BGH: Zur eigenen Sachkunde des Gerichts

4.1.2024
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  1. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag.  
  1. Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen.

BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – VII ZR 17/23

Problemstellung

Der VII. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob ein Gericht aufgrund langjähriger Erfahrung die Qualität planerischer Leistungen eines Architekten (Vollständigkeit einer Ausführungsplanung) von sich aus beurteilen darf oder ob es ein Sachverständigengutachten einholen muss.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger verlangt von der Beklagten Architektenhonorar nach den Mindestsätzen der HOAI. Die Beklagte erwarb im Jahr 2013 ein Grundstück, auf dem sich ein als Bürogebäude genutztes Hochhaus und eine Tiefgarage befanden. Der Kläger erbrachte im Einzelnen streitige Planungsleistungen für den auf dem Grundstück vorgesehenen Neu- und Umbau des Gebäudes und zwar für die Teilprojekte: Neubau eines Wohngebäudes für studentisches Wohnen (TP 1), Umbau eines 11-geschoßigen Stahlbetonskelettbaus zum Wohngebäude (TP 2), die Errichtung einer Tiefgarage unter Nutzung von Bestandskellerkonstruktionen (TP 3), die Erstellung von Außenanlagen (TP 4) und die Errichtung von Ingenieurbauwerken außerhalb des Gebäudes, befestigte Straßen und Wege (TP 5). Der Kläger hat vorgetragen, die Beklagte habe ihn mündlich mit der Erbringung der Grundlagenleistungen der Leistungsphasen 1 bis 4 der HOAI (2013) für alle Teilprojekte beauftragt. Anlässlich der Unterzeichnung des zwischen der Beklagten und der O. GmbH geschlossenen Generalunternehmervertrags am 22. September 2015 sei ihm mündlich auch die Ausführungsplanung (Grundleistungen der Leistungsphase 5) für die Teilprojekte 1 und 3 mit der Maßgabe übertragen worden, die erforderlichen Pläne an die Generalunternehmerin zu senden. Eine gesonderte Honorarvereinbarung sei nicht getroffen worden. Mit der letzten korrigierten Honorarrechnung vom 17. März 2019 machte der Kläger unter Zugrundelegung der Mindestsätze der HOAI (2013) und Anrechnung geleisteter Abschlagszahlungen ein Honorar in Höhe von 442.117,55 € brutto nebst Zinsen geltend. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht die Beklagte zur Zahlung von 308.231,15 € nebst Zinsen verurteilt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung des Klägers zurückgewiesen.  

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Berufungsurteil aufgehoben, als zum Nachteil des Klägers entschieden worden ist. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dem Kläger stehe ein Anspruch auf Zahlung eines Honorars nach den Mindestsätzen für erbrachte Grundleistungen der Leistungsphasen 1 bis 4 der HOAI (2013) in Höhe von 281.659,31 € brutto zu. Er habe zudem einen Anspruch auf eine weitere Vergütung in Höhe von 26.571,84 € brutto für Teilleistungen, die er im Rahmen der Ausführungsplanung in der Leistungsphase 5 bei den Teilprojekten 1 und 3 erbracht habe. Soweit der Kläger ein nach den Mindestsätzen berechnetes Honorar für die Erbringung der Grundleistungen der Leistungsphase 5 bei den Teilprojekten 1 bis 3 beanspruche, sei es ihm nicht gelungen, darzulegen und zu beweisen, dass er von den Beklagten in diesem Umfang konkludent beauftragt worden sei. Er habe zwar vorgetragen und durch Vorlage entsprechender Dokumente unter Beweis gestellt, dass er die vollständigen Grundleistungen der Leistungsphase 5 (Ausführungsplanung) für die Teilprojekte 1 und 3 erbracht und hierüber die Beklagte fortlaufend unterrichtet habe. Damit habe der Kläger eine Entgegennahme der Architektenleistung durch die Beklagte behauptet. Allerdings werde aus den von ihm vorgelegten Unterlagen (Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen) nicht deutlich, dass es sich dabei um eine vollständige Ausführungsplanung mit allen für die Ausführung notwendigen Einzelangaben (zeichnerisch und textlich) auf der Grundlage der Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis zur ausführungsreifen Lösung als Grundlage für die weiteren Leistungsphasen handele. Es fehle der Nachweis, dass die von dem Kläger für die Leistungsphase 5 erstellten Ausführungspläne so detailliert ausgearbeitet und vermessen seien, dass aus den Zeichnungen die Mengen und Massen hätten ermittelt werden können, um damit die jeweiligen Bauleistungen umsetzen zu können. Diese Beurteilung sei dem Berufungsgericht aufgrund eigener Sachkunde möglich, weshalb es der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht bedürfe.    

