selbst nach dem für das Revisionsverfahren zu unterstellenden Vortrag der Klägerin nicht in besonderem Maße persönliches Vertrauen in Anspruch genommen. Insbesondere dessen etwaig als Geschäftsführer der ehemaligen Verwalterin der GdWE erlangten Kenntnisse von den Beschlüssen der Wohnungs- und Teileigentümer können eine über das gewöhnliche Verhandlungsvertrauen hinausgehende Vertrauensbeziehung nicht begründen. Das Berufungsgericht verneint jedoch rechtsfehlerhaft deliktische Schadensersatzansprüche aus § 823 Absatz 2 BGB iVm. § 263 Absatz 1 StGB oder § BGB § 826 BGB. Wie bereits ausgeführt kann eine Aufklärungspflichtverletzung mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden. Für das Revisionsverfahren ist zu unterstellen, dass der Beklagte zu 2 auf die Nachfrage der Klägerin die behauptete (unvollständige) Antwort gegeben hat.

Kontext der Entscheidung

Die bisherige überwiegende Auffassung ging davon aus, dass die Durchführung einer Due Diligence den Umfang der Aufklärungspflichten des Verkäufers zwar nicht generell, aber im Einzelfall reduzieren könne. Dabei nehmen einige Autoren an, dass der Verkäufer mit der Zurverfügungstellung von Unterlagen in einem Datenraum in der Regel seinen Aufklärungspflichten nachkomme, da er im Normalfall die vollständige Durchsicht des Datenraums erwarten könne (BGH, Urteil vom 15. September 2023 – V ZR 77/22 –, Rn. 31, mwN.). Nach anderer Ansicht soll die Durchführung einer Due Diligence keine Auswirkungen auf die Aufklärungspflichten des Verkäufers haben (BGH, Urteil vom 15. September 2023 – V ZR 77/22 –, Rn. 32, mwN.). Die vom V. Zivilsenat gefundene Lösung, dass sich die Frage, ob der Verkäufer eines bebauten Grundstücks mit der Einrichtung, Bestückung und Eröffnung eines (physischen oder virtuellen) Datenraums seiner Aufklärungspflicht gegenüber dem späteren Käufer hinsichtlich eines offenbarungspflichtigen, in dem Datenraum als Information vorhandenen Umstandes genügt, nicht allgemein und losgelöst von den Umständen des Einzelfalls beantworten lässt, stellt eine konsequente Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung des Senats dar. Danach erfüllt mit der Übergabe von Unterlagen ein Verkäufer seine Aufklärungspflicht nur dann, wenn er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die Unterlagen nicht nur zum Zweck allgemeiner Information, sondern unter einem bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird. Solche Umstände liegen etwa vor, wenn der Verkäufer dem Käufer im Zusammenhang mit möglichen Mängeln ein Sachverständigengutachten überreicht. Ein verständiger und redlicher Verkäufer kann dagegen nicht erwarten, dass ein Käufer Finanzierungsunterlagen oder einen ihm übergebenen Ordner mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt darauf durchsieht, ob in die Einfriedung des Grundstücks möglicherweise fremder Grund einbezogen wurde. Dies gilt hier umso mehr, als die Klägerin aufgrund des ausdrücklichen Hinweises in der Objekt- und Lagebeschreibung auf die Umfriedung des Grundstücks mit Zaun und Eingangstor ersichtlich keinen Grund für die Annahme hatte, dass in diese Teile des Nachbargrundstücks einbezogen sein könnten, und sie daher erkennbar auch keinen Anlass hatte, die Frage des Grenzverlaufs einer näheren Prüfung zu unterziehen (BGH, Urteil vom 11. November 2011 – V ZR 245/10 –, Rn. 7, mwN.). Konsequent wird daher dem Berufungsgericht aufgegeben, weitere Feststellungen zu dem Inhalt der Vereinbarungen und den tatsächlichen Umständen der Einrichtung und Nutzung des Datenraums zu treffen (Rn. 55).

