BGH: Von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeitsvoraussetzungen

23.4.2024
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Die Zustellung eines Versäumnisurteils und die Fristwahrung eines dagegen gerichteten Einspruchs ist gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen. § 531 Abs. 2 ZPO ist insoweit nicht anwendbar.

BGH, Beschluss vom 21. Februar 2024 – XII ZR 65/23

1. Problemstellung

Ob Vortrag einer Partei zu von Amts wegen zu überprüfenden Zulässigkeitsvoraussetzungen wie der Zustellung eines Versäumnisurteils wegen Verspätung zurückgewiesen werden darf, hatte der XII. Zivilsenat zu entscheiden.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Beklagte ist durch Versäumnisurteil zur Zahlung von 60.000,00 € verurteilt worden. Gegen dieses - nach der Zustellungsurkunde an V. N. (erster Vorname und Familienname des Beklagten) adressierte und am 14. Mai 2022 in den „zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung“ eingelegte - Versäumnisurteil hat der Beklagte am 1. Juni 2022 Einspruch eingelegt. Das Landgericht hat den Einspruch wegen Versäumung der Einspruchsfrist verworfen. Die Berufung des Beklagten hat das OLG durch Beschluss zurückgewiesen. Mit der Zustellungsurkunde sei bewiesen, dass dem Beklagten das Versäumnisurteil am 14. Mai 2022 durch Einwurf in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden sei. Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde hinsichtlich des Adressaten sei nur dann aufgehoben, wenn aufgrund der Bezeichnung unklar bleibe, an welche von mehreren gleichnamigen Personen zugestellt sein solle. Es sei aber nicht ersichtlich, dass eine zweite Person mit dem im Adressfeld der Zustellungsurkunde angegebenen Namen an der Zustelladresse wohne. Die bloße Gleichheit des Nachnamens N. führe nicht zur Unklarheit darüber, an wen zugestellt sei. Der Beklagte habe die Beweiskraft der Zustellungsurkunde mit seinem erstinstanzlichen Vorbringen auch nicht entkräftet. Sein Vortrag, das Versäumnisurteil habe sich erst am 28. oder 29. Mai 2022 in seinem mit dem Nachnamen und seinem zweiten Vornamen B. beschrifteten Briefkasten befunden, es sei möglicherweise vom Zusteller in einen der beiden anderen unter derselben Anschrift angebrachten Briefkästen mit der Beschriftung N. eingelegt und dann von dem anderen Hausbewohner dieses Namens bei ihm eingeworfen worden, habe lediglich die Möglichkeit eines anderen als des beurkundeten Ablaufs aufgezeigt. In welchen anderen Briefkasten das Schreiben zuvor eingeworfen worden sein sollte und warum es erst am 28. oder 29. Mai 2022 in den Briefkasten des Beklagten gelangt sei, habe dieser im landgerichtlichen Verfahren dagegen nicht vorgetragen. Der Beklagte habe sich insoweit auch nicht in Beweisnot befunden, weil er die namensgleichen Nachbarn hätte befragen und dann Beweis antreten können. Soweit der Beklagte - auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO - im Berufungsverfahren vorgetragen habe, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass die Mitbewohnerin seines Nachbarn mit dem Namen V. V. N. das Schreiben Mitte Mai 2022 in dessen Briefkasten gefunden und dem Nachbarn ausgehändigt habe, der seinerseits das Schreiben Ende Mai 2022 auf den Briefkasten gelegt habe, wo ein anderer Nachbar es gefunden und in seinen - des Beklagten - Briefkasten eingeworfen habe, sei dies nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigungsfähig. Der Vortrag sei neu, weil es sich hierbei nicht lediglich um eine Konkretisierung des erstinstanzlichen Vorbringens handele, und die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung neuen Vortrags lägen nicht vor.    

Auf die Revision des Beklagten wird der Beschluss des OLG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Der Beklagte beanstandet zu Recht, dass er durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt ist. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Sachvortrags oder hierfür erbrachter Beweisangebote verstößt dabei gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn diese im Prozessrecht keine Stütze findet. Die Schwelle einer solchen grundrechtsrelevanten Gehörsverletzung kann bei der Verwerfung eines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil als verfristet eher überschritten sein, als dies üblicherweise der Fall ist. Denn hiermit ist stets eine Präklusion des Verteidigungsvorbringens verbunden, durch die der Beklagte in seiner Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verfahren einschränkt ist.

Liegen die Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung einer Klage oder eines Versäumnisurteils nicht vor, ist der Beklagte durch die Annahme einer wirksamen Zustellung in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Entsprechendes gilt für ein Urteil, mit dem der Einspruch des Beklagten gegen ein solches Versäumnisurteil verworfen wird, und für eine Entscheidung des Berufungsgerichts, mit der die Berufung des Beklagten gegen das den Einspruch verwerfende Urteil des Gerichts des ersten Rechtszugs zurückgewiesen wird. Denn durch derartige Entscheidungen wird die Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör perpetuiert, weil diesem die wirksame Möglichkeit einer Überprüfung des Versäumnisurteils auf dessen sachliche Richtigkeit genommen ist.

