BGH: Vorrang der Verfahrenskostenhilfeentscheidung

15.2.2024
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Der verfahrenskostenhilfebedürftige Rechtsmittelführer ist auch dann unverschuldet an der rechtzeitigen Einlegung des Rechtsmittels gehindert, wenn er ein wegen bestehenden Anwaltszwangs unzulässiges persönliches Rechtsmittel eingelegt und dafür Verfahrenskostenhilfe beantragt hat. Das Rechtsmittelgericht hat auch in diesem Fall zunächst über die beantragte Verfahrenskostenhilfe zu entscheiden, bevor es das Rechtsmittel als unzulässig verwirft.

BGH, Beschluss vom 10. Januar 2024 – XII ZB 510/23

1. Problemstellung

Der XII. Zivilsenat hatte – erneut (zuvor: BGH, Beschluss vom 4. November 2015 – XII ZB 289/15) zu entscheiden, ob ein Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen ist, wenn eine verfahrenskostenhilfebedürftige Partei ein wegen bestehenden Anwaltszwangs unzulässiges persönliches Rechtsmittel eingelegt und dafür Verfahrenskostenhilfe beantragt.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Antragsgegner hat gegen einen seinem damaligen Verfahrensbevollmächtigten am 25. Mai 2023 zugestellten Beschluss des Amtsgerichts (Familiengericht) mit am 15. Juni 2023 beim Amtsgericht eingegangenem Schreiben vom 12. Juni 2023 persönlich Beschwerde eingelegt und diese begründet. Gleichzeitig hat er die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Mit am 25. Juni 2023 beim OLG eingegangenem Schreiben hat der Antragsgegner die Beschwerde erneut eingelegt und begründet sowie nochmals Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts gestellt. Das OLG hat die Beschwerde als unzulässig, weil nicht durch einen Rechtsanwalt eingelegt, verworfen und zugleich das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners wegen fehlender Erfolgsaussichten zurückgewiesen, weil die Beschwerde unzulässig sei.  

Die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Das OLG hätte die Beschwerde nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen dürfen, dass diese entgegen § 114 FamFG nicht von einem Rechtsanwalt eingelegt worden ist. Denn der Antragsgegner hat mit Schreiben vom 12. Juni 2023 innerhalb der Beschwerdefrist die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe beantragt. Ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsfrist Verfahrenskostenhilfe beantragt hat, ist bis zur Entscheidung über seinen Antrag als unverschuldet verhindert anzusehen, das Rechtsmittel wirksam einzulegen oder rechtzeitig zu begründen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Das gilt auch dann, wenn neben dem Verfahrenskostenhilfegesuch ein unzulässiges Rechtsmittel eingelegt worden ist. Da der Verfahrenskostenhilfe beantragende Beteiligte wegen seiner Bedürftigkeit gehindert ist, einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen, ist ihm, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste, nach Entscheidung über die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Beschwerdegericht hat dementsprechend zunächst über das Verfahrenskostenhilfegesuch zu entscheiden.

Daran gemessen durfte das OLG die Beschwerde nicht gleichzeitig mit der Entscheidung über das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners verwerfen. Es hätte vielmehr zunächst über die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe entscheiden müssen, weil dem Antragsgegner - bei Nachholung der formwirksamen Beschwerdeeinlegung und -begründung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist - Wiedereinsetzung in den Lauf der Beschwerde- und der Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren gewesen wäre. Der Antragsgegner musste nach den gegebenen Umständen insbesondere nicht mit der Ablehnung seines Verfahrenskostenhilfeantrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen, weil er ausweislich der innerhalb der Beschwerdefrist vorgelegten Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und der beigefügten Belege als Empfänger von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch nicht in der Lage war, die Verfahrenskosten selbst zu tragen.