Auswirkungen für die Praxis

Sollte, wie die Beklagte behauptet, der Klägerin das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 schon vor dem Einstellen in den Datenraum gesondert übersandt worden sein, hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob hierin die Erfüllung der Aufklärungspflicht bezüglich des Kostenaufwandes für die anstehenden Sanierungsmaßnahmen zu sehen ist. Grundsätzlich wäre von einer Erfüllung der Aufklärungspflicht der Verkäuferin auszugehen, wenn der Klägerin das Protokoll gesondert übersandt worden sein sollte. Anders kann es aber liegen, wenn das Protokoll ohne Hinweis auf seine besondere Bedeutung zusammen mit sämtlichen Protokollen seit dem Jahr 2007 übersandt worden sein sollte. Dann wäre es eine Frage der Gesamtumstände, etwa der für die Durchsicht aller Unterlagen zur Verfügung stehenden Zeit, der Sachkunde der Klägerin bzw. ihrer Berater usw., ob die Verkäuferin mit einer Kenntnisnahme durch die Klägerin rechnen konnte. Hierbei wäre allerdings davon auszugehen, dass Zeitknappheit allein eine an sich berechtigte Erwartung des Verkäufers, der Käufer werde die Information zur Kenntnis nehmen, nicht beseitigt. Ist der Käufer der Ansicht, für die – sorgfältige – Durchsicht übergebener bzw. in den Datenraum eingestellter Unterlagen mehr Zeit zu benötigen, ist es – vorbehaltlich etwaiger hierzu getroffener Vereinbarungen – grundsätzlich an ihm, den Verkäufer hierauf hinzuweisen und ggf. um eine Verlängerung der Prüfungsfristen und um eine Verlegung des Notartermins zu bitten (BGH, Urteil vom 15. September 2023 – V ZR 77/22 –, Rn. 57). Sollte die Aufklärungspflicht nicht erfüllt worden sein, wäre die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Vertragsschluss zugunsten der Klägerin zu vermuten und – anders als das Berufungsgericht meint – die Verkäuferin darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre (BGH, Urteil vom 15. Juli 2016 - V ZR 168/15 – Rn. 9). Verbindlichkeiten aus dem zur Finanzierung des Kaufpreises eingegangenen Darlehensvertrags wären Teil des zu ersetzenden Vertrauensschadens (BGH, Urteil vom 6. April 2001 – V ZR 402/99).

13.12.2023
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BGH: Zur anwaltlichen Fristenorganisation

Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anweisung, bei Verfahrenshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist im Fristenkalender zu notieren.