Mit dieser Begründung verletzt das Berufungsgericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe einen konkludenten Vertragsschluss über die Erbringung der Grundleistungen der Leistungsphase 5 für die Teilprojekte 1 und 3 nicht nachgewiesen, beruht auf einer unzureichenden Sachaufklärung (§ 286 ZPO), die zugleich das rechtliche Gehör des Klägers verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG). Zwar handelt es sich bei der Frage, in welchem Umfang der Kläger mit der Erbringung der Grundleistungen der Leistungsphase 5 beauftragt wurde, um eine vom Berufungsgericht vorzunehmende Rechtsprüfung. Für die Würdigung der Gesamtumstände war für das Berufungsgericht allerdings von Bedeutung, ob der Kläger die vollständigen Grundleistungen der Leistungsphase 5 (Ausführungsplanung) für die Teilprojekte 1 und 3 erbracht hat. Diese Beurteilung betrifft eine Fachwissen voraussetzende Frage, deren Klärung einem Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zugänglich ist. Dies folgt aus den verwendeten fachsprachlichen Begriffen, aus dem Erfordernis der "notwendigen zeichnerischen und textlichen Einzelangaben", aus der vorgeschriebenen Gestaltung der Zeichnungen nach "Art und Größe des Objekts im erforderlichen Umfang und dem Detaillierungsgrad unter Berücksichtigung aller fachspezifischen Anforderungen", sowie aus der Koordinations- und Integrationspflicht, deren Erfüllung Kenntnisse der beteiligten Gewerke voraussetzt. Das Berufungsgericht hat sich gehörswidrig über den Antrag des Klägers auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob er die Grundleistungen der Leistungsphase 5 erbracht hat, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag. Das Berufungsgericht durfte den Beweisantrag auf Einholung des nicht unter Hinweis auf eine eigene Sachkunde ablehnen. Es hat keine Sachkunde aufzuweisen vermocht, die es zur Beurteilung befähigen könnte, ob die für das Bauobjekt vorgelegten Pläne den technischen Anforderungen genügen, die an die in der Leistungsphase 5 zu erbringende Ausführungsplanung zu stellen sind. Allein eine längere Tätigkeit in einem Bausenat kann nicht ohne weiteres zuverlässige Kenntnisse über das - für die Prüfung der vorgelegten Ausführungsplanung auf Vollständigkeit - erforderliche bautechnische Fachwissen verschaffen.

Das Berufungsgericht hat zudem den Parteien keinen dokumentierten Hinweis erteilt, dass es die Frage nach der Vollständigkeit der erbrachten Leistungen aufgrund eigener Sachkunde entscheiden will. Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung hat es den Parteien gehörswidrig keine Gelegenheit gegeben, zu den Grundlagen seiner Sachkunde Stellung zu nehmen. Vielmehr hat das Berufungsgericht - ohne Gewährung der von dem Kläger beantragten Frist zur schriftlichen Stellungnahme - die angefochtene Entscheidung nach Wiederaufruf der Sache am Ende des Sitzungstags verkündet (§ 310 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 ZPO).  

