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12.12.2024
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BGH: Zur Bauunternehmerinsolvenz

Steht dem Besteller aufgrund von Voraus- oder Abschlagszahlungen aus einem Werkvertrag eine Insolvenzforderung zu, kann er die den Unternehmer treffende nebenvertragliche Pflicht, seine Leistungen in einer Schlussrechnung abzurechnen, nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Unternehmers im Insolvenzverfahren nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. In diesem Fall hat der Gläubiger seine Forderung auf Rückzahlung eines etwaigen Überschusses im Wege der Schätzung zur Tabelle anzumelden.

BGH, Urteil vom 7. November 2024 – IX ZR 179/23

  1. Problemstellung

Ob der Besteller nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Unternehmers vom Insolvenzverwalter Abrechnung von geleisteten Voraus- oder Abschlagszahlungen durch Erstellung einer prüffähigen Schlussrechnung verlangen kann, hatte der IX. Zivilsenat zu entscheiden.

  1. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin nimmt den Beklagten als Verwalter in einem Insolvenzverfahren auf Erteilung einer prüffähigen Schlussrechnung in Anspruch. Sie hatte den Schuldner, der als Einzelunternehmer ein Bauunternehmen betrieb, mit dem Ausbau des Dachspitzes ihres Hauses beauftragt. Der Ausbau sollte auf der Grundlage des Ausführungskonzepts des Schuldners, das weder Einheitspreise noch voraussichtliche Massen enthielt, zu einem Pauschalpreis von 120.999,77 € erfolgen. Eine Einbeziehung der VOB/B erfolgte nicht. Entsprechend der Vergütungsvereinbarung bezahlte die Klägerin im Juli 2021 einen ersten Teilbetrag von 40.333,25 € bei Auftragserteilung sowie im Oktober 2021 einen zweiten Teilbetrag von ebenfalls 40.333,25 €. Der Schuldner stellte seine im September 2021 begonnenen Arbeiten ab Mitte Dezember 2021 noch vor Fertigstellung des Ausbaus ein. Das Insolvenzgericht bestellte mit Beschluss vom 23. Februar 2022 den Beklagten zum vorläufigen Insolvenzverwalter. Dieser teilte der Klägerin am 15. März 2022 mit, dass das Unternehmen des Schuldners zum 28. Februar 2022 eingestellt worden sei und lehnte die Erfüllung des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags ab. Am 31. März 2022 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Die Erteilung einer Schlussrechnung für das Bauvorhaben lehnte der Beklagte im Mai 2022 ab und verwies die Klägerin an den Schuldner, der auf eine Anfrage der Klägerin nicht reagierte.

Die Klägerin behauptet, der Leistungsstand entspreche in keinem Fall dem Umfang der geleisteten Teilzahlungen. Das Landgericht hat den Beklagten als Insolvenzverwalter entsprechend dem Klageantrag verurteilt, eine prüffähige Schlussrechnung über die zur Erfüllung des Bauvertrags vom 28. Mai 2021 erbrachten Leistungen unter Berücksichtigung der geleisteten Teilzahlungen zu erstellen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Erteilung einer Schlussrechnung aus dem mit dem Schuldner geschlossenen Werkvertrag. Im Fall einer Kündigung des Werkvertrags aus wichtigem Grund nach § 648a BGB sei der Unternehmer nur berechtigt, die Vergütung zu verlangen, die auf den bis zur Kündigung erbrachten Teil des Werks entfalle; hieraus folge aus Treu und Glauben die Nebenpflicht des Werkunternehmers, die von ihm erbrachten Werkleistungen abzurechnen. Entsprechend habe der Besteller einen einklagbaren Anspruch auf Erteilung einer Schlussrechnung. Zwar habe der Beklagte den Werkvertrag mit der Klägerin nicht gekündigt; er habe aber nach § 103 Abs. 2 InsO die Erfüllung des Vertrags abgelehnt. Dies sei in seiner unmittelbaren Wirkung mit einer den Besteller zur außerordentlichen Kündigung nach § 648a Abs. 1 BGB berechtigenden Einstellung der Arbeiten durch den Werkunternehmer vergleichbar. Passivlegitimiert sei der Beklagte als Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners und nicht der Schuldner selbst. Der Übergang des Verwaltungs- und Verfügungsrechts nach § 80 Abs. 1 InsO beinhalte auch die Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Erteilung von Auskünften über solche Handlungen des Schuldners vor Insolvenzeröffnung, die den Bestand der Insolvenzmasse berührten. Um einen solchen Anspruch handele es sich im Streitfall. Die Klägerin beabsichtige - je nach Ergebnis der Auskunftserteilung - eine teilweise Rückforderung der von ihr auf die Abschlagsrechnungen des Schuldners geleisteten Zahlungen; derartige Rückforderungsansprüche wären als Insolvenzforderungen zur Tabelle anzumelden. Der Auskunftsanspruch der Klägerin folge damit aus einem vermögensrechtlichen Anspruch, der als Insolvenzforderung zur Tabelle anzumelden sei. Die Auskunftserteilung sei dem Beklagten auch zumutbar. Es gehöre zu den Aufgaben des Insolvenzverwalters, Unterlagen über Vorgänge vor Insolvenzeröffnung zu sichten, um die für die Verwaltung der Masse notwendigen Erkenntnisse zu gewinnen. Fehlten ihm die erforderlichen Informationen, könne er sich an den Schuldner wenden, der seinerseits nach §§ 97, 98 InsO zur Auskunft verpflichtet sei.  

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des erst- und zweitinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage. Das Berufungsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass dem Besteller nach Kündigung eines Werkvertrags aus wichtigem Grund ein Anspruch auf Erteilung einer Schlussrechnung gegen den Unternehmer zustehen kann, wenn die Parteien Voraus- oder Abschlagszahlungen des Bestellers vereinbart haben. Folge der Kündigung des Werkvertrags aus wichtigem Grund ist, dass der Unternehmer nur Anspruch auf die Vergütung hat, die auf den bis zur Kündigung erbrachten Teil des Werks entfällt (§ 648a Abs. 5 BGB). Für den Fall, dass die Parteien eines Werkvertrags Voraus- oder Abschlagszahlungen vereinbart haben, kann dem Besteller ein vertraglicher Anspruch auf Auszahlung des Überschusses zustehen, wenn sich ergibt, dass die Summe der geleisteten Voraus- oder Abschlagszahlungen die dem Unternehmer zustehende endgültige Vergütung übersteigt. Aus einer Vereinbarung über Voraus- oder Abschlagszahlungen folgt zugleich die vertragliche Verpflichtung des Unternehmers, seine Leistungen abzurechnen. Der Besteller hat ein berechtigtes Interesse daran, dass der Unternehmer die einzelnen Voraus- oder Abschlagszahlungen in einer Voraus- oder Abschlagsrechnung und die ihm nach einer Kündigung des Vertrags zustehende endgültige Vergütung unter Berücksichtigung der geleisteten Voraus- oder Abschlagszahlungen in einer endgültigen Rechnung abrechnet. Die Verpflichtung des Unternehmers, dem Besteller die genannten Rechnungen zu erteilen, folgt aus dem vorläufigen Charakter der Voraus- oder Abschlagszahlungen und besteht unabhängig davon, ob sie im Vertrag ausdrücklich geregelt ist. Dies gilt auch bei vorzeitiger Beendigung eines Pauschalvertrags. Zur Abrechnung eines vorzeitig beendeten Pauschalpreisvertrags hat der Unternehmer die erbrachten Leistungen vorzutragen, diese von dem nicht ausgeführten Teil abzugrenzen und das Verhältnis der bewirkten Leistungen zur vereinbarten Gesamtleistung sowie des Preisansatzes für die Teilleistung zum Pauschalpreis darzulegen. Die Abrechnung muss auf der Grundlage des Vertrags erfolgen und den Besteller in die Lage versetzen, sich hierzu sachgerecht zu verhalten.  