BGH, Beschluss vom 21. Juni 2023 – XII ZB 418/22

Problemstellung

Mit der Notwendigkeit, für Rechtsmittelbegründungsfristen neben deren Ablauf auch mindestens eine – etwa einwöchige - Vorfrist notieren zu lassen, hatte sich der XII. Zivilsenat in einem Wiedereinsetzungsfall zu befassen.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Amtsgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 7. April 2022 zur Zahlung nachehelichen Unterhalts verpflichtet. Gegen den am gleichen Tag zugestellten Beschluss haben die Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners am 6. Mai 2022 Beschwerde eingelegt. Mit Verfügung vom 14. Juni 2022 hat das Oberlandesgericht den Antragsgegner darauf hingewiesen, dass die Beschwerde bislang nicht begründet worden und deshalb beabsichtigt sei, das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen. Mit Schriftsatz vom 15. Juni 2022 hat der Antragsgegner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist beantragt und seine Beschwerde begründet. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat er ausgeführt, dass die im Büro seiner Verfahrensbevollmächtigten langjährig und zuverlässig arbeitende Kanzleimitarbeiterin H. die Beschwerdefrist auf den 7. Mai 2022 sowie die Beschwerdebegründungsfrist auf den 7. Juni 2022 berechnet und beide Fristen auf der Beschlussausfertigung notiert habe. Sie habe aber entgegen einer bestehenden Arbeitsanweisung nur die Beschwerdefrist, nicht aber die Beschwerdebegründungsfrist im Fristenkalender eingetragen. Einen solchen Geschehensablauf habe es im Beschäftigungsverhältnis der Kanzleimitarbeiterin H. und auch sonst in der Kanzlei der Verfahrensbevollmächtigten noch nie gegeben. In der Folge der unterlassenen Eintragung im Fristenkalender sei die Akte weder mit einer Vorfrist von einer Woche noch bei Fristablauf zur Beschwerdebegründung vorgelegt worden. Die in Kanzlei bestehende Arbeitsanweisung hätte „vorgesehen und sichergestellt, dass die Akte spätestens am 31. Mai 2022 mit einer Vorfrist von einer Woche“ mit dem Vermerk vorgelegt worden wäre, dass die Beschwerdebegründungsfrist am 7. Juni 2022 ablaufe. Die Akte sei dem bearbeitenden Rechtsanwalt aber erst wieder am 8. Juni 2022 im Zusammenhang mit der Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses vorgelegt worden, wo der Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist aufgefallen sei. Die Handakte sei dem bearbeitenden Rechtsanwalt letztmalig mit der beschwerdeeinlegenden Verfügung als Fristsache vorgelegt worden sei und habe dem Rechtsanwalt danach nicht mehr im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegen. Lediglich am 27. Mai 2022 habe die Handakte dem Rechtsanwalt noch einmal vorgelegen. Alle weiteren Schriftsätze bis zum 7. Juni 2022 seien ohne Vorlage der Handakte mit den darin notierten Fristen gefertigt worden. Das OLG hat sowohl den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen als auch die Beschwerde des Antragsgegners verworfen.  

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Das OLG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist könne nicht gewährt werden, weil dem Antragsgegner insoweit ein Verschulden seiner Verfahrensbevollmächtigten zuzurechnen sei. Der Antragsgegner habe bereits nicht vorgetragen, dass in der Kanzlei seiner Verfahrensbevollmächtigten eine allgemeine Anordnung zur Notierung von Vorfristen bestanden habe. Die vorgelegte schriftliche Arbeitsanweisung verhalte sich zur Erforderlichkeit des Notierens von Vorfristen gerade nicht; weitergehende Arbeitsanweisungen seien nicht dargelegt. Unabhängig davon sei dem bearbeitenden Rechtsanwalt die Akte am 27. Mai 2022 zur Erstellung eines am 30. Mai 2022 ausgefertigten und signierten Schriftsatzes betreffend die ergänzende Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des amtsgerichtlichen Beschlusses vorgelegt worden. Dieser zeitliche Ablauf habe so knapp vor dem Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist am 7. Juni 2022 gelegen, dass der bearbeitende Rechtsanwalt gehalten gewesen wäre, die Wiedervorlage der Akte zu einem bestimmten Zeitpunkt vor Fristablauf oder zum Fristablauf selbst zu verfügen. In diesem Fall wäre aufgefallen, dass keine laufenden Fristen im Fristenkalender mehr notiert gewesen seien. Dies hält rechtlicher Überprüfung stand. Die angefochtene Entscheidung wird bereits durch ihre Hauptbegründung getragen. In dem Unterlassen der Weisung, eine Vorfrist im Fristenkalender zu notieren, liegt ein dem Beteiligten nach § 113 FamFG iVm § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden seines Verfahrensbevollmächtigten. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Verfahrenshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies bei Rechtsmittelbegründungen regelmäßig der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist. Diese Vorgaben haben die Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners bei der Organisation ihrer Kanzlei nicht eingehalten. Eine Vorfrist war nicht notiert. Das Beschwerdegericht hat der vorgelegten schriftlichen Arbeitsanweisung keine Verpflichtung der Bürokräfte entnehmen können, für Rechtsmittelbegründungen auch eine Vorfrist im Fristenkalender zu notieren. Folgerichtig und rechtsbedenkenfrei hat das Beschwerdegericht daher für eine ordnungsgemäße Kanzleiorganisation eine weitergehende Anweisung an das Büropersonal verlangt, bei der Notierung des Fristendes für Rechtsmittelbegründungen durch Rückrechnung auch eine angemessene Vorfrist zu bestimmen und diese zumindest im Fristenkalender zu notieren. Das Bestehen einer solchen allgemeinen Büroanweisung oder konkreten Einzelanweisung hat der Antragsgegner weder dargelegt noch glaubhaft gemacht.    

