BGH: Zur Aufrechungslage nach Kündigung des Bauvertrags

13.12.2023
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1. Führt eine vom Besteller ausgesprochene Kündigung eines Bauvertrags aus wichtigem Grund dazu, dass sich die Forderung des Schuldners auf Werklohn und eine Gegenforderung auf Schadensersatz wegen Fertigstellungsmehrkosten aus einem anderen Vertragsverhältnis aufrechenbar gegenüberstehen, ist die Herstellung der Aufrechnungslage gläubigerbenachteiligend.

2. Die Wirksamkeit der Kündigung steht der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage nicht entgegen.

BGH, Urteil vom 19. Oktober 2023 – IX ZR 249/22

Problemstellung

Der für das Insolvenzrecht zuständige IX. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob ein Auftraggeber, der den Bauvertrag nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B gekündigt hat, weil der Auftragnehmer Insolvenzantrag gestellt hatte, gegen den vom Verwalter klageweise geltend gemachten Vergütungsanspruch mit dem Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung des Restes gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 VOB/B aufrechnen darf.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 6. Februar 2018 am 1. Mai 2018 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH (Schuldnerin), die von der Beklagten im August 2017 auf der Grundlage zweier Auftragsschreiben mit Metallbauarbeiten worden war. Nachdem die Beklagte von dem Insolvenzantrag der Schuldnerin Kenntnis erlangt hatte, kündigte sie mit Schreiben vom 9. März 2018 die beiden Verträge gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B außerordentlich fristlos und nahm am 21. März 2018 die bereits erbrachten Arbeiten ab. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung restlichen Werklohns für Metallbauarbeiten der Schuldnerin gemäß zweier Schlussrechnungen vom 28. März 2018 in Höhe von insgesamt 182.464,43 € in Anspruch. Die Beklagte rechnet mit streitigen Schadensersatzansprüchen aus einem anderen, ebenfalls mit dem Schreiben vom 9. März 2018 gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B außerordentlich fristlos gekündigten Bauvorhaben in Höhe von 383.103,55 € auf. Das Landgericht hat unter Berücksichtigung von Abzügen wegen nicht erbrachter Teilleistungen der Klage in Höhe von 172.952,61 € stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat nur insoweit Erfolg gehabt, als hinsichtlich eines Betrags von 10.204,88 € eine Verurteilung Zug um Zug gegen Stellung von Gewährleistungsbürgschaften ausgesprochen wurde. Die Aufrechnung der Beklagten sei nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO iVm. § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO unzulässig, weil die Beklagte die Möglichkeit der Aufrechnung durch ihre in Kenntnis des Eigenantrags erklärte Sonderkündigung erlangt habe. Aus der Wirksamkeit der Sonderkündigung folge nicht, dass der Auftraggeber mit seinem an diese anknüpfenden Mehrkostenerstattungsanspruch auch aufrechnen könne. Die Herbeiführung einer Aufrechnungslage könne auch dann anfechtbar sein, wenn das Kündigungsrecht außer Frage stehe.

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass gegenüber den Vergütungsansprüchen der Schuldnerin die Aufrechnung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO insolvenzrechtlich unzulässig ist. Gegenstand der Anfechtung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist das Herstellen der Aufrechnungslage. Da § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO auf die allgemeinen Vorschriften über die Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff InsO) Bezug nimmt, müssen sämtliche Merkmale einer anfechtbaren Rechtshandlung erfüllt sein. Als Rechtshandlung kommt jede Handlung in Betracht, die zum Entstehen der Aufrechnungslage führt, insbesondere die Kündigung eines Vertrags. Durch die in Kenntnis des Eröffnungsantrags der Schuldnerin erklärte, auf § 8 Abs. 2 (Nr. 1 Fall 2) VOB/B gestützte Kündigung vom 9. März 2018 hat die Beklagte eine Aufrechnungslage mit etwaigen Gegenforderungen aus § 8 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 VOB/B hergestellt. Ob das Erlangen der Aufrechnungslage eine kongruente oder inkongruente Deckung darstellte, kann dahinstehen; denn es liegen in jedem Fall die Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO vor. Als Auffangtatbestand erfasst die Regelung des § 130 InsO auch inkongruente Deckungen.  