Es kann offenbleiben, ob der Klägerin im Streitfall ein Auskunftsanspruch dem Grunde nach zusteht. In der Insolvenz des Unternehmers kann der Besteller vom Insolvenzverwalter nicht die Erfüllung seines nebenvertraglichen Anspruchs auf Erteilung einer Schlussrechnung verlangen, solange weder der Besteller die Hauptforderung zur Tabelle angemeldet hat noch der Anmeldung widersprochen worden ist. Allerdings ist der Insolvenzverwalter ist gegenüber dem Aussonderungs- oder Absonderungsberechtigten zur Erteilung einer Auskunft verpflichtet, welche die Verfolgung eines auf Handlungen des Gemeinschuldners beruhenden Anspruchs vorbereiten soll, wenn der Hauptanspruch die Insolvenzmasse berührt und gegen den Insolvenzverwalter geltend zu machen ist. Die aufgrund einer nebenvertraglichen Pflicht zu erteilende Auskunft dient vielmehr der Vorbereitung eines Aussonderungs- oder Absonderungsrechts, welches gegen die Insolvenzmasse geltend zu machen ist. Auch prozessuale Erwägungen sprechen dafür, dass sich die Pflicht zur Auskunftserteilung gegen den Insolvenzverwalter richtet. Eine prozesswirtschaftlich sinnvolle Verbindung des Anspruchs auf Auskunft oder Rechnungslegung im Wege der Stufenklage nach § 254 ZPO mit dem Leistungsanspruch ist nur dann jederzeit gewährleistet, wenn sich sowohl der Auskunfts- oder Rechnungslegungsanspruch als auch der Leistungsanspruch gegen dieselbe Person richten. Immer dann, wenn der Hauptanspruch gegen den Insolvenzverwalter zu verfolgen ist, richtet sich auch der Anspruch auf Auskunftserteilung, weil er das rechtliche Schicksal des Hauptanspruchs teilt, gegen den Insolvenzverwalter. Der Aussonderungs- oder Absonderungsberechtigte kann deshalb seinen Anspruch auf Auskunftserteilung in gleicher Weise wie sein Aussonderungs- oder Absonderungsrecht gegen den Insolvenzverwalter durchsetzen.    

Im Streitfall dient der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung einer Schlussrechnung jedoch nicht der Vorbereitung und Durchsetzung eines Aussonderungs- oder Absonderungsrechts oder einer Masseforderung der Klägerin. Nach der fristlosen Kündigung des Werkvertrags kann der Klägerin ein Anspruch auf Auszahlung eines Überschusses gegen den Schuldner zustehen, wenn die Summe der von ihr geleisteten Voraus- oder Abschlagszahlungen die dem Schuldner zustehende endgültige Vergütung übersteigt. Dieser Anspruch stellt gemäß § 38 InsO eine Insolvenzforderung und keine Masseverbindlichkeit dar. Der Anspruch auf Auszahlung eines Überschusses wird nicht erst durch eine Handlung des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung der Insolvenzmasse begründet, wenn der Insolvenzverwalter die Nichterfüllung des gegenseitigen Vertrags nach § 103 Abs. 2 InsO wählt. Er ist vielmehr bereits im Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalpreisvertrags angelegt. Insolvenzforderungen können gemäß § 87 InsO nur nach den Vorschriften der Insolvenzordnung durchgesetzt werden. Hierfür sehen die §§ 174 ff InsO eine Anmeldung der Insolvenzforderungen beim Insolvenzverwalter vor, wobei die Insolvenzforderung vom anmeldenden Gläubiger zu beziffern ist (§ 174 Abs. 2 InsO). Ob die Erfüllung eines nebenvertraglichen Rechnungslegungs- oder Auskunftsanspruchs, der die Anmeldung der Insolvenzforderung zur Tabelle vorbereiten und ermöglichen soll, vom Insolvenzverwalter verlangt werden kann, ist noch nicht abschließend geklärt. Der Senat entscheidet die Frage dahingehend, dass vom Insolvenzverwalter nicht die Erfüllung eines nebenvertraglichen Anspruchs auf Erteilung einer Auskunft oder Schlussrechnung verlangt werden kann, solange weder der Besteller die Hauptforderung zur Tabelle angemeldet hat noch der Anmeldung widersprochen worden ist. Nach §§ 87, 174 ff InsO können Insolvenzforderungen nur durch Anmeldung zur Insolvenztabelle durchgesetzt werden. Schon im Ausgangspunkt liegt nahe, dass ein nebenvertraglicher Anspruch, welcher die Geltendmachung der Hauptforderung vorbereiten und ermöglichen soll, deren rechtliches Schicksal teilt. Ebenso wie der Gläubiger vom Insolvenzverwalter nicht die Erfüllung seiner Insolvenzforderung aus der Masse verlangen kann, sondern auf die Anmeldung zur Tabelle verwiesen wird, kann er ohne Anmeldung der Insolvenzforderung nicht die Erfüllung seines nebenvertraglichen Anspruchs auf Erteilung einer Schlussrechnung oder Auskunft verlangen. Für dieses Ergebnis spricht im Fall eines zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Schuldner oder vom anderen Teil nicht oder nicht vollständig erfüllten gegenseitigen Vertrags auch die Regelung des § 103 Abs. 2 Satz 1 InsO. Lehnt der Insolvenzverwalter die Erfüllung des Vertrags ab, kann der andere Teil eine Schadensersatzforderung wegen Nichterfüllung des Vertrags nur als Insolvenzforderung geltend machen. Nach der Erfüllungsablehnung ist der Insolvenzverwalter nicht mehr zur Erfüllung der fortbestehenden gegenseitigen Ansprüche verpflichtet.  

Auch ohne vorherige Erteilung einer Auskunft oder Abrechnung durch den Schuldner oder Insolvenzverwalter, die ihm eine Bezifferung seiner Insolvenzforderung ermöglicht, steht dem Gläubiger über § 45 Satz 1 InsO ein prozessökonomischer und kostengünstiger Weg zur effizienten Abwicklung von Insolvenzforderungen offen. Nach § 45 Satz 1 Variante 2 InsO sind Forderungen, deren Geldbetrag unbestimmt ist, mit dem Wert geltend zu machen, der für die Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschätzt werden kann. Die Vorschrift ist auch anwendbar, wenn die genaue Bezifferung der Forderung von einer Auskunft oder Abrechnung durch den Schuldner abhängt, welche nicht erteilt wird. Die Schätzung ist grundsätzlich Sache des anmeldenden Gläubigers. Besondere Anforderungen sind bei einer Schätzung der Forderung durch den Gläubiger, der einen nebenvertraglichen Anspruch auf Erteilung einer Schlussrechnung oder Auskunft hat, aber nicht zu stellen. Insbesondere ist er nicht zur eigenen Erstellung einer Schlussrechnung oder Auskunft oder zur Einholung eines Sachverständigengutachtens verpflichtet. Andernfalls würde dem Gläubiger die Erstellung einer Schlussrechnung oder Auskunft auferlegt, auf deren Erteilung er nach materiellem Recht einen Anspruch hat.      

Bezogen auf die im Streitfall gegebene Kündigung eines Werkvertrags bei Vereinbarung von Voraus- oder Abschlagszahlungen stellt sich die Rechtslage ohne Eintritt der Insolvenz auf Seiten des Unternehmers wie folgt dar: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat der Besteller im Prozess zwischen Besteller und Unternehmer über die Rückforderung einer Werklohnvorauszahlung, wenn der Unternehmer Leistungen erbracht hat, zur Begründung des vertraglichen Rückforderungsanspruchs schlüssig die Voraussetzungen eines Saldoüberschusses aus einer Schlussrechnung vorzutragen. Ausreichend ist eine Abrechnung, aus der sich ergibt, in welcher Höhe der Besteller Voraus- und Abschlagszahlungen geleistet hat und dass diesen Zahlungen ein entsprechender endgültiger Vergütungsanspruch des Unternehmers nicht gegenübersteht. Der Besteller kann sich auf den Vortrag beschränken, der bei zumutbarer Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden Quellen seinem Kenntnisstand entspricht. Hat der Besteller nach diesen Grundsätzen ausreichend vorgetragen, muss der Unternehmer darlegen und beweisen, dass er berechtigt ist, die Voraus- und Abschlagszahlungen endgültig zu behalten (BGH, Urteil vom 11. Juli 2024 - VII ZR 127/23, Rn. 18 mwN). An dieser materiell-rechtlichen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast ändert die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nichts. Bei der Schätzung seiner Forderung auf Rückzahlung eines etwaigen Überschusses kann sich der Besteller auf die ihm zur Verfügung stehenden Kenntnisse beschränken. Es ist dann Aufgabe des Insolvenzverwalters substantiiert darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass der Schuldner bereits Leistungen in einem Umfang erbracht hat, welche den erhaltenen Vorauszahlungen entsprechen.  

  1. Kontext der Entscheidung

Nach ständiger Rechtsprechung des für das Werkvertragsrecht zuständigen VII. Zivilsenats muss der Besteller, der eine Werklohnvorauszahlung zurückfordert, nachdem der Unternehmer Leistungen erbracht hat, schlüssig die Voraussetzungen eines Saldoüberschusses aus einer Schlussabrechnung vortragen. Ausreichend ist eine Abrechnung, aus der sich ergibt, in welcher Höhe der Besteller Voraus- und Abschlagszahlungen geleistet hat und dass diesen Zahlungen ein entsprechender endgültiger Vergütungsanspruch des Unternehmers nicht gegenübersteht. Der Besteller kann sich auf den Vortrag beschränken, der bei zumutbarer Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden Quellen seinem Kenntnisstand entspricht. Hat der Besteller nach diesen Grundsätzen ausreichend vorgetragen, muss der Unternehmer darlegen und beweisen, dass er berechtigt ist, die Voraus- und Abschlagszahlungen endgültig zu behalten. Welcher Vortrag vom Besteller im Fall der Abrechnung eines gekündigten Pauschalpreisvertrags ohne Detailpreisverzeichnis unter zumutbarer Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden Quellen verlangt werden kann, um eine Werklohnvorauszahlung zurückzufordern, richtet sich nach den Gesamtumständen, insbesondere nach dem Inhalt des Vertrags und vorvertraglicher Absprachen. Kennt der Besteller die Kalkulation des Unternehmers nicht und kann er nicht aufgrund anderer Umstände das vertragliche Preisniveau darstellen, obliegt dem Unternehmer insoweit die Darlegungslast (grundlegend: BGH, Urt. v. 11.02.1999 - VII ZR 399/97 Rn. 27 - 30, zum VOB/B-Vertrag). Haben die Vertragsparteien eine Pauschalvergütungsvereinbarung ohne Detailpreisverzeichnis geschlossen und hat der Besteller auch ansonsten keine Kenntnis von der dieser Vereinbarung zugrundeliegenden Kalkulation des Unternehmers, kann von ihm nicht verlangt werden, zu dem Vertragspreisniveau der zu bewertenden Einzelleistungen des Bauvertrages vorzutragen (BGH, Urteil vom 11. Juli 2024 – VII ZR 127/23  Rn. 24). Er genügt seiner Darlegungslast auf jeden Fall mit der Ermittlung der Preise nach Marktpreisniveau. Es ist dann Sache des Unternehmers, davon abweichende Preisannahmen seiner Kalkulation darzulegen.

  1. Auswirkungen für die Praxis

Der Senat erteilt ausführliche Hinweise zu der richtigen Vorgehensweise des Gläubigers (BGH, Urteil vom 7. November 2024 – IX ZR 179/23 –, Rn. 29 – 33). Danach ist die Anmeldung der Insolvenzforderung nach Schätzung durch den Gläubiger für diesen im Fall eines gegebenenfalls erfolgenden Widerspruchs nicht mit besonderen Kostenrisiken verbunden. Widerspricht der Insolvenzverwalter der angemeldeten, geschätzten Forderung, ist er zum einen auf Grund der materiell-rechtlich bestehenden Auskunfts- und Rechnungslegungspflicht und zum anderen aus Gründen des materiellen Rechts gehalten, die von ihm für berechtigt gehaltene Forderung in einer substantiierten Art und Weise darzulegen. Erteilt der Insolvenzverwalter nach der Anmeldung der geschätzten Forderung die geforderte Auskunft oder Schlussrechnung, ist die Ungewissheit über die Forderungshöhe beseitigt. Der Gläubiger kann sich nach Überprüfung der eigenen Schätzung mit der Abrechnung des Insolvenzverwalters zufriedengeben und davon absehen, den diese Abrechnung übersteigenden Betrag seiner Forderungsanmeldung weiterzuverfolgen. Begehrt der Gläubiger gleichwohl die Feststellung einer höheren Forderung, kann er um den bestrittenen Teil seiner Forderung bei allgemeinem Kostenrisiko prozessieren. Legt der Insolvenzverwalter nach dem Widerspruch keine Auskunft oder Schlussrechnung vor, kann der Gläubiger nunmehr seinen Anspruch auf Auskunft oder Schlussrechnung gegen den Insolvenzverwalter geltend machen, um seine Feststellungsklage vorzubereiten. Dies trägt dem materiell-rechtlichen Anspruch des Gläubigers auf Auskunft und Rechnungslegung Rechnung, der durch die Insolvenzeröffnung nicht erlischt. Erhebt der Gläubiger ohne vorherige Auskunftsklage die Feststellungsklage und legt der Insolvenzverwalter erst während des Feststellungsprozesses eine Auskunft oder Schlussrechnung vor, aus der sich eine Überhöhung des angemeldeten Betrags ergibt, ist die vom Gläubiger erhobene Feststellungsklage teilweise unbegründet. Der Gläubiger kann nun die Klage entsprechend teilweise zurücknehmen oder teilweise für erledigt erklären. Die Prozesskosten sind dann dem Insolvenzverwalter in entsprechender Anwendung von § 93 ZPO aufzuerlegen. Die Ungewissheit über die Forderungshöhe ist nicht vom Gläubiger zu vertreten, weil dessen Anspruch auf Erteilung einer Schlussrechnung oder Auskunft zuvor nicht erfüllt worden ist; Anlass für den Feststellungsprozess hat vielmehr der Insolvenzverwalter gegeben. Bestreitet der Insolvenzverwalter die angemeldete, geschätzte Forderung auch im Feststellungsprozess ohne nähere Angaben oder nur pauschal in einer nicht den Anforderungen an die dem Gläubiger zustehende Auskunft oder Schlussrechnung genügenden Weise, hat die Feststellungsklage bei schlüssiger Darlegung der geschätzten Forderung durch den Gläubiger Erfolg. Die Kosten des Verfahrens trägt in diesem Fall nach § 91 Abs. 1 ZPO der Insolvenzverwalter als Beklagter.

12.12.2024
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Protokollführung durch SV

Die Übernahme der Protokollführung durch den Sachverständigen selbst ist in der ZPO nicht vorgesehen und könnte deshalb verfahrensfehlerhaft sein. Der Einwand einer unzulässigen Protokollierung im zweiten Rechtszug ist aber rechtsmissbräuchlich, wenn alle Beteiligten im erstinstanzlichen Termin damit einverstanden waren.

Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 22. Oktober 2024 – 7 U 40/24

1. Problemstellung

Es ist üblich und wird als praktikabel empfunden, dass bei mündlichen Anhörungen von Sachverständigen der Vorsitzende Richter dem Sachverständigen das Diktat seiner Ausführungen für das Protokoll überlässt (Jäckel, MDR 2024, 688 Rn. 21). Diese – auch in Bauprozessen übliche - Praxis hat ein Senat des OLG Hamm für verfahrensrechtlich unzulässig erklärt. Die Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst sei in § 159 ZPO nicht vorgesehen, daher verfahrensfehlerhaft, und könne keine Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein, so dass entweder die Beweisaufnahme in zweiter Instanz zu wiederholen oder das erstinstanzliche Urteil auf Antrag aufzuheben und das Verfahren an das Landgericht zurückzuverweisen sei (OLG Hamm, Urteil vom 19. Dezember 2023 – I-7 U 73/23). Das OLG Schleswig hatte über dieselbe Problematik zu urteilen und hat einen Weg gefunden, dem OLG Hamm nicht folgen zu müssen.

  1. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

In einem Unfallschadensersatzprozess war streitig, ob das Fahrzeug des Beklagten nach einer Drehung auf schneebedeckter und glatter Fahrbahn mit 20 bis 30 km/h in das Fahrzeug der Klägerin gerutscht war. Das Landgericht hat ein technisch-medizinisches Gutachten der Sachverständigen Dipl. Ing. W. und Dr. D. eingeholt. Auf Grundlage der Gutachten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Nach dem technischen Gutachten des Sachverständigen W. lag die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des Klägerfahrzeugs zwischen 6 und 9 km/h. Unter Zugrundelegung einer Stoßdauer von 0,10s bis 0,15s hat der Sachverständige W. eine kollisionsbedingte Krafteinwirkung auf die Klägerin in Höhe von 1,1 bis maximal 2,7 g ermittelt. Auf dieser technischen Grundlage hat der medizinische Sachverständige Dr. D. ausgeführt, dass die Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine unfallbedingte HWS-Distortion, BWS-Prellung und/oder Schulterprellung rechts erlitten habe.  

Mit der Berufung rügt die Klägerin, dass die Protokollierung vom Landgericht in unzulässiger Weise dem Sachverständigen W. übertragen worden sei. Das Berufungsgericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 522 Abs. 2 ZPO hat. Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht den Beweis führen konnte, dass die Voraussetzungen für den geltend gemachten Personenschaden tatsächlich erfüllt sind. Die Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, die gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO dem Protokollzwang unterliegt, durch den Sachverständigen selbst ist in der ZPO ausdrücklich nicht vorgesehen und könnte deshalb verfahrensfehlerhaft sein. In Ausnahmefällen kann allerdings das Diktat einer mündlichen Sachverständigenaussage statt vom Richter direkt vom Sachverständigen im Einverständnis aller Beteiligten durchaus praktikabel und ressourcenschonend sein. Die Beklagten haben deshalb auch auf eine durchaus abweichende Gerichtspraxis mit dem „Merkblatt für Sachverständige im Zivilprozess“ des Instituts für Sachverständigenwesen e.V. (Stand 2019) hingewiesen, wo es ausdrücklich heißt: „Der Richter kann dem Sachverständigen auch gestatten, seine gutachterlichen Äußerungen selbst in das Protokoll zu diktieren“.

Hier ist der Einwand einer unzulässigen Protokollierung gem. § 159 Abs. 1 ZPO, weil sie vom Einzelrichter dem Sachverständigen W. überlassen worden ist, jedoch zweifellos rechtsmissbräuchlich. Unstreitig waren die Klägerin und ihr Prozessbevollmächtigter im Termin persönlich anwesend. Beide haben das Diktat durch den Sachverständigen miterlebt und offensichtlich im Termin keine Bedenken geäußert. Auch in dem nachgelassenen Schriftsatz der Klägerin finden sich insoweit keine Einwände. Das Landgericht durfte deshalb vom Einverständnis aller Beteiligten ausgehen. Im Übrigen fehlt es auch an der Darlegung eines kausalen Verfahrensmangels. Die Berufung der Klägerin zeigt nicht auf, ob und ggf. welche (erheblichen) Aussagen des Sachverständigen W. tatsächlich nicht und/oder fehlerhaft in das Protokoll aufgenommen worden sind und welche Konsequenzen daraus für die richterliche Entscheidung zu ziehen wären.

  1. Kontext der Entscheidung

Die Auffassung des OLG Hamm ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Dem OLG Hamm ist das OLG Nürnberg zu Recht entgegengetreten (OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Oktober 2024 – 8 U 2323/23): Die vom OLG Hamm formulierten Bedenken gegen die „Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst“ überzeugen nach weder in der Begründung noch im Ergebnis. Soweit derzeit ersichtlich, stellt die Entscheidung des OLG Hamm eine vereinzelt gebliebene obergerichtliche Meinung zu einem konkreten Einzelfall dar. Der Inhalt der Aussagen der Parteien, Zeugen und Sachverständigen kann auf zwei Wegen vorläufig aufgezeichnet werden:

a) Bei Tonaufnahme durch Diktat oder Eingabe in ein Textverarbeitungssystem sollte tunlichst der Vorsitzende den Inhalt bestimmen und dies nicht dem Urkundsbeamten übertragen. Überlässt der Vorsitzende einem Sachverständigen das Diktat seiner Aussage, ändert dies nichts an seiner Verantwortlichkeit für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Protokollierung; gegebenenfalls muss er eingreifen.

b) Zulässig ist auch eine vollständige Aufzeichnung durch ununterbrochene Ton- oder Videoaufnahme des Vernommenen und der Fragenden. Sie bedarf keiner Zustimmung der Beteiligten und bietet einige Vorteile, ist aber nicht zwingend.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass – entgegen der vom OLG Hamm vertretenen Auffassung – auch dann ein richterliches Protokoll im Sinne der §§ 159, 160 ZPO vorliegt, wenn der Sachverständige den Wortlaut seiner Aussagen – zu Zwecken der vorläufigen Aufzeichnung – unmittelbar dem Tonträger zuführt und der dabei anwesende Richter dann später das gemäß § 160a Abs. 2 ZPO „unverzüglich“ hergestellte Protokoll ordnungsgemäß unterschreibt (vgl. § 163 Abs. 1 ZPO). Damit übernimmt der Richter die uneingeschränkte Verantwortung für den Inhalt der „Reinschrift“ des gesamten Protokolls und dies rechtfertigt dann auch dessen weitreichende Beweiskraft gemäß § 165 ZPO. Schon diese Differenzierung zwischen „vorläufiger Aufzeichnung“ und abschließender „Erstellung“ des Protokolls lässt die angeführte Entscheidung des OLG Hamm vermissen.

Es kann keinen prozessrechtlich relevanten Unterschied machen, ob der Richter Teile der vorläufigen Aufzeichnung des Sitzungsprotokolls (hier: mündliche Angaben des Sachverständigen) unmittelbar selbst in das Mikrofon des Aufzeichnungsgeräts spricht, ob er das Gerät dem Aussagenden entgegenhält und dessen Sprache unmittelbar ganz oder teilweise aufzeichnet oder ob der Richter dem Sachverständigen das Gerät übergibt mit der Bitte, selbst direkt in das Mikrofon zu sprechen. Denn in all diesen Fällen ist der Aufzeichnungsgegenstand für die im Sitzungssaal anwesenden Beteiligten unmittelbar wahrnehmbar und damit kontrollierbar. Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut oder Inhalt des Aufgezeichneten können an Ort und Stelle direkt kommuniziert und geklärt werden. Die Gefahr von – entscheidungserheblichen – Unklarheiten oder Lückenhaftigkeiten wird durch diese Handhabung weder geschaffen noch vergrößert. Daher ist es verfahrensrechtlich unbedenklich, einem mündlich angehörten Sachverständigen zum Zwecke der vorläufigen Protokollaufzeichnung vorübergehend das Diktiergerät zu übergeben, wenn gewährleistet ist, dass Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut und Inhalt der Aufzeichnung unmittelbar geklärt werden können.

  1. Auswirkungen für die Praxis

Dem OLG Schleswig war der nur eine Woche vorher ergangene Beschluss des OLG Nürnberg offenkundig noch nicht bekannt. Da das OLG Schleswig aber einen Weg gefunden hat, die Zulässigkeit des Diktates durch den Sachverständigen offen zu lassen, brauchte es die Revision nicht zuzulassen, wenn es dem OLG Hamm nicht folgen wollte. Ob der vom OLG Schleswig eingeschlagene Weg trägt, ist aber wiederum nicht frei von Zweifeln. Denn das OLG Hamm hat in einer weiteren (früheren) Entscheidung die Übernahme der Protokollführung durch den Sachverständigen als einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Mangel angesehen, der auch ohne Berufungsrüge vom Gericht zu berücksichtigen ist (OLG Hamm, Urteil vom 22. August 2023 – I-7 U 112/22 –, Rn. 7). Trotzdem sollten, bis eine höchstrichterliche Klärung erfolgt, die Parteien darauf drängen, dass die Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten in das Protokoll aufgenommen wird.

12.12.2024
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BGH: Zur schuldhaften Säumnis

Eine schuldhafte Säumnis liegt regelmäßig vor, wenn ein Prozessbevollmächtigter, der kurzfristig und nicht vorhersehbar krankheitsbedingt an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Vertagung zu ermöglichen.

BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – V ZB 50/23

  1. Problemstellung

Ergeht in einem Rechtsstreit ein zweites Versäumnisurteil, ist die Berufung nur statthaft, wenn diese darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe. Von der Schlüssigkeit der Darlegung hängt die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab. Der V. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob die Nichtwahrnehmung eines Verhandlungstermins infolge plötzlicher Erkrankung des Prozessbevollmächtigten einen Fall schuldhafter Säumnis darstellt.

  1. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

In einem Nachbarschaftsrechtsstreit hat das Landgericht die Beklagten durch Versäumnisurteil antragsgemäß verurteilt. Dagegen haben die Beklagten Einspruch eingelegt. Im Termin zur Verhandlung über den Einspruch und die Hauptsache ist für die Beklagten wiederum niemand erschienen. Das Landgericht hat auf Antrag der Kläger den Einspruch durch das im Termin verkündete zweite Versäumnisurteil verworfen. Gegen dieses Versäumnisurteil haben die Beklagten innerhalb der Berufungsfrist Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, ihr Prozessbevollmächtigter sei am Termintag zunächst sehr früh wegen heftiger Zahnschmerzen im Bereich der rechten Gesichtshälfte aufgewacht und habe eine Schmerztablette genommen. Kurz vor 8.00 Uhr sei er erneut durch heftige Zahn- und Kopfschmerzen geweckt worden und habe dann noch ein oder zwei Schmerztabletten genommen. Es sei für ihn klar gewesen, dass er zum Zahnarzt müsse. Nach 8.00 Uhr habe er an den Gerichtstermin gedacht und seinen Kollegen, mit dem er eine Bürogemeinschaft ohne weiteres Personal bilde, angerufen, aber nicht erreicht. Er habe sich zu diesem Zeitpunkt schon sehr benommen gefühlt. Einen klaren Gedanken habe er nicht mehr fassen können. Er habe dann ein Taxi gerufen und sei zu seinem Zahnarzt gefahren. Dort habe er sofort eine Spritze gegen die Schmerzen erhalten; der rechte Weisheitszahn sei behandelt worden. Im Zuge der Behandlung habe er noch eine Schmerztablette erhalten und eine weitere, die er gegen Mittag habe einnehmen sollen. Er habe dann noch einige Zeit im Behandlungszimmer verbracht und sei dann mit dem Taxi wieder nach Hause gefahren. Aufgrund der Wirkung der Schmerztabletten habe er den Termin am Landgericht verdrängt. Dieser sei ihm erst wieder am frühen Nachmittag eingefallen. Weil das Landgericht auf 11.30 Uhr terminiert hatte und die Fahrzeit von seiner Kanzlei aus ca. eine Stunde betrage, habe er geplant gehabt, gegen 10.00 Uhr loszufahren.  

Das Oberlandesgericht hat die Berufung verworfen. Sie sei unzulässig, weil die Beklagten nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist schlüssig dargelegt hätten, dass sie den Termin ohne eigenes Verschulden versäumt hätten. Es könne zwar zu Gunsten der Beklagten unterstellt werden, dass ihr Prozessbevollmächtigter krankheitsbedingt nicht zu der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht habe anreisen können. Eine schuldhafte Säumnis liege aber regelmäßig auch dann vor, wenn ein kurzfristig und nicht vorhersehbar an der Wahrnehmung eines Termins gehinderter Prozessbevollmächtigter - wie hier - nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan habe, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Vertagung zu ermöglichen. Dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten habe aufgrund der von ihm selbst eingeplanten Fahrzeit von einer Stunde und der dargestellten Schmerzen bereits bei seinem Anruf des Kollegen bewusst sein müssen, dass er aufgrund seines Gesundheitszustandes und der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr in der Lage sein werde, den Gerichtstermin wahrzunehmen. Der Ablauf zeige, dass es ihm nicht unmöglich oder unzumutbar gewesen sei, das Landgericht über seinen Gesundheitszustand und darüber zu informieren, dass er wegen des notwendigen Arztbesuchs den Termin nicht wahrnehmen könne.  

Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Annahme des Berufungsgerichts, dass keine unverschuldete Säumnis vorliegt, steht in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung und verletzt die Beklagten nicht in ihren Verfahrensgrundrechten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von der Schlüssigkeit der Darlegung dazu hängt die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab. Der Sachverhalt, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels rechtfertigen soll, ist vollständig und schlüssig innerhalb der Frist der Berufungsbegründung vorzutragen. Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen, die die Zulässigkeit der Berufung rechtfertigen sollen, so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie, ihre Richtigkeit unterstellt, den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Die Verschuldensfrage richtet sich hierbei nach den gleichen Grundsätzen wie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Dabei dürfen die Gerichte die Anforderungen an den auf § 514 Abs. 2 ZPO gestützten Parteivortrag mit Blick auf den verfassungsrechtlichen garantierten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz und auf rechtliches Gehör nicht überspannen. Nach diesen Grundsätzen geht das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler davon aus, dass die Säumnis der Beklagten auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruht, welches sie sich als eigenes Verschulden zurechnen lassen müssen (§ 85 Abs. 2 ZPO).    

Für die Entscheidung kann unterstellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am Terminstag krankheitsbedingt nicht zu der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht anreisen konnte. Dieser Umstand genügt aber nicht für die Annahme, er habe den Termin unverschuldet versäumt. Eine schuldhafte Säumnis liegt regelmäßig auch dann vor, wenn ein Prozessbevollmächtigter, der kurzfristig und nicht vorhersehbar krankheitsbedingt an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Vertagung zu ermöglichen. Diesen Anforderungen hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht entsprochen. Es ergibt sich bereits aus dem dargelegten Ablauf, dass es ihm nicht unmöglich oder unzumutbar gewesen ist, das Landgericht rechtzeitig telefonisch über seine krankheitsbedingte Verhandlungsunfähigkeit in Kenntnis zu setzen. Am Termintag um 8.00 Uhr war dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten klar, dass er aufgrund der Schmerzen einen Zahnarzt aufsuchen musste. Trotz starker Schmerzen hat er zu diesem Zeitpunkt noch an den Gerichtstermin gedacht. Dass er noch davon ausging, rechtzeitig um 11.30 Uhr das Landgericht erreichen und den Gerichtstermin wahrnehmen zu können, haben die Beklagten nicht vorgetragen. Angesichts der erforderlichen zahnärztlichen Behandlung, der Einnahme starker Schmerzmittel und der kalkulierten Fahrzeit von einer Stunde zwischen dem Kanzlei- und dem Gerichtsort durfte er auch nicht berechtigterweise darauf vertrauen, dass er bis zu der Terminstunde das Landgericht erreichen wird. Es hätte daher der gebotenen anwaltlichen Sorgfalt entsprochen, bereits in diesem Moment die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die im konkret vorhersehbaren Fall einer Säumnis im Einspruchstermin drohenden schwerwiegenden Nachteile von den Beklagten abzuwenden. Hierzu wäre eine telefonische Kontaktaufnahme zu dem Landgericht erforderlich gewesen, um seine Verhandlungsunfähigkeit mitzuteilen. Ein solches Telefonat zu führen, war dem Prozessbevollmächtigten trotz der vorgetragenen starken Schmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln zumutbar und keinesfalls überobligatorisch. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde verlangt das Berufungsgericht von dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten auch unter Berücksichtigung der Intensität der Schmerzen keine überdurchschnittlichen, nicht zu erwartenden Anstrengungen zur Überwindung der Krankheitserscheinungen. Ein Rechtsanwalt muss zwar, wenn er - wie hier - unvorhergesehen erkrankt und kurzfristig und unvorhersehbar an der Wahrnehmung des Termins gehindert ist, nur das, aber auch alles unternehmen, was ihm dann möglich und zumutbar ist, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen. Hiervon ausgehend nimmt das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei an, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht das ihm Zumutbare unternommen hat. Er hat sowohl seinen Kollegen angerufen als auch telefonisch ein Taxi bestellt. Dies belegt, dass ihm trotz der erheblichen Zahnschmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln ein Telefonat noch möglich und auch zumutbar war und er noch klare Gedanken fassen konnte. Soweit die Rechtsbeschwerde vorbringt, der Prozessbevollmächtigte der Beklagten habe aufgrund extremer Schmerzen schon am Morgen des Termintages nicht mehr klar denken können und erst am Nachmittag sei ihm die Versäumung des Termins bewusst geworden, übersieht sie, dass er jedenfalls morgens um 8.00 Uhr an den Termin gedacht hat und in der Lage war, seinen Kollegen anzurufen. Die Beklagten haben nicht dargelegt, welchem Zweck der Anruf des Kollegen überhaupt diente. Eine stellvertretende Wahrnehmung des Gerichtstermins sollte durch ihn nach eigener Darstellung jedenfalls nicht erfolgen. Anwaltlicher Sorgfalt hätte es daher entsprochen, stattdessen sofort dem Landgericht telefonisch seine Verhinderung mitzuteilen. Für diesen Anruf war nicht mehr Kraft aufzubringen als für den Anruf bei seinem Kollegen.

  1. Kontext der Entscheidung

Da die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil nur statthaft ist, wenn sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat, wie § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO bestimmt, hängt von der Schlüssigkeit der Darlegung die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab. Der Sachverhalt, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels rechtfertigen soll, ist vollständig und schlüssig innerhalb der Frist der Berufungsbegründung vorzutragen. Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen, die die Zulässigkeit der Berufung rechtfertigen sollen, innerhalb der Frist zur Berufungsbegründung so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie, ihre Richtigkeit unterstellt, den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Dabei dürfen die Gerichte die Anforderungen an den auf § 514 Abs. 2 ZPO gestützten Parteivortrag mit Blick auf den verfassungsrechtlichen garantierten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz und auf rechtliches Gehör nicht überspannen (BGH, Beschl. v. 23.06.2022 - VII ZB 58/21 Rn. 13 bis 14 m.w.N.). Trägt eine Partei mit der Rechtsmittelbegründung zwar vor, dass ihre Verfahrensbevollmächtigte nach dem plötzlichen Auftreten gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf der Fahrt zum Termin mehrfach erfolglos versucht habe, das Gericht vor der angesetzten Terminsstunde telefonisch zu erreichen, handelt es sich jedoch nicht um hinreichend substantiierten Vortrag. Die Partei hätte vielmehr bis zum Ende der Begründungsfrist konkrete Angaben zum Ablauf der Fahrt ihrer Verfahrensbevollmächtigten und deren Bemühungen um eine Kontaktaufnahme mit dem Amtsgericht nach der krankheitsbedingten Fahrtunterbrechung machen müssen. Ihrem Vorbringen ist nicht zu entnehmen, wann genau und wie oft ihre Verfahrensbevollmächtigte unter welcher Telefonnummer versucht habe, das Amtsgericht über ihre Verhinderung in Kenntnis zu setzen. Insbesondere habe die Antragsgegnerin nicht konkret behauptet, dass ihre Verfahrensbevollmächtigte etwa versucht habe, die zuständige Geschäftsstelle des Amtsgerichts telefonisch zu erreichen, bzw. dass sie - im Falle des Nichtzustandekommens eines Gesprächs mit der Geschäftsstelle - die zentrale Rufnummer des Amtsgerichts gewählt habe (BGH, Beschluss vom 24. Januar 2024 – XII ZB 171/23 –, Rn. 12, mwN.). Erscheint die Partei nach rechtzeitigem Einspruch gegen das erste Versäumnisurteil erneut nicht zur mündlichen Verhandlung über den Einspruch oder erscheint sie zwar, ist aber nicht ordnungsgemäß vertreten oder verhandelt nicht, hat das Gericht nur noch die Voraussetzungen der wiederholten Säumnis, insbesondere die ordnungsgemäße Ladung zum Termin, zu prüfen, bevor es nach § 345 ZPO den Einspruch durch zweites Versäumnisurteil zu verwerfen hat. Eine darüber hinausgehende Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts besteht nicht. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil kann folglich nicht darauf gestützt werden, dass bei Erlass des ersten Versäumnisurteils ein Fall der Säumnis nicht vorgelegen habe oder die Klage nicht schlüssig sei (BGH, Beschl. v. 18.02.2020 - XI ZB 11/19 -. Rn. 11 - 12).

  1. Auswirkungen für die Praxis

Auf der Grundlage des Gebots eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 MRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG) ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Versäumnis eines Termins dann als entschuldigt anzusehen ist, wenn die Partei und ihr Prozessbevollmächtigter auf die erfolgte Stattgabe eines Verlegungsantrags vertrauen dürfen (BGH, Beschl. v. 23.02.2017 - III ZB 137/15 Rn. 11). Eine schuldhafte Säumnis liegt jedoch vor, wenn der Prozessbevollmächtigte, der kurzfristig und nicht vorhersehbar an der Wahrnehmung des Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen (BGH, Urt. v. 03.11.2005 - I ZR 53/05 Rn. 14). Krankheit des Rechtsanwalts kann Säumnis entschuldigen und Grund sein zu vertagen. Unvorhergesehene, plötzliche Erkrankungen, die zeitnah mitgeteilt werden, entschuldigen in der Regel. Bei länger andauernden Erkrankungen muss aber für Vertretung gesorgt sein (Herget in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 337 Rn. 3 m.w.N.).

12.12.2024
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BGH: Zur Wiedereinsetzung

1. Hat der Verfahrensbevollmächtigte eines Beteiligten die Anfertigung einer Rechtsmittelschrift seinem angestellten Büropersonal übertragen, ist er verpflichtet, das Arbeitsergebnis vor Versendung über das besondere elektronische Anwaltspostfach sorgfältig auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen. Dazu gehört auch die Prüfung, ob das für die Entgegennahme der Rechtsmittelschrift zuständige Gericht richtig bezeichnet ist.

2. Reicht ein Beteiligter eine Rechtsmittelschrift bei einem unzuständigen Gericht ein, so entspricht es regelmäßig dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterliche Verfügung der Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht am darauffolgenden Werktag umsetzt. Geht ein fristgebundener Schriftsatz erst einen (Werk-)Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten daher regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung des Schriftsatzes im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim zuständigen Gericht geführt hat.

BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 576/23

  1. Problemstellung

Unter welchen zeitlichen Voraussetzungen ein Rechtsanwalt darauf vertrauen darf, dass ein bei einem unzuständigen Gericht elektronisch eingereichter Schriftsatz an das zuständige Gericht weitergeleitet wird, hat der XII. Zivilsenat näher bestimmt.

  1. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Antragsgegner begehrt Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde. Ein Beschluss des Familiengerichts, mit dem der Antragsgegner verpflichtet wurde, an die Antragstellerin einen Zugewinnausgleich in Höhe von 709.900,21 € nebst Zinsen zu zahlen, ist dem Antragsgegner am 1. September 2023 zugestellt worden. Am 29. September 2023 (Freitag) ist um 8:58 Uhr beim OLG eine Beschwerdeschrift eingegangen, die mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners versehen ist. Am selben Tag hat die Geschäftsstelle des OLG die Akte beim Amtsgericht angefordert und dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners eine Eingangsbestätigung übersandt. Mit taggleich ausgeführter Verfügung vom 2. Oktober 2023 (Montag) hat die Vorsitzende Richterin des zuständigen Senats die Übersendung der Beschwerdeschrift an das Amtsgericht angeordnet. Dort ist die Rechtsmittelschrift auf dem Postweg am 4. Oktober 2023 eingegangen.

Nach gerichtlichem Hinweis auf die Fristversäumnis hat der Antragsgegner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zur Begründung ausgeführt, sein Verfahrensbevollmächtigter habe sich in der Zeit vom 27. September bis zum 9. Oktober 2023 im Urlaub befunden. Noch vor Urlaubsantritt habe er gegenüber seiner langjährigen und stets zuverlässigen Mitarbeiterin verfügt, gegen den Beschluss des Amtsgerichts fristgerecht Beschwerde einzulegen. Dies beinhalte auch, dass die Beschwerde beim zuständigen Gericht eingelegt werde. Gleichwohl sei die Beschwerde fehlerhaft an das OLG geschickt worden. Zudem hätten zwischen der am 29. September 2023 um 9:52 Uhr versandten Eingangsbestätigung des OLG und dem Ablauf der Beschwerdefrist anderthalb Werktage gelegen. Es sei somit mehr als genug Zeit gewesen, um die Zuständigkeit zu prüfen und die Beschwerdeschrift noch innerhalb der Beschwerdefrist im Wege des ordentlichen Geschäftsgangs elektronisch an das Amtsgericht weiterzuleiten. Keinesfalls habe das OLG den Schriftsatz auf dem Postweg weiterleiten dürfen, weil ihm hätte bewusst sein müssen, dass er auf diesem Weg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht fristgerecht beim Amtsgericht eingehen würde.  

Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet zurückgewiesen und die Beschwerde als unzulässig verworfen. Die Fristversäumung beruhe auf einem dem Antragsgegner zuzurechnenden Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten, denn dieser habe die Rechtsmittelschrift nicht selbst überprüft, sondern seine Mitarbeiterin damit beauftragt, Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts einzulegen. Dieses Verschulden habe sich auch ausgewirkt, weil der Antragsgegner nicht darauf habe vertrauen können, dass der einen Arbeitstag vor Ablauf der Beschwerdefrist beim unzuständigen Gericht eingereichte Schriftsatz noch rechtzeitig an das zuständige Gericht weitergeleitet werden würde. Denn es sei im ordnungsgemäßen Geschäftsgang nicht damit zu rechnen gewesen, dass am selben Tag die Zulässigkeit der Beschwerde geprüft, die Versendung der Beschwerdeschrift an das Amtsgericht verfügt und diese Verfügung auch ausgeführt werden würde. Die Kommunikation mit dem Amtsgericht erfolge im ordentlichen Geschäftsgang auf postalischem Weg.  

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Insbesondere verletzt der angefochtene Beschluss den Antragsgegner im Ergebnis weder in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) noch in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1, 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG). Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde zu Recht für unzulässig erachtet, weil sie nicht fristgerecht eingelegt worden ist. Die Beschwerdeschrift ist nicht innerhalb der am 2. Oktober 2023 abgelaufenen Beschwerdefrist beim Amtsgericht eingegangen (§§ 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Das Beschwerdegericht ist auch davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt sind, weil die Beschwerdefrist nicht unverschuldet im Sinne von § 113 Abs. 1 FamFG iVm § 233 Satz 1 ZPO versäumt ist. Vielmehr beruht dieses Versäumnis auf einem dem Antragsgegner nach § 113 Abs. 1 FamFG iVm § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten. Dieses Verschulden ist auch ursächlich für die Fristversäumung geworden. Nach § 113 Abs. 1 FamFG iVm § 233 Satz 1 ZPO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein Beteiligter ohne sein Verschulden verhindert war, die Beschwerdefrist nach § 63 Abs. 1 FamFG einzuhalten. Ein Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten wird dem Beteiligten zugerechnet, das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Deshalb hindern Fehler des Büropersonals eine Wiedereinsetzung nicht, solange den Verfahrensbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Der Beteiligte hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen, der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt. Verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. So liegt der Fall hier. Ein Verfahrensbevollmächtigter hat dafür zu sorgen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingeht. Dabei gehört die Erstellung einer fristwahrenden Rechtsmittelschrift zu den Aufgaben, die ein Rechtsanwalt seinem angestellten Büropersonal nicht übertragen darf, ohne das Arbeitsergebnis auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit selbst sorgfältig zu überprüfen. Insbesondere hat er die Rechtsmittelschrift vor der Unterzeichnung bzw. vor der Versendung über das beA auch auf die richtige Bezeichnung des für die Entgegennahme zuständigen Gerichts zu kontrollieren und eine fehlerhafte Angabe zu berichtigen. Das Beschwerdegericht hat richtig erkannt, dass der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners diesen Sorgfaltsanforderungen nicht genügt hat. Bei sorgfältiger Überprüfung der Beschwerdeschrift hätte er die fehlerhafte Adressierung der Beschwerdeschrift bemerken und die Angabe des Amtsgerichts als Empfänger veranlassen müssen.  

Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde gegen die weitere Annahme des Beschwerdegerichts, das Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten sei auch ursächlich für die Versäumung der Beschwerdefrist geworden. Das Beschwerdegericht hat dem Antragsgegner den Zugang zur Beschwerdeinstanz nicht in unzumutbarer Weise erschwert. Wird in einer Familienstreitsache die Beschwerde anstatt bei dem gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 FamFG für ihre Entgegennahme zuständigen Amtsgericht beim Beschwerdegericht eingelegt, hat das angerufene Gericht die Beschwerdeschrift im ordentlichen Geschäftsgang an das Amtsgericht weiterzuleiten, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts ohne Weiteres erkennbar und - damit regelmäßig - die Bestimmung des zuständigen Gerichts möglich ist. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch des Rechtsuchenden auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Geht der Schriftsatz so zeitig beim angerufenen Gericht ein, dass eine rechtzeitige Weiterleitung an das Amtsgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden kann, darf ein Verfahrensbeteiligter darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch fristgerecht dort eingehen wird. Geschieht dies tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten im Hinblick auf die unrichtige Bezeichnung des Gerichts bei der Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht mehr aus, so dass dem Beteiligten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Der Wiedereinsetzung begehrende Beteiligte hat darzulegen und glaubhaft zu machen, dass sein Schriftsatz im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang fristgerecht an das zuständige Gericht hätte weitergeleitet werden können. Nach diesen Grundsätzen hat das Beschwerdegericht zu Recht angenommen, der Antragsgegner habe nicht glaubhaft gemacht, dass die Beschwerdeschrift im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang fristgerecht an das Amtsgericht hätte weitergeleitet werden können. Dabei kann dahinstehen, ob das Beschwerdegericht die Beschwerdeschrift elektronisch an das Amtsgericht hätte weiterleiten müssen, weil - wie die Rechtsbeschwerde meint - nur eine solche Weiterleitung zu einer formgerechten Einreichung des qualifiziert signierten Schriftsatzes geführt hätte. Denn selbst wenn dem Beschwerdegericht eine elektronische Weiterleitung an das Amtsgericht technisch möglich gewesen sein sollte und man insoweit eine aktive Nutzungspflicht des Elektronischen Gerichts- und Behördenpostfachs annehmen würde, war nach den vorliegenden Umständen eine fristgerechte Weiterleitung im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang nicht zu erwarten. Das unzuständige Gericht ist nicht verpflichtet, dem zuständigen Gericht den fristgebundenen Schriftsatz unter höchster Beschleunigung zukommen zu lassen. Im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs ist üblicherweise damit zu rechnen, dass eine bei der zuständigen Geschäftsstelle eingegangene Rechtsmittelschrift dem zuständigen Richter am nächsten Werktag vorgelegt wird. Es kann nicht erwartet werden, dass die richterliche Verfügung der Weiterleitung der Rechtsmittelschrift noch am selben Tag zur Geschäftsstelle gelangt und dort ausgeführt wird. Vielmehr entspricht es dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterlich verfügte Weiterleitung am darauffolgenden Werktag umsetzt. Geht ein fristgebundener Schriftsatz erst einen (Werk-)Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten daher regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung des Schriftsatzes im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim zuständigen Gericht geführt hat. Der Antragsgegner konnte nach diesen Maßstäben nicht darauf vertrauen, dass die einen Werktag nach Eingang der Beschwerdeschrift richterlich verfügte elektronische Weiterleitung der Beschwerdeschrift noch am selben Tag von der Geschäftsstelle elektronisch ausgeführt werden würde. Vielmehr war eine Umsetzung der Verfügung vom 2. Oktober 2023 erst am darauffolgenden Werktag, dem 4. Oktober 2023, zu erwarten, was nicht mehr zu einem fristwahrenden Eingang der Beschwerdeschrift beim Amtsgericht hätte führen können. Nichts anderes folgt hier aus dem Umstand, dass die richterliche Weiterleitungsverfügung tatsächlich taggleich von der Geschäftsstelle umgesetzt worden ist. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerfrei ausgeführt, im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang sei nicht damit zu rechnen gewesen, dass am selben Tag die Zulässigkeit der Beschwerde geprüft, die Versendung der Beschwerdeschrift an das Amtsgericht verfügt und diese Verfügung auch umgesetzt werden würde. Die Rechtsbeschwerde zeigt nicht auf, dass der Antragsgegner dargelegt und glaubhaft gemacht hätte, richterliche Verfügungen würden von der Geschäftsstelle des Beschwerdegerichts üblicherweise taggleich ausgeführt.

  1. Kontext der Entscheidung

Da ein Gericht einerseits aufgrund des Anspruchs auf ein faires Verfahren zur Rücksichtnahme auf die Parteien verpflichtet ist, andererseits die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlichen Belastungen geschützt werden muss, besteht keine generelle Fürsorgepflicht des für das Rechtsmittel unzuständigen Gerichts, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Einer Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten muss die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. Geht ein fristwahrender Schriftsatz statt beim Rechtsmittelgericht beim erstinstanzlichen Gericht ein, ist dieses deshalb grundsätzlich lediglich verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Die eine Wiedereinsetzung begehrende Partei hat mithin darzulegen und glaubhaft zu machen, dass ihr Schriftsatz im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang fristgerecht an das zuständige Rechtsmittelgericht hätte weitergeleitet werden können. Bei der Frage, ob eine fristgerechte Weiterleitung im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang zu erwarten war, ist zu berücksichtigen, dass die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht der Gerichte keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit erfordert (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 – I ZB 42/22 –, Rn. 21, mwN.).

  1. Auswirkungen für die Praxis

Das OLG hat seine Entscheidung hilfsweise darauf gestützt, die Beschwerde sei nicht nur verfristet, sondern auch nicht wirksam eingelegt worden (Rn. 7). Die Beschwerdeschrift sei nach dem eigenen Vorbringen des Antragsgegners nicht von seinem Verfahrensbevollmächtigten, sondern von dessen Mitarbeiterin „unterzeichnet“ worden (Rn. 5). Der Senat lässt es ausdrücklich dahinstehen, ob das Beschwerdegericht zutreffend angenommen hat, dass die Beschwerde schon nicht wirksam eingelegt wurde, weil die Beschwerdeschrift nicht vom Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners selbst, sondern von dessen Kanzleimitarbeiterin mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Rechtsanwalts versehen worden sei (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 576/23 –, Rn. 9). Unerwähnt lässt der Senat, dass diese Frage bereits von einem anderen Zivilsenat des BGH entschieden worden ist (BGH, Beschluss vom 31. August 2023 – VIa ZB 24/22). Ausgangspunkt ist dabei § 26 Abs. 1 RAVPV (Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer). Danach darf das Zertifikat (Chipkarte) keiner anderen Person überlassen werden, die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN muss geheim gehalten werden. Soll ein Mitarbeiter die Versendung übernehmen, muss daher das Dokument qualifiziert elektronisch signiert werden. Erfolgt der Zugang zum Anwaltspostfach verbotswidrig durch eine andere Person, z.B. durch ermächtigten Kanzleimitarbeiter, sind die damit vorliegenden Erklärungen eines Unbefugten jedoch formgerecht. Im Interesse des Rechtsverkehrs an der strikten Verlässlichkeit der mit einem elektronischen Empfangsbekenntnis abgegebenen Erklärung kann sich ein Postfachinhaber aber nicht auf die Unbeachtlichkeit von Erklärungen berufen, die er unter Verstoß gegen die Sicherheitsanforderungen des elektronischen Rechtsverkehrs selbst ermöglicht hat. Verhält es sich so, hat er sich eine von Dritten abgegebene Erklärung vielmehr so zurechnen zu lassen, als habe er sie selbst abgegeben und im Vorhinein – durch die nicht vorgesehene Eröffnung der Nutzungsmöglichkeit für den Dritten – autorisiert (BSG, Urt. v. 14.07.2022 - B 3 KR 2/21 R -, Rn. 15). Dem hat sich der VIa-Zivilsenat für den Zivilprozess angeschlossen: „Handelt der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dem (i.e.: § 26 Abs. 1 RAVPV) zuwider und überlässt er das nur für seinen Zugang erzeugte Zertifikat und die zugehörige Zertifikats-PIN einem Dritten, muss er sich so behandeln lassen, als habe er die übermittelte Erklärung selbst abgegeben (BGH, Beschluss vom 31. August 2023 – VIa ZB 24/22 –, Rn. 9). Ob der XII. Zivilsenat diese Entscheidung übersehen hat oder ob der Auffassung des VIa-Senates nicht folgen will, ist der Entscheidung nicht zu entnehmen.  

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