Der Organisationsmangel in der Kanzlei der Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners war für die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist auch ursächlich. Eine Wiedereinsetzung kann bereits dann nicht gewährt werden, wenn die Ursächlichkeit des Organisationsmangels für das Versäumen der Frist nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Hat der Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ergriffen, geht es zu seinen Lasten, wenn das Gericht nicht festzustellen vermag, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre. Es besteht keine Vermutung dafür, dass die im Büro der Verfahrensbevollmächtigten beschäftigte Kanzleimitarbeiterin H. nur deshalb, weil sie den Eintrag der Beschwerdebegründungsfrist in den Fristenkalender versäumt hat, auch den Eintrag der Vorfrist in den Fristenkalender versäumt hätte. Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass in diesem Fall die zusätzliche Fristensicherung der Vorfrist gegriffen, die Bürokraft nicht denselben Fehler zwei Mal gemacht und wenigstens die Vorfrist im Fristenkalender notiert hätte. Die Kanzleimitarbeiterin H. hatte den Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist grundsätzlich zutreffend auf den 7. Juni 2022 berechnet und diesen Termin auch in der Handakte vermerkt. Bei einem auf die Vorfrist bezogen unterstellt ordnungsgemäßem Vorgehen der Bürokraft wäre die Vorfrist auf den 31. Mai 2022 berechnet und die Akte dem bearbeitenden Rechtsanwalt an diesem Tage vorgelegt worden. In diesem Fall hätte der Rechtsanwalt bereits zu diesem Zeitpunkt bemerkt, dass eine Beschwerdebegründung noch nicht erstellt war. Ein Rechtsanwalt hat eine ihm aufgrund einer Vorfrist vorgelegte und damit in seinen persönlichen Verantwortungsbereich zurückgelangte Fristsache rechtzeitig zu bearbeiten und für die Weiterleitung der bearbeiteten Sache in der Weise Sorge zu tragen, dass der entsprechende Schriftsatz fristgerecht bei Gericht eingeht. Dieser Pflicht wird er durch eine weitere, auf den Tag des Fristablaufs notierte Frist nicht enthoben. Hätte mithin der bearbeitende Rechtsanwalt nach Vorlage der Akten zur Vorfrist am 31. Mai 2022 die Beschwerdebegründung fristgerecht fertiggestellt und den Bürokräften mit der Weisung übergeben, sie bei Gericht einzureichen, hätte die Beschwerdebegründungsfrist dadurch gewahrt werden können. Das würde im Übrigen auch dann gelten, wenn der Rechtsanwalt aus besonderen Gründen die Wiedervorlage der Akte am letzten Tag der laufenden Frist verfügt hätte. Denn in diesem Falle wäre im Büro der Verfahrensbevollmächtigen möglicherweise aufgedeckt worden, dass das Ende der Beschwerdebegründungsfrist am 7. Juni 2022 überhaupt nicht im Fristenkalender notiert worden war.

Kontext der Entscheidung

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es dem Rechtsanwalt grundsätzlich gestattet, die Fristen- und Ausgangskontrolle seinem Büropersonal zu überantworten. Es selbst muss lediglich eine fachlich einwandfreie Kanzleiorganisation sicherstellen, die mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter sorgfältig auswählen und diese durch Stichproben kontrollieren. Wird der Anwalt diesen Anforderungen gerecht, so ist es ihm nicht als eigenes Verschulden anzulasten, wenn die Mitarbeiter die Fristen- oder die Ausgangskontrolle im Einzelfall nicht oder nicht sorgfältig durchführen (BGH, Beschluss vom 18. Juni 2020 – IX ZB 17/18 –, Rn. 9). Zu den geeigneten organisatorische Vorkehrungen, um Fristversäumnisse möglichst zu vermeiden, gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren (BGH, Beschluss vom 06. Oktober 2020 – XI ZB 17/19). Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (BGH, Beschluss vom 20. September 2022 – VI ZB 17/22 –, Rn. 7).