Entgegen der Ansicht des OLG stand einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch nicht entgegen, dass ein Wiedereinsetzungsantrag nicht innerhalb der nach § 113 Abs. 1 FamFG für die Beschwerdeeinlegung maßgeblichen Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingegangen ist. Die Frist zur Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beginnt bei einem innerhalb der Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsfrist gestellten Verfahrenskostenhilfeantrag regelmäßig nicht vor der Zustellung der Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag. Früher beginnt die Frist nur, wenn der Beteiligte - etwa wegen eines gerichtlichen Hinweises, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nicht vorliegen - schon zuvor nicht mit einer Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe rechnen konnte. Mangels vorheriger Entscheidung des OLG über das Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners war das durch dessen Bedürftigkeit bedingte Hindernis, einen Rechtsanwalt für das Beschwerdeverfahren zu beauftragen, nicht behoben und hatte daher die Frist für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den Lauf der Beschwerdefrist - und der Beschwerdebegründungsfrist - entgegen der Ansicht des OLG vor der Verwerfungsentscheidung nicht zu laufen begonnen (§ 113 Abs. 1 FamFG iVm § 234 Abs. 2 ZPO). Der Antragsgegner musste auch nicht wegen des zuvor ergangenen Hinweises des OLG auf die Unzulässigkeit der Beschwerde bereits zu einem früheren Zeitpunkt mit einer Versagung von Verfahrenskostenhilfe rechnen. Er durfte darauf vertrauen, dass das OLG der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach bei rechtzeitig gestelltem Verfahrenskostenhilfeantrag zunächst über die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zu entscheiden ist, entsprechen und ihn nicht durch eine gleichzeitige Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag und die Verwerfung der Beschwerde rechtlos stellen würde.

3. Kontext der Entscheidung

Der Senat bestätigt seine bisherige Rechtsprechung. Danach ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittelfrist oder Rechtsmittelbegründungsfrist Prozesskostenhilfe (oder Verfahrenskostenhilfe) beantragt hat, bis zur Entscheidung über seinen Antrag als unverschuldet verhindert anzusehen, das Rechtsmittel wirksam einzulegen oder rechtzeitig zu begründen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Das gilt auch dann, wenn neben dem Verfahrenskostenhilfegesuch ein unzulässiges Rechtsmittel eingelegt worden ist. Da der Verfahrenskostenhilfe beantragende Beteiligte wegen seiner Verfahrenskostenhilfebedürftigkeit gehindert ist, einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen, ist ihm, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste, nach Entscheidung über die Verfahrenskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (BGH, Beschluss vom 4. November 2015 – XII ZB 289/15 –, Rn. 6 mwN.)  

4. Auswirkungen für die Praxis

Hat eine Partei in einer Familienstreitsache innerhalb der Beschwerdefrist Verfahrenskostenhilfe beantragt, ist sie nur so lange als schuldlos an der Fristwahrung gehindert anzusehen, wie sie nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit einer die Verfahrenskostenhilfe ablehnenden Entscheidung rechnen muss, weil sie sich für bedürftig halten darf und aus ihrer Sicht alles Erforderliche getan hat, damit ohne Verzögerung über ihr Verfahrenskostenhilfegesuch entschieden werden kann (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn.13). Die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist beginnt daher, sobald dem Beteiligten ein gerichtlicher Hinweis zugeht, dass die Voraussetzungen für eine Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nicht vorliegen. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt muss der Antragsteller mit der Ablehnung des Verfahrenskostenhilfegesuchs rechnen; er darf deswegen mit seinem Wiedereinsetzungsgesuch und der Nachholung der versäumten Verfahrenshandlung nicht über die 14tägige Frist (§§ 234 Abs. 1 Satz 1, 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) hinaus zuwarten, bis das Gericht über sein Gesuch entscheidet (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn. 24).  Wird in einer Familienstreitsache die Beschwerde anstatt bei dem gemäß § 64 Abs. 1 FamFG für ihre Entgegennahme zuständigen Amtsgericht beim Beschwerdegericht eingelegt, hat das angerufene Gericht die Beschwerdeschrift im ordentlichen Geschäftsgang an das Amtsgericht weiterzuleiten, wenn ohne weiteres die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts erkennbar und - damit regelmäßig - die Bestimmung des zuständigen Gerichts möglich ist. Geht der Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Amtsgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf ein Verfahrensbeteiligter darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig dort eingeht (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn. 28). Unterbleibt die gebotene Weiterleitung der Beschwerdeschrift an das Amtsgericht, ist weitere Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung, dass die bei einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang verbleibende Zeit für die Fristwahrung ausreichend gewesen wäre. Dies hat grundsätzlich der die Wiedereinsetzung begehrende Beteiligte darzulegen und glaubhaft zu machen ( BGH, Beschluss vom 14. Mai 2014 – XII ZB 689/13 –, Rn. 30).

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