Die Beklagte meint, die Aufrechnungslage sei nicht durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt. An einer Benachteiligung fehle es, weil die Einbeziehung des § 8 Abs. 2 VOB/B in den Vertrag der Schuldnerin keine Vermögensnachteile auferlegt habe, die über die gesetzlichen und richterrechtlich anerkannten Folgen hinausgingen. Da im Übrigen eine Unausgewogenheit des Bauvertrags nicht ersichtlich sei, scheide eine insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit aus. Der Kläger macht indessen keine (Teil-)Anfechtung des Bauvertrags geltend, sondern beruft sich auf die insolvenzrechtliche Unzulässigkeit der Aufrechnung. Die Wirksamkeit der insolvenzabhängigen Lösungsklausel des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VOB/B und der Bestimmung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B in Bezug auf §§ 103, 119 InsO sowie auf § 307 Abs. 1, 2 BGB ist von der vorliegend zu entscheidenden Frage der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage zu trennen. Die insolvenzrechtliche Unwirksamkeit ergreift nur die gläubigerbenachteiligende Wirkung der Herstellung der Aufrechnungslage, nicht jedoch das Grundgeschäft (hier: die Kündigung). Nach § 143 Abs. 1 InsO ist nur dasjenige zur Insolvenzmasse zurückzugewähren, was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben worden ist, also der eingetretene Erfolg als solcher. Besteht die objektive Gläubigerbenachteiligung nur in einer einzelnen, abtrennbaren Wirkung einer einheitlichen Rechtshandlung, darf deren Rückgewähr nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, dass die Handlung auch sonstige, für sich nicht anfechtbare Folgen ausgelöst habe. Einen Rechtsgrundsatz, dass mehrere Wirkungen einer Rechtshandlung nur ganz oder gar nicht anfechtbar seien, gibt es im Insolvenzrecht nicht. Die Erlangung der Aufrechnungsmöglichkeit durch eine anfechtbare Rechtshandlung wird genauso beurteilt, wie wenn das Insolvenzverfahren im Zeitpunkt des Erwerbs der Forderung bereits eröffnet gewesen wäre. Der Verwalter kann sich unmittelbar auf die Unwirksamkeit der Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO berufen. Auf diesem Wege kann der Insolvenzverwalter die Forderung der Masse, gegen die aufgerechnet worden ist, durchsetzen, als sei die Aufrechnung nicht erfolgt.  

Ohne Erfolg rügt die Revision weiter, es fehle an einer objektiven Gläubigerbenachteiligung, weil die Kündigung Voraussetzung für die vom Kläger erhobene Restwerklohnforderung und zugleich für das Entstehen des Schadensersatzanspruchs wegen der Fertigstellungsmehrkosten gewesen sei. Die gläubigerbenachteiligende Wirkung, die mit der Herstellung einer Aufrechnungslage eintritt, kann selbständig angefochten werden. Die gemäß § 129 Abs. 1 InsO erforderliche Gläubigerbenachteiligung ist beim Herstellen der Aufrechnungslage regelmäßig schon deshalb zu bejahen, weil die Forderung der Masse im Umfang der Aufrechnung zur Befriedigung einer einzelnen Insolvenzforderung verbraucht wird und insoweit nicht mehr für die Verteilung der Masse zur Verfügung steht. Der Masse entgeht dadurch die Differenz zwischen dem Nennwert der Forderung der Masse und der Quote auf die Gegenforderung des Insolvenzgläubigers. Eine Kündigung hat die Benachteiligung der Insolvenzgläubiger zur Folge, wenn sie - wie hier - zu der Möglichkeit der Aufrechnung führt, welche die Hauptforderung der Gesamtheit der Gläubiger entzog. In der Möglichkeit der Befriedigung durch Aufrechnung, welche den üblicherweise eintretenden Zufluss des Werklohns für die erbrachten Arbeiten an die haftende Masse ausschließt, wodurch die anderen Gläubiger benachteiligt werden, liegt eine objektive Gläubigerbenachteiligung. Eine Saldierung der Vor- und Nachteile findet im Insolvenzverfahren grundsätzlich nicht statt; eine Vorteilsausgleichung nach schadensersatzrechtlichen Grundsätzen ist im Insolvenzanfechtungsrecht grundsätzlich nicht zulässig. Vielmehr ist der Eintritt der Gläubigerbenachteiligung isoliert in Bezug auf die konkret bewirkte Minderung des Aktivvermögens oder die Vermehrung der Passiva des Schuldners zu beurteilen. Daher schließt es die Gläubigerbenachteiligung nicht aus, wenn die Werklohnforderung, gegen die die Beklagte aufgerechnet hat, erst durch die angefochtene Rechtshandlung fällig geworden ist.