Auswirkungen für die Praxis

Zwar schließt ein früheres Verschulden einer Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten die Wiedereinsetzung dann nicht aus, wenn seine rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, der Partei oder ihrem Vertreter nicht zuzurechnendes Ereignis entfällt (sog. überholende Kausalität). Nach §§ 233, 85 Abs. 2 ZPO darf ihr Wiedereinsetzung jedoch nur gewährt werden, wenn ihren Prozessbevollmächtigten kein auch nur mitursächliches Verschulden an der Fristversäumung trifft (BGH, Beschluss vom 27. Januar 2016 – XII ZB 684/14 –, Rn. 25). Die unterlassene Eintragung der Beschwerdebegründungsfrist im Fristenkalender, die auf einem dem Antragsgegner und seinen Verfahrensbevollmächtigten nicht zurechenbaren Fehler der Kanzleimitarbeiterin H. beruht, lässt die (Mit-)Ursächlichkeit der unzureichenden Kanzleiorganisation im Zusammenhang mit der versäumten Arbeitsanweisung zur Notierung einer Vorfrist aber gerade nicht entfallen. Denn die ordnungsgemäße Bearbeitung der Sache nach Vorlage der Akte zur Vorfrist hätte eine fristgerechte Einreichung der Beschwerdebegründung sicherstellen können, ohne dass es auf die versäumte Eintragung der Beschwerdebegründungsfrist im Fristenkalender angekommen wäre (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2023 – XII ZB 418/22 –, Rn. 17).

13.12.2023
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BGH: Zu den beA-Sorgfaltsanforderungen

Bei der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA ist die Überprüfung des Versandvorgangs unerlässlich. Dies erfordert die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt worden ist.

BGH, Beschluss vom 6. September 2023 – IV ZB 4/23

Problemstellung

Wieder einmal hatte der BGH Anlass, in einem Wiedereinsetzungsverfahren die Voraussetzungen an die Kanzleiorganisation und insbesondere an die Postausgangskontrolle bei Versendung fristgebundener Schriftsätze per beA zusammenzufassen.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin hat gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 16. September 2022 zugestellte Urteil des Landgerichts, mit dem ihre Klage abgewiesen wurde, fristgerecht Berufung eingelegt. Nachdem die Berufung nicht innerhalb der Frist des § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO begründet worden war, hat das Berufungsgericht die Klägerin auf die beabsichtigte Verwerfung der Berufung als unzulässig hingewiesen. Die Klägerin hat daraufhin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt und ausgeführt, ihr Prozessbevollmächtigter habe die Berufungsbegründung rechtzeitig am 16. November 2022 gefertigt und über eine Schnittstelle der hauseigenen Kanzleisoftware in das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) versandt. Die Kontrolle, ob das Befüllen des beA erfolgreich gewesen sei, obliege in der Kanzlei den gesondert geschulten Büromitarbeitern. Im konkreten Fall habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin verfügt, dass die zuständige Büroangestellte kontrolliere, ob die Berufungsbegründung erfolgreich in das beA habe "geschoben" werden können. Ausweislich einer Fehlermeldung habe das beA den Empfänger jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht finden können. Deshalb sei der Posteingang nicht befüllt worden. Die Büroangestellte habe die Fehlermeldung wegen eines eigenen Versäumnisses nicht bemerkt, die Frist aber dennoch als erledigt eingetragen und den Prozessbevollmächtigten der Klägerin, der auf die Richtigkeit der "erledigten Fristenliste" habe vertrauen dürfen, nicht auf die fehlerhafte Schnittstellenübermittlung hingewiesen. Auf einen weiteren Hinweis des Gerichts hat die Klägerin ergänzend ausgeführt, in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten bestehe im Zusammenhang mit der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze auch die Anweisung, am Ende eines jeden Arbeitstages die Fristenliste mit den erfolgreichen "beA-Versandprotokollen" abzugleichen und eine endgültige Erledigung nur zu notieren, wenn das "Versandprotokoll" auf Existenz und Inhalt geprüft worden sei. Tagesfristen dürften erst nach einem zweifachen "Erledigungsvermerk" (erstens: beA befüllt, zweitens: "Versandprotokoll" liegt abgeglichen mit der Fristenliste vor) endgültig auf "erledigt" gestellt werden. Nachdem der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im konkreten Fall die zuständige Büroangestellte angewiesen habe, die "Versandprotokolle" mit der Fristenliste abzugleichen, habe diese objektiv wahrheitswidrig mitgeteilt, dass alle Fristen erledigt seien.  

