BGH: Zur Zulassungsprüfung der Berufung

13.12.2023
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1. Das Berufungsgericht muss vor Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Beschwer eine Zulassungsprüfung nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen ist, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen hat.

2. Ein Grund für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO wegen einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes liegt in der Unterlassung einer gebotenen Nachholung der Entscheidung über die Zulassung der Berufung nur, wenn ein Grund für die Zulassung der Berufung vorliegt.

BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZB 72/22

Problemstellung

Wird die Berufung vom Berufungsgericht als unzulässig verworfen, weil sie an sich nicht statthaft oder nicht in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist, findet gegen den Verwerfungsbeschluss die Rechtsbeschwerde statt, wie § 522 Abs. 1 Satz 3 ZPO bestimmt. War das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und hatte deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen, und hatte das Berufungsgericht die Zulassungsprüfung auch nicht nachgeholt, fragt sich, ob in diesem Fall die Rechtsbeschwerde auch ohne Zulassungsgrund iSd. § 574 Abs. 2 ZPO zulässig ist.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Amtsgericht hat den Beklagten verurteilt, es zu unterlassen, den Pkw des Klägers zu verkratzen. Der Beklagte hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das Landgericht hat den Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren auf bis zu 300 € festgesetzt und die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € nicht übersteige und das Amtsgericht die Berufung auch nicht zugelassen habe.      

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten ist unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Entgegen der Ansicht des Beklagten ergibt sich ihre Zulässigkeit nicht aus § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordern würde. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, ist der angefochtene Beschluss nicht schon deshalb aufzuheben, weil er nicht ausreichend mit Gründen versehen ist. Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben sowie den Streitgegenstand und die Anträge in beiden Instanzen erkennen lassen. Anderenfalls sind sie nicht mit den nach dem Gesetz (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 6 ZPO) erforderlichen Gründen versehen und bereits deshalb wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangels aufzuheben. Das Rechtsbeschwerdegericht hat grundsätzlich von dem Sachverhalt auszugehen, den das Berufungsgericht festgestellt hat (§ 577 Abs. 2 Satz 1 und 4, § 559 ZPO). Enthält der angefochtene Beschluss keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen, ist das Rechtsbeschwerdegericht zu einer rechtlichen Überprüfung nicht in der Lage. Dies gilt auch, wenn das Berufungsgericht die Berufung verwirft, weil die Berufungssumme nicht erreicht sei. Denn die Wertfestsetzung kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht die Grenzen des ihm von § 3 ZPO eingeräumten Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hat. Eine Sachdarstellung ist lediglich dann ausnahmsweise entbehrlich, wenn sich der maßgebliche Sachverhalt und das Rechtsschutzziel noch mit hinreichender Deutlichkeit aus den Beschlussgründen ergeben. Letzteres ist der Fall. Obgleich der Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts eine Sachdarstellung nicht enthält, ergibt sich aus dessen Gründen in Verbindung mit dem in Bezug genommenen Hinweisbeschluss, dass der Beklagte zur Unterlassung einer Beschädigung des Pkw des Klägers verurteilt wurde und sich hiergegen in vollem Umfang mit seiner Berufung wendet.

Entgegen der Ansicht des Beklagten verletzt die Entscheidung des Berufungsgerichts ihn auch nicht in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, weil das Berufungsgericht keine eigene Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hat. Allerdings muss das Berufungsgericht vor Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Beschwer eine Zulassungsprüfung nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen ist, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 € übersteigt, und deswegen keine Prüfung der Zulassung der Berufung vorgenommen hat. Es kann dahinstehen, ob hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Amtsgericht von einer 600 € übersteigenden Beschwer des Beklagten ausgegangen ist, so dass das Berufungsgericht die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nach den genannten Grundsätzen hätte nachholen müssen. Denn eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu der an sich gegebenen Berufung und damit ein Grund für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung iSv. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO wegen einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes liegt in der Unterlassung einer gebotenen Nachholung der Entscheidung über die Zulassung der Berufung nur, wenn ein Grund für die Zulassung der Berufung vorliegt. Dass dies der Fall wäre, macht die Rechtsbeschwerde jedoch nicht geltend. Sie beanstandet lediglich, dass das Berufungsgericht keine Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hat. Der Beklagte bringt auch nicht vor, das Berufungsgericht habe ihm den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung dadurch unzumutbar erschwert, dass es bei der Bemessung der Höhe seiner Beschwer durch das amtsgerichtliche Urteil die Grenzen seines insoweit bestehenden Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hätte. Ein Verstoß des Berufungsgerichts gegen das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes ist daher nicht schlüssig dargelegt.

Kontext der Entscheidung

Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BGH, dass für die durch gesetzliche Zulassung statthafte Rechtsbeschwerde das Vorliegen eines Zulassungsgrundes iSv 577 Abs. 2 ZPO zusätzliche Zulässigkeitsvoraussetzung ist. Dabei stimmen die Zulassungsgründe des § 577 Abs. 2 ZPO mit den Gründen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO überein (Feskorn in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 574 Rn. 8 – 9 mwN.). Die Prüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht entfällt auch dann nicht, wenn die Rechtsbeschwerde – unzutreffend – zugelassen worden ist. Entsprechender Vortrag wird nicht etwa dadurch entbehrlich, dass das Berufungsgericht die Rechtsbeschwerde in seiner Entscheidung zugelassen hat. Denn die Zulassung einer ohnehin kraft Gesetzes statthaften Rechtsbeschwerde entbehrt einer gesetzlichen Grundlage und entfaltet deshalb auch keine Bindungswirkung für das Rechtsbeschwerdegericht (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2005 – XII ZB 110/03 –, Rn. 9). Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat und deswegen von einem entsprechenden Wert der Beschwer der unterlegenen Partei ausgegangen ist, hält aber das Berufungsgericht diesen Wert nicht für erreicht, so muss das Berufungsgericht, das insoweit nicht an die Streitwertfestsetzung des Erstgerichts gebunden ist, die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind. Denn die unterschiedliche Bewertung darf nicht zu Lasten der Partei gehen (BGH, Beschluss vom 3. Juni 2008 – VIII ZB 101/07 –, Rn. 5).

Auswirkungen für die Praxis

Gegen Verwerfungsbeschlüsse nach § 522 Abs. 1 ZPO ist stets die Rechtsbeschwerde statthaft. Wird die Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen, weil sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre (§ 522 Abs. 3 ZPO). Der Beschluss ist somit wie eine Entscheidung durch Urteil mit der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar, soweit diese nicht mangels ausreichender Beschwer ausgeschlossen ist. Das statthafte Rechtsmittel ist die Nichtzulassungsbeschwerde, weil die Revisionszulassungsgründe nach § 543 ZPO aus der Sicht des Berufungsgerichts nicht vorliegen können, denknotwendig also eine Revisionszulassung ausscheidet (Heßler in Zöller, ZPO, 35 Aufl. 2024, § 522 Rn. 44 mwN.). Hat das Berufungsgericht jedoch die Berufung durch Urteil als unzulässig verworfen, ist gemäß § 544 Abs. 2 ZPO die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben, und zwar unabhängig vom Streitwert.

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