Ein weiterer Gehörsverstoß des Berufungsgerichts ist in der fehlenden Einräumung der Gelegenheit zur Stellungnahme auf den in der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2022 erteilten Hinweis zu sehen, wonach die vom Kläger vorgelegten Planungsleistungen den Anforderungen, die an die Grundleistungen der Leistungsphase 5 zu stellen seien, nicht genügen. Neben der Erteilung eines Hinweises auf die geänderte rechtliche Einschätzung hätte das Berufungsgericht dem Kläger Gelegenheit geben müssen, auf den für ihn überraschenden Hinweis zu reagieren und seinen Tatsachenvortrag zu ergänzen. Nur auf diese Weise wäre das rechtliche Gehör des Klägers, zu dem neuen rechtlichen Gesichtspunkt Stellung nehmen zu können, gewahrt worden. Stattdessen hat das Berufungsgericht gehörswidrig seinen Antrag zur Stellungnahme auf den Hinweis abgelehnt und nach Schluss der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung erlassen. Auf den Verletzungen des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör beruht das angefochtene Urteil. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei gebotener Berücksichtigung der aufgezeigten Gesichtspunkte zu einem für ihn günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

Kontext der Entscheidung

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH darf der Richter, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen. Dies gilt auch, wenn der Tatrichter auf ein Sachverständigengutachten verzichten will, weil er es auf Grundlage eigener Sachkunde für ungeeignet hält (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17 –, Rn. 16, mwN.). Verfahrensfehlerhaft ist es, den Parteien keine Gelegenheit  zu geben hat, zu der beanspruchten Sachkunde Stellung zu nehmen. Auch bei der Überzeugungsbildung muss das Gericht  die entsprechende Sachkunde ausweisen müssen. Auch längere Tätigkeit in einem Bausenat verschafft nicht ohne weiteres zuverlässige Kenntnisse über eine seltene Spezialkonstruktion im Brückenbau (BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 – VII ZR 231/95 –, Rn. 8 - 9). An diesen Grundsätzen hat auch die obligatorische Einführung von Spruchkörpern für Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen sowie aus Ingenieurverträgen, soweit sie im Zusammenhang mit Bauleistungen stehen, gemäß § 72a Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 119a Abs. 1 Nr. 2 GVG nichts geändert.

Auswirkungen für die Praxis

Besondere Anforderungen stellt die Rechtsprechung an den Vortrag der beweisbelasteten Partei in der Berufungsinstanz, wenn das Gericht verfahrensrechtswidrig eine Beweisaufnahme ablehnt. Hält das Berufungsgericht den Vortrag der beweisbelasteten Partei für „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt und lehnt es deshalb die beantragte Beweiserhebung als Ausforschungsbeweis ab, muss die betroffene Partei das Gericht auf von ihm bislang nicht beachteten höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätze zur Substantiierung von Beweisbehauptungen hinweisen. Danach kommt die Zurückweisung einer beantragten Zeugenvernehmung wegen Ungeeignetheit des Beweismittels nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass diese Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann; weder die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache noch die Unwahrscheinlichkeit der Wahrnehmung der Tatsache durch den benannten Zeugen berechtigen den Tatrichter schon dazu, von der Beweisaufnahme abzusehen (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2018 – XII ZR 99/17). Unterlässt die betroffene Partei diese „Aufklärung“ des Gerichts, kommt eine Zulassung der Revision wegen des dem Berufungsgericht unterlaufenen Gehörsverstoßes nicht in Betracht, wenn es die Partei versäumt hat, im Rahmen der ihr eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken. Eine Partei ist in der Revisionsinstanz dann wegen des allgemeinen Grundsatzes der Subsidiarität daran gehindert, die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung geltend zu machen (BGH, Beschl. v. 28.01.2020 - VIII ZR 57/19; kritisch dazu: L. Jaeger, jM 2020, 280).

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