Das Kammergericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Den Prozessbevollmächtigten der Klägerin treffe ein dieser nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Eigenverschulden. Der Rechtsanwalt müsse durch allgemeine Anweisungen - und gegebenenfalls auch durch eigene, stichprobenartige Kontrollen - Vorkehrungen gegen die versehentliche Streichung von Fristen treffen; dies sei in der vom Klägervertreter vorgetragenen Büroorganisation nicht hinreichend der Fall gewesen. Es sei unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen, wozu insbesondere die Kontrolle gehöre, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt worden sei. Es falle deshalb in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren. Die von der Klägerin vorgetragene Organisation genüge diesen Anforderungen nicht. Zwar habe die Klägerin geltend gemacht, der Klägervertreter habe durch einen zweifachen Kontrollmechanismus Vorkehrungen geschaffen, um nicht nur das Befüllen des beA-Faches, sondern auch die beA-Eingangsbestätigung zu überprüfen, und damit hinreichende Anweisungen zur Fristenkontrolle durch die Kanzleimitarbeiterin getroffen. Damit sei aber lediglich dargelegt, welche organisatorischen Voraussetzungen üblicherweise für die Eintragung der Fristen als erledigt bestünden. Es sei gerade nicht dargelegt, welcher Kontrollmechanismus verhindere, dass eine versehentlich als erledigt eingetragene Frist tatsächlich noch offen stehe, weil - wie hier - etwa eine Fehlermeldung der Kanzleisoftware bei der Übermittlung in das beA übersehen worden sei oder - wie hier zusätzlich - eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO fehle und daher keine Sicherheit darüber bestehe, dass der Sendevorgang an das Gericht erfolgreich gewesen sei. Schließlich habe die Klägerin nicht vorgetragen, in welchem Maße der Klägervertreter stichprobenartig kontrolliere, ob die Büroangestellte, wie vorliegend, offenbar ohne jeden entsprechenden Beleg gleichsam ins Blaue hinein die Erledigung aller Fristen objektiv wahrheitswidrig behaupte. Im konkreten Fall habe das frühzeitige fälschliche Eintragen der Rechtsmittelfrist als "erledigt" gerade dazu geführt, dass eine weitere Kontrolle - die zweifache Kontrolle sowohl der Übermittlungsbestätigung als auch der Eingangsbestätigung - ausgeblieben sei und dieses zweifache Warnanzeichen weder von der Büroangestellten noch von dem Prozessbevollmächtigten selbst bemerkt worden sei. Um derartige Fehler zu vermeiden, werde allgemein verlangt, dass der Rechtsanwalt auch die Kontrolle ausgehender Schriftsätze organisieren und eine Weisung dahingehend erteilen müsse, dass die Erledigung fristgebundener Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages durch eine dazu beauftragte Bürokraft ausgehend von den Eintragungen im Fristenkalender nochmals selbständig überprüft werde. Daran fehle es hier jedoch, ebenso wie an entsprechenden stichprobenartigen Kontrollen durch den Rechtsanwalt selbst. Die Fristversäumung beruhe gerade auch auf diesem Organisationsmangel.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen, der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt. Verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin beruht. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass ihr Prozessbevollmächtigter in seiner Kanzlei über eine ordnungsgemäße Ausgangskontrolle verfügt. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb laufender Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen. Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Unerlässlich ist die Überprüfung des Versandvorgangs. Dies erfordert die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt worden ist. Diese Eingangsbestätigung soll dem Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind. Hat der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erhalten, besteht Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war. Bleibt sie dagegen aus, muss dies den Rechtsanwalt zur Überprüfung und gegebenenfalls erneuten Übermittlung veranlassen. Der Rechtsanwalt darf hierbei nicht von einer erfolgreichen Übermittlung eines Schriftsatzes per beA an das Gericht ausgehen, wenn in der Eingangsbestätigung im Abschnitt "Zusammenfassung Prüfprotokoll" nicht als Meldetext "request executed" und unter dem Unterpunkt "Übermittlungsstatus" nicht die Meldung "erfolgreich" angezeigt wird. Es fällt deshalb in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren.