Kontext der Entscheidung

Die Wirksamkeit der insolvenzabhängigen Lösungsklausel in § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B war lange umstritten. Insoweit bestehen Differenzen zwischen dem für das Bauvertragsrecht zuständigen VII. und dem für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenat. Zuletzt hat der IX. Zivilsenat entschieden, dass eine insolvenzabhängige Lösungsklausel unwirksam ist, wenn der insolvenzabhängige Umstand für sich allein die Lösung vom Vertrag ermöglicht und die Lösungsklausel in Voraussetzungen oder Rechtsfolgen von gesetzlichen Lösungsmöglichkeiten abweicht, ohne dass für diese Abweichungen bei objektiver Betrachtung ex ante zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses auf der Grundlage der wechselseitigen Interessen der Parteien berechtigte Gründe bestehen (BGH, Urteil vom 27. Oktober 2022 – IX ZR 213/21). Dass eine insolvenzabhängige Lösungsklausel bei Verträgen über die fortlaufende Lieferung von Waren oder Energie nach § 119 InsO unwirksam ist, wenn sie im Voraus die Anwendung des § 103 InsO ausschließt, hatte der IX. Zivilsenat bereits 2012 entschieden. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Vereinbarung einer gesetzlich vorgesehenen Lösungsmöglichkeit entspricht (BGH, Urteil vom 15. November 2012 – IX ZR 169/11, Rn. 13; dazu: Schwenk, jurisPR-BKR 5/2013 Anm. 1). Die Entscheidung darf jedoch nicht verabsolutiert werden. Sie gilt nur für die fortgesetzte Belieferung mit Waren und Energie (Hain, jurisPR-InsR 3/2023 Anm. 1). Daher steht das später ergangene Urteil des VII. Zivilsenats zum insolvenzbedingten Kündigungsrecht in § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B (2009) nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des IX. Zivilsenats. Danach sind die in einen Bauvertrag einbezogenen Regelungen des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 iVm. § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B (2009) nicht gemäß § 134 BGB wegen Verstoßes gegen §§ 103, 119 InsO unwirksam (BGH, Urteil vom 7. April 2016 – VII ZR 56/15 –, Rn. 24; dazu: Retzlaff, jurisPR-BGHZivilR 10/2016 Anm. 1). Die im Anschluss an das Urteil des IX. Zivilsenats vom 27. Oktober 2022 erhobene triumphalistische Behauptung „Insolvenzsenat folgt Bausenat“ (Schmitz IBR 2023, 100) war indes zumindest voreilig, wie das aktuelle Urteil des IX. Zivilsenates zeigt. Mit diesem Urteil verlagert der IX. Zivilsenat die Lösung der Problematik auf eine andere Ebene. Zentral ist die Aussage des Urteils: „Die Wirksamkeit der insolvenzabhängigen Lösungsklausel des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VOB/B und der Bestimmung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B in Bezug auf §§ 103, 119 InsO sowie auf § 307 Abs. 1, 2 BGB ist von der vorliegend zu entscheidenden Frage der Anfechtbarkeit der Herstellung der Aufrechnungslage zu trennen. Die insolvenzrechtliche Unwirksamkeit ergreift nur die gläubigerbenachteiligende Wirkung der Herstellung der Aufrechnungslage, nicht jedoch das Grundgeschäft (hier: die Kündigung).“ (BGH, Urteil vom 19. Oktober 2023 – IX ZR 249/22 –, Rn. 10). Das Ergebnis – die Unwirksamkeit der Aufrechnung – überzeugt, weil durch die Zulassung der Aufrechnung eine Privilegierung des Aufrechnungsgläubigers eintreten würde, dessen Gegenforderung in voller Höhe berücksichtigt würde, während die anderen Gläubiger des Schuldners Befriedigung nur in Höhe der Insolvenzquote erfahren. Durch die Zulassung der Aufrechnung würde der insolvenzrechtliche Grundsatz der par conditio creditorum verletzt.

Auswirkungen für die Praxis

Die zur Aufrechnung gestellte Forderung entstammte einem anderen - ebenfalls mit dem Schreiben vom 9. März 2018 gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B außerordentlich fristlos gekündigten - Vertragsverhältnis der Parteien (Rn. 1). Die Anfechtbarkeit der Aufrechnung muss aber ebenso eintreten, wenn die zur Aufrechnung gestellte Forderung aus demselben Vertragsverhältnis entstammt, aus dem der Verwalten Ansprüche geltend macht. Jedoch tritt dann eine andere Frage auf, die sich bei unterschiedlichen Vertragsverhältnissen nicht stellt. Denn der VII. Zivilsenat hat noch zur Gesamtvollstreckungsordnung entschieden, dass es an einer Gläubigerbenachteiligung fehle, wenn die Kündigung des Bestellers dazu führe, dass dessen Schadensersatzanspruch durchsetzbar entstanden, sie andererseits aber auch notwendige Voraussetzung für die Fälligkeit der Werklohnforderung des Schuldners gewesen sei (BGH, Urteil vom 23. Juni 2005 – VII ZR 197/03 –, Rn. 27). Diese Rechtsprechung ist in ihren wesentlichen Aussagen auf die InsO übertragbar (Dziesiaty, jurisPR-InsR 2/2006 Anm. 3). Der IX. Zivilsenat lässt zunächst ausdrücklich dahinstehen, ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, was wohl als Hinweis des IX. Zivilsenats dahin zu werten ist, dass er die Auffassung der VII. ZS nicht teilt. Eine Anfrage an den VII. Zivilsenat gemäß § 132 Abs. 3 GVG brauchte der IX. Zivilsenat aber nicht zu stellen, weil die Rechtsprechung des VII. Zivilsenats jedenfalls nicht den Fall betrifft, dass die einander aufrechenbar gegenüberstehenden Forderungen aus unterschiedlichen Verträgen stammen. Im Streitfall folgen die Gegenforderungen aus einem anderen Vertragsverhältnis, dessen außerordentlich fristlose Kündigung auf die Fälligkeit der Hauptforderung des Schuldners keinen Einfluss hatte (BGH, Urteil vom 19. Oktober 2023 – IX ZR 249/22 –, Rn. 15).  

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