Daran gemessen ist der Beklagte durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Verwerfung des Einspruchs des Beklagten gegen das Versäumnisurteil als verfristet findet im Prozessrecht keine Stütze und hält daher rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das OLG hätte den erst im Berufungsverfahren eingeführten Vortrag des Beklagten zum genauen Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen der Briefkästen an der Zustelladresse nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen. Denn auf die gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen gebotene Prüfung der Zustellung eines Versäumnisurteils und der Fristwahrung des dagegen gerichteten Einspruchs ist § 531 Abs. 2 ZPO nicht anwendbar. Ungeachtet dessen hätte das OLG den vom Beklagten erst auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO im Berufungsverfahren gehaltenen Vortrag zum Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen Briefkasten an der Zustelladresse auch deshalb nicht als verspätet zurückweisen dürfen, weil die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO nicht vorlagen. Das Vorbringen erst im Berufungsverfahren beruht jedenfalls nicht auf einer Nachlässigkeit des Beklagten (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO), weil der Beklagte entgegen der Ansicht des OLG im landgerichtlichen Verfahren nicht zu weiteren Nachforschungen verpflichtet gewesen wäre. Der Verstoß des OLG gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Oberlandesgericht ohne die Gehörsverletzung keine Überzeugung von der Zustellung des Versäumnisurteils am 14. Mai 2022 hätte bilden können, es gemäß § 189 ZPO einen Beginn der Einspruchsfrist erst mit dem vom Beklagten behaupteten tatsächlichen Zugang des Versäumnisurteils am 29. Mai 2022 angenommen und den am 1. Juni 2022 eingegangenen Einspruch demzufolge als rechtzeitig angesehen hätte.

Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Insbesondere wäre dem Beklagten nicht unter dem Gesichtspunkt rechtsmissbräuchlichen Verhaltens versagt, sich auf einen Zustellungsmangel zu berufen. Zwar kann die Geltendmachung eines Zustellungsmangels treuwidrig und damit rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Mangel bewusst und zielgerichtet herbeigeführt worden ist. Hierfür ist indes vorliegend nichts ersichtlich. Insoweit ist revisionsrechtlich zu unterstellen, dass der Briefkasten des Beklagten mit dem Namen B. N. beschriftet war, sich an der Zustellungsadresse zwei weitere Briefkästen anderer Bewohner befanden, die ebenfalls mit dem Nachnamen N. gekennzeichnet waren, und die Sendung vom Zusteller in den Briefkasten eines gleichnamigen Nachbarn des Beklagten eingelegt wurde. Dass die Sendung in einen der nicht der Wohnung des Beklagten zuzuordnenden Briefkästen eingelegt wurde, würde unter diesen Umständen maßgeblich darauf beruhen, dass das Landgericht den in der Klageschrift genannten zweiten Vornamen des Beklagten nicht in das Adressfeld des Postzustellungsauftrags aufgenommen hat, und läge damit in der Sphäre des Gerichts.

3. Kontext der Entscheidung

Zustellurkunden, die zum Nachweis der Zustellung auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen sind, haben nach § 182 Absatz 1 Satz 2 ZPO die Beweiskraft des § 418 ZPO. Sie begründen somit vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Inwiefern äußere Mängel die Beweiskraft einer Urkunde ganz oder teilweise aufheben oder mindern, entscheidet das Gericht nach freier Überzeugung, wie § 419 ZPO bestimmt. Es erfolgt eine freie Beweiswürdigung nach § 286 ZPO. Der Mangel schließt die Beweisregeln der §§ 415ff. ZPO aus, nimmt der Urkunde aber nicht schlechthin jede Beweiskraft, sondern stellt den Grundsatz der freien Beweiswürdigung wieder her, so dass zu prüfen ist, welche Schlüsse unter Berücksichtigung aller Umstände gemäß § 286 ZPO aus der Urkunde zu ziehen sind (Feskorn in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 419 Rn. 3 mwN.). Der Senat weist daher ausdrücklich darauf hin, dass das das Oberlandesgericht nach freier Überzeugung zu beurteilen haben wird, ob die Beweiskraft der Zustellungsurkunde hinsichtlich der Person des Zustellungsadressaten (§§ 182 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1, 418 Abs. 1 ZPO) - auch in Anbetracht der Beschriftung der Briefkästen an der Zustelladresse - ganz oder teilweise dadurch gemindert oder aufgehoben ist, dass im Adressfeld der Zustellungsurkunde nicht der vollständige Name des Beklagten angegeben war (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2024 – XII ZR 65/23 –, Rn. 15).

4. Auswirkungen für die Praxis

Grundsätzlich beginnt der Lauf einer Rechtsmittelfrist für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der Entscheidung. Etwas anderes gilt jedoch für Entscheidungen, bei denen die Verkündung durch die Zustellung ersetzt wird (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 1994 – XII ZB 90/94 –, Rn. 13). Bei einem Versäumnisurteil, das nach § 331 Abs. 3 ZPO ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Vorverfahren ergeht, wird die Verkündung durch die Zustellung des Urteils ersetzt, wie § 310 Abs. 3 Satz 1 ZPO bestimmt. Im schriftlichen Vorverfahren gemäß § 331 Abs. 3 ZPO ergangene Versäumnisurteile sind an Verkündungs statt zuzustellen und werden erst durch die Zustellung an beide Parteien existent, so dass die Einspruchsfrist erst mit der letzten der von Amts wegen zu bewirkenden Zustellungen in Lauf gesetzt wird (BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 – IV ZR 14/08 –, Rn. 9). Die Einspruchsfrist beginnt somit nicht vor Ausführung der Amtszustellung des Urteils an beide Parteien, selbst dann, wenn die Zustellung an den obsiegenden Kläger der Zustellung an den Beklagten nachfolgt (Herget in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 339 Rn. 4).

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