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Klägerin bereits nicht schlüssig dargelegt, dass in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten durch organisatorische Maßnahmen eine nach Maßgabe der dargelegten Grundsätze wirksame Ausgangskontrolle auch für den Fall sichergestellt war, dass ein Schriftsatz fristwahrend aus dem beA übersandt werden sollte. Den Ausführungen der Klägerin lässt sich schon nicht entnehmen, dass in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten eine Anweisung bestand, wonach die Frist zur Berufungsbegründung im Fristenkalender erst nach Überprüfung der erfolgreichen Übermittlung der Berufungsbegründungsschrift an das Gericht unter Berücksichtigung der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO gestrichen werden darf. Sie hat lediglich allgemein behauptet, in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten bestehe im Zusammenhang mit der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze auch die Anweisung, am Ende eines jeden Arbeitstages die Fristenliste mit den erfolgreichen "beA-Versandprotokollen" abzugleichen und eine endgültige Erledigung nur zu notieren, wenn das "Versandprotokoll" auf Existenz und Inhalt geprüft worden sei. Es lässt sich insoweit bereits nicht feststellen, ob sich die behauptete Anweisung einer Überprüfung des "Versandprotokolls" auf die Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO oder das Übermittlungsprotokoll bezog. Eine genaue Anweisung durch den Rechtsanwalt ist insbesondere erforderlich, um Verwechslungen der Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO mit dem Übermittlungsprotokoll zu vermeiden, dessen Vorliegen für die Ausgangskontrolle nicht genügt. Schon an der Darlegung einer solchermaßen eindeutigen Anweisung fehlt es. Zudem fehlen einer solcherart gefassten Anordnung auch hinreichende Anweisungen dazu, wie der zuständige Mitarbeiter die Kontrolle im Einzelfall vorzunehmen hat. Insoweit genügt es nicht, dass zur Organisation der Kanzlei des klägerischen Prozessbevollmächtigten die Weisung an die den Postversand tätigenden Büromitarbeiter gehört, zu prüfen, ob die Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO vorliegt. Der Rechtsanwalt muss dem Mitarbeiter vielmehr vorgeben, an welcher Stelle innerhalb der benutzten Software die elektronische Eingangsbestätigung zu finden ist und welchen Inhalt sie haben muss. Die pauschale Anweisung, das Vorliegen der Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO zu kontrollieren, lässt den Mitarbeiter dagegen schon darüber im Unklaren, welches im Zusammenhang mit der Übermittlung von Schriftsätzen im elektronischen Rechtsverkehr erstellte Dokument eine elektronische Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO ist. Wie die Eingangsbestätigung aufgerufen und ihr Inhalt überprüft werden kann, erfordert eine intensive Schulung der mit dem Versand über das beA vertrauten Mitarbeiter. Das gilt nicht nur im Fall der Versendung über die eigene Internet-Anwendung des beA, sondern auch dann, wenn der elektronische Rechtsverkehr über die Schnittstelle eines Büroverwaltungsprogramms abgewickelt wird. Dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seine den Postversand tätigenden Mitarbeiter entsprechend geschult oder angewiesen hat, hat die Klägerin schon nicht vorgetragen.  

Die Pflichtverletzung war für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch ursächlich. Bei ordnungsgemäßer Organisation der Kanzlei des klägerischen Prozessbevollmächtigten wäre die fehlgeschlagene Übermittlung zeitnah erkannt worden. In diesem Fall wäre nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge bei ansonsten pflichtgemäßem Verhalten der Beteiligten zu erwarten gewesen, dass der erforderliche erneute Übermittlungsversuch der Berufungsbegründung erfolgreich gewesen, die Berufung mithin fristgerecht begründet worden wäre.

Kontext der Entscheidung

Fristen dürfen erst nach Erhalt und Kontrolle der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs gestrichen werden (BGH Beschl. v. 18.4.2023 – VI ZB 36/22; Schwenker MDR 2023, 1161). Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung gilt für die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs per beA nichts wesentlich anderes als bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2023 – IV ZB 23/21). Den Versandvorgang zu überprüfen, ist unerlässlich. Dazu gehört insbesondere die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO erteilt worden ist. Hat der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO erhalten, besteht Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war. Bleibt sie dagegen aus, muss dies den Rechtsanwalt zur Überprüfung und gegebenenfalls erneuten Übermittlung veranlassen. Es fällt deshalb in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren. Die Kontrolle des Signaturvorgangs (§ 130a Abs. 3 S. 1 ZPO) allein reicht für eine ordnungsgemäße Ausgangskontrolle nicht aus (BGH, Beschl. v. 24.5.2022 – XI ZB 18/21; Schwenker MDR 2022, 1202).

Auswirkungen für die Praxis

Im Falle einer gescheiterten Übermittlung per beA unterscheidet sich die Rechtslage von der im Falle einer gescheiterten Faxübermittlung. Ein Prozessbevollmächtigter, der aus technischen Gründen gehindert ist, einen fristwahrenden Schriftsatz elektronisch einzureichen, ist, nachdem er die zulässige Ersatzeinreichung veranlasst hat, nicht mehr gehalten, sich vor Fristablauf weiter um eine elektronische Übermittlung zu bemühen (BGH, Urteil vom 25. Mai 2023 – V ZR 134/22 –, Rn. 10). Ein elektronisches Dokument ist nach § 130d Satz 3 Halbsatz 2 ZPO bei ausreichender Ersatzeinreichung zusätzlich nur auf gerichtliche Anforderung nachzureichen. Dagegen muss ein Rechtsanwalt bei (Ersatz)übermittlung per Telefax damit rechnen, dass das Empfangsfaxgerät des Gerichts am Nachmittag stark in Anspruch genommen und besetzt ist und darf seine Übermittlungsversuche nicht vorschnell aufgeben. Die Beendigung von Übersendungsversuchen um 19.02 Uhr ist als vorschnell anzusehen; der Rechtsanwalt hätte im Laufe des Abends weitere Versuche unternehmen müssen (BGH, Beschluss vom 4. November 2014 – II ZB 25/13). Der Rechtsanwalt muss aber die elektronische Übermittlung nicht bis Mitternacht weiter versuchen, wenn ihm die Ersatzeinreichung des Schriftsatzes vorher gelingt. Die Rechtsprechung zum vorschnellen Aufgeben der Faxübermittlungsversuche ist auf § 130d Satz 2 ZPO nicht übertragbar ist (BGH, Zwischenurteil vom 25. Juli 2023 – X ZR 51/23 –, Rn. 27). § 130d Satz 2 ZPO betrifft nicht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumen einer Frist, sondern sieht die Möglichkeit zur Einhaltung einer Frist in einer von der Vorgabe aus § 130d Satz 1 ZPO abweichenden Form vor (BGH, Zwischenurteil vom 25. Juli 2023 – X ZR 51/23 –, Rn. 29).

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