BGH: Beweiswirkung des Urteilstatbestands
Für die Frage, welche Tatsachen in erster Instanz vorgetragen, welche bestritten worden und welche unbestritten geblieben sind, erbringt der Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 314 ZPO Beweis. Die Beweiskraft des Tatbestands entfällt jedoch, soweit die Feststellungen Widersprüche oder Unklarheiten aufweisen.
BGH, Beschluss vom 20. Mai 2025 – VIII ZR 137/24
A. Problemstellung
Unter welchen Voraussetzungen die Beweiskraft des Tatbestandes eines Urteils entfällt, weil die tatbestandlichen Feststellungen Widersprüche oder Unklarheiten aufweisen, hatte der VIII. Zivilsenat zu klären.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger bot als Privatperson im Internet einen VW Käfer "Modell Hebmüller" zum Preis zum 79.990 € an. In dem Inserat ist unter "Fahrzeugbeschreibung" ausgeführt: "Dieser seltene Hingucker wurde gem. Fahrgestellnr. 1953 produziert und 1954 zugelassen. 1. Lack. Verdeck ist neuwertig. Umgerüstet wurde lediglich der Motor [...]". Bei Hebmüller-Fahrzeugen handelt es sich um VW Käfer Cabriolets, die in den Vierzigerjahren im Hebmüller-Werk gefertigt wurden. Nachdem das Werk 1949 abgebrannt war, wurden mit den noch nicht verbauten Fahrzeugteilen danach im Karmann-Werk noch wenige weitere Hebmüller-Cabriolets gefertigt. Auf das Inserat des Klägers erkundigte sich ein Mitarbeiter der beklagten Oldtimer-Fachhändlerin, der Zeuge V., bei dem Kläger nach den genauen Umständen und nach dem Fahrzeugzustand; eine Besichtigung des Fahrzeugs durch die Beklagte erfolgte nicht. Der Kläger füllte - wie mit V. vereinbart - ein Kaufvertragsformular aus und sandte dieses unterschrieben per Fax an die Beklagte. In diesem bezeichnete er das Fahrzeug als "Marke: VW, Typ: Käfer" und gab als Kaufpreis 79.000 € an. Der Zeuge V. nahm sodann an dem Kaufvertragsformular unter "Sondervereinbarungen" die Eintragung vor "Es ist ein orig. Hebmüller-Cabrio" und ergänzte unter "Typ" das Wort "Hebmüller". Die geänderte Version des Vertrags schickte er unterschrieben an den Kläger, der daraufhin den Zeugen kontaktierte und mitteilte, nicht garantieren zu können, dass es sich um einen originalen Hebmüller-Käfer handele und er keine Nachweise hierzu vorlegen könne. Er - so das im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils ausgewiesene unstreitige Parteivorbringen - "vermute, dass das Fahrzeug bei Karmann produziert worden sei. Nachweise habe er aber nicht". Daraufhin strich der Zeuge V. die Ergänzung "Es ist ein orig. Hebmüller-Cabrio" und faxte den Vertrag dem Kläger zu, welchen dieser annahm. Die Beklagte verweigerte in der Folgezeit die Abholung und Bezahlung des Fahrzeugs mit der Begründung, dass es sich um eine billige Replik handele.
Mit seiner Klage hat der Kläger u.a. beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 79.000 € Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs zu verurteilen. Die Beklagte hat widerklagend beantragt, den Kläger zu verurteilen, an sie 36.000 € (entgangenen Gewinn aus einem Anschlusskaufvertrag) zu zahlen. Die Beklagte hat - ausweislich des im erstinstanzlichen Urteil wiedergegebenen und vom Berufungsgericht ebenfalls in Bezug genommenen Streitstands - behauptet, der Kläger habe "dem Zeugen V. telefonisch erklärt [...], dass das Fahrzeug nicht bei Hebmüller produziert, sondern nach dem Werksbrand bei Karmann gefertigt worden sei. Dabei würde es sich um eins von ca. 14 Hebmüller-Cabrios handeln, die einen noch höheren Wert hätten als die bei Hebmüller gefertigten Fahrzeuge". Bei dem Fahrzeug handele es sich jedoch um einen in den Jahren 2014 bis 2016 hergestellten billigen Nachbau. Das Landgericht hat Zeugen vernommen und Sachverständigenbeweis erhoben, welcher ergeben hat, dass es sich bei dem Fahrzeug um einen Um-/Nachbau auf der Basis einer VW Käfer Limousine als Exportmodell aus dem Jahr 1954 handelt, die nicht bei Karmann produziert worden ist., und - mit der Begründung, das Fahrzeug sei infolge des als Beschaffenheit vereinbarten, aber nicht vorhandenen Erstlacks mangelhaft - die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Das OLG hat auf die Berufung des Klägers der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Entscheidend sei, ob der Kläger die Lieferung eines originalen, gegebenenfalls nach dem Werksbrand bei Karmann produzierten Hebmüller-Cabriolets geschuldet habe, oder ob beiden Parteien bewusst gewesen sei, dass es sich nur möglicherweise um ein Original, möglicherweise aber auch lediglich um den Nachbau handele, und sie diese Unsicherheit bewusst zur Vertragsgrundlage gemacht hätten. Das Berufungsgericht sei von letzterem überzeugt. Zwar würden Beschreibungen in Inseraten Vertragsgrundlage im Sinne einer Sollbeschaffenheit der Kaufsache, wenn nicht später hiervon abweichende Vereinbarungen getroffen würden. Genau dies sei hier aber geschehen. Der Kläger habe nachvollziehbar dargelegt, dass er, nachdem er das Fahrzeug selbst importiert gehabt habe, nicht gewusst habe, ob es sich um einen Original Hebmüller handele. Das angefochtene Urteil führe hierzu unstreitig - und deshalb das Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht bindend - aus: "Daraufhin kontaktierte der Kläger den Zeugen V. und teilte mit, nicht garantieren zu können, dass es sich um einen originalen Hebmüller-Käfer handele und er keine Nachweise diesbezüglich vorlegen könne. Er vermute, dass das Fahrzeug bei Karmann produziert worden sei. Nachweise habe er aber nicht". Auch in der individuellen Vertragsgenese spiegele sich genau das wider, denn die durch die Beklagte in den Vertrag eingefügte Sondervereinbarung "Es ist ein orig. Hebmüller-Cabrio" sei gestrichen worden. Die Beklagte habe sich damit bewusst auf ein (für sie möglicherweise lukratives) Risikogeschäft eingelassen.
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat - ausgehend von der Verkennung der fehlenden Bindungswirkung eines in sich widersprüchlichen Tatbestands gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 314 ZPO - den durch die erstinstanzlichen Angaben des Zeugen V. bestätigten Beklagtenvortrag, der Kläger habe diesem im Rahmen der Vertragsverhandlungen am Telefon gesagt, bei dem zu verkaufenden Fahrzeug handele es sich um ein im Karmann-Werk gefertigtes Hebmüller-Cabrio, keine Bedeutung zugemessen und damit bei seiner Auslegung des Vertragsinhalts nicht erwogen. Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist deshalb verletzt, wenn das Berufungsgericht Vortrag einer Partei aufgrund von rechtlichen Erwägungen nicht berücksichtigt, die im Prozessrecht keine Stütze finden. Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs anzulasten. Die Beklagte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht die erstinstanzliche Aussage des Zeugen V. zu den Angaben des Klägers im Rahmen der Vertragsverhandlungen - die den entsprechenden zentralen Beklagtenvortrag bestätigten