BGH: Anforderungen an Fristwahrung
1. Das Verschulden des Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigten einer Partei oder eines Beteiligten an einer Fristversäumung kann nur bei einem anderweitigen - der Partei oder dem Beteiligten nicht zuzurechnenden - Ereignis entfallen, das ursächlich für die Fristversäumung geworden ist.
2. Die Versäumung einer Mitteilung des Aktenzeichens des Beschwerdeverfahrens durch das Beschwerdegericht entbindet den Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers nicht von der Verpflichtung zur Einreichung der Beschwerdebegründung beim Beschwerdegericht.
BGH, Beschluss vom 20. August 2025 – XII ZB 69/25
A. Problemstellung
Der XII. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob einer Partei Wiedereinsetzung gegen den Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist zu gewähren ist, wenn ihr Bevollmächtigter die Rechtsmittelbegründung verfahrensrechtswidrig beim Ausgangsgericht eingereicht hat, weil ihm das Aktenzeichen des Rechtsmittelverfahrens nicht mitgeteilt worden war.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Amtsgericht hat den Antragsgegner mit am 5. September 2024 zugestelltem Beschluss zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet. Hiergegen hat der Antragsgegner fristgerecht beim AG Beschwerde eingelegt. Mit an das AG gerichtetem Schriftsatz vom 5. November 2024 hat der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners die Beschwerde begründet. Die vom AG weitergeleitete Beschwerdebegründung ist am 6. November 2024 beim OLG eingegangen. Auf Hinweis des OLG hat der Antragsgegner sodann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist beantragt und zur Begründung ausgeführt, sein Verfahrensbevollmächtigter habe vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist weder vom Beschwerdegericht eine Eingangsbestätigung und die Mitteilung eines Aktenzeichens erhalten noch habe das Amtsgericht eine Abgabemitteilung erteilt. Ohne Kenntnis des Aktenzeichens des Beschwerdeverfahrens, das ihm erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist mitgeteilt worden sei, habe keine formell korrekte und eindeutige Beschwerdebegründung abgefasst und beim OLG eingereicht werden können. Mangels gerichtlicher Information über den Fortgang des Verfahrens sei nur die Einreichung der Beschwerdebegründung beim AG erfolgversprechend gewesen. Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Beschwerde des Antragsgegners verworfen. Wiedereinsetzung könne nicht gewährt werden, weil den Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners ein diesem zuzurechnendes Verschulden an der Fristversäumung treffe, das darin liege, dass er die Beschwerdebegründung am Tag des Fristablaufs beim insoweit unzuständigen AG eingereicht habe. Der Verfahrensbevollmächtigte hätte sich beim Beschwerdegericht nach dem Aktenzeichen des Beschwerdeverfahrens erkundigen und die Beschwerdebegründungsschrift, die im Übrigen auch ohne Angabe des Aktenzeichens dem richtigen Verfahren hätte zugeordnet werden können, dort einreichen müssen. Jedenfalls hätte der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners die Beschwerdebegründungsschrift unter den gegebenen Umständen so frühzeitig dem AG zuleiten müssen, dass dieses den Schriftsatz noch rechtzeitig vor Fristablauf im ordentlichen Geschäftsgang an das Beschwerdegericht hätte weiterleiten können. Schließlich hätte es nahegelegen, die Begründungsschrift zur Vermeidung einer Verfristung vorsorglich sowohl beim AG als auch beim Beschwerdegericht einzureichen.
Die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg. Das Beschwerdegericht hat zutreffend angenommen, dass die Beschwerdebegründung entgegen § 117 Abs. 1 Satz 2 und 3 FamFG nicht binnen zwei Monaten ab schriftlicher Bekanntgabe des angefochtenen Beschlusses beim Beschwerdegericht eingegangen ist. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde sind auch die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt. Denn der Antragsgegner hat die Beschwerdebegründungsfrist nicht unverschuldet versäumt. Vielmehr beruht das Versäumnis auf einem Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten, das er sich nach § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG iVm § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss. Das Beschwerdegericht hat zutreffend angenommen, dass den Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners ein Verschulden an der Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist trifft, weil dieser die Beschwerdebegründung am Tag des Fristablaufs beim - insoweit unzuständigen - AG und nicht bei dem hierfür zuständigen OLG eingereicht hat. Insbesondere entbindet eine - selbst unverschuldete - Unkenntnis des Aktenzeichens des Beschwerdeverfahrens den Verfahrensbevollmächtigten nicht von der sich aus § 117 Abs. 1 Satz 2 FamFG ergebenden Verpflichtung zur fristgerechten Einreichung der Beschwerdebegründung beim Beschwerdegericht. Schon deshalb kommt es auch nicht darauf an, dass es dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners nach der zutreffenden Auffassung des Beschwerdegerichts ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen wäre, das Aktenzeichen des Beschwerdeverfahrens beim Beschwerdegericht zu erfragen.
Mit ihrem Einwand, das Beschwerdegericht habe mit seinem Versäumnis, gleich nach Eingang der Verfahrensakten eine Eingangsmitteilung unter Angabe des Aktenzeichens des Beschwerdeverfahrens zu erteilen, die entscheidende Ursache für die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist gesetzt, hinter der ein etwaiges Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners zurücktrete, dringt die Rechtsbeschwerde ebenfalls nicht durch. Das Verschulden des Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigten einer Partei oder eines Beteiligten kann nur bei einem anderweitigen - der Partei oder dem Beteiligten nicht zuzurechnenden - Ereignis entfallen, das ursächlich für die Fristversäumung geworden ist. Dies ist bei der unterbliebenen Mitteilung des Aktenzeichens des Beschwerdeverfahrens durch das Beschwerdegericht nicht der Fall, weil die (auch unverschuldete) Unkenntnis des Aktenzeichens den Verfahrensbevollmächtigten nicht der Verpflichtung zur Einreichung der Beschwerdebegründungsschrift beim Beschwerdegericht enthebt.
C. Kontext der Entscheidung
Ein früheres Verschulden des Prozessbevollmächtigten einer Partei schließt die Wiedereinsetzung ausnahmsweise dann nicht aus, wenn seine rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, der Partei oder ihrem Vertreter nicht zuzurechnendes Ereignis entfällt (sogenannte "überholende Kausalität"). In einem solchen Fall tritt das mitursächliche Verschulden des Prozessbevollmächtigten einer Partei hinter eine wesentliche andere Ursache zurück und ist damit bei wertender Würdigung des Ursachenverlaufs die rechtliche Erheblichkeit des Anwaltsverschuldens zu verneinen (BGH, Beschluss vom 17.06.2025 – VIII ZB 54/24 –, Rn. 43, m.w.N.). Das ist etwa angenommen worden, wenn der Rechtsanwalt zwar schuldhaft einen Schriftsatz zu unterschreiben vergisst, dies aber rechtzeitig bemerkt worden wäre, wenn der Bürovorsteher es nicht unterlassen hätte, die ausgehende Post weisungsgemäß in dieser Hinsicht zu prüfen. Dieses Verschulden des Prozessbevollmächtigten schloss die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aus, weil der Prozessbevollmächtigte im Rahmen seiner Büroorganisation durch eine allgemeine Anweisung an seine Angestellten Vorsorge dafür getroffen hat, dass bei normalem Verlauf der Dinge die Berufungsbegründungsfrist – trotz seines Versehens – mit Sicherheit gewahrt worden wäre (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1984 – IVb ZB 103/84 –, Rn. 12, m.w.N.). Zu Recht stellt der Senat fest, dass ein Fall überholender Kausalität bei der unterbliebenen Mitteilung des Aktenzeichens des Beschwerdeverfahrens durch das Beschwerdegericht nicht vorliegt, weil die Unkenntnis des Aktenzeichens den Verfahrensbevollmächtigten nicht der Verpflichtung zur Einreichung der Beschwerdebegründungsschrift beim Beschwerdegericht enthebt (BGH, Beschluss vom 20. August 2025 – XII ZB 69/25 –, Rn. 12). Für die fristgemäße Einreichung der Beschwerdebegründung beim Beschwerdegericht war die Angabe des dortigen Aktenzeichens nicht nötig, wie sich aus der unter D. referierten Rechtsprechung ergibt, die dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners offenkundig nicht bekannt war.
D. Auswirkungen für die Praxis
Einem bestimmenden Schriftsatz muss zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren er eingereicht werden soll. Im Hinblick auf eine einzuhaltende Frist ist für den Eingang des Schriftsatzes und daher für die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch das Gericht allein entscheidend, ob der Schriftsatz vor Ablauf der Frist an das zur Entscheidung berufende Gericht gelangt ist. Unerheblich ist dagegen, ob der Schriftsatz durch ein falsches oder fehlendes Aktenzeichen nicht direkt in die für die Sache bereits angelegte Akte eingeordnet worden konnte. Denn die ZPO schreibt die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor (BGH, Beschluss vom 29.05.2024 – IV ZB 14/22). Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist. Dem Schriftsatz muss jedoch zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren er eingereicht werden soll (BGH, Beschl. v. 12.03.2024 - VI ZR 166/22 Rn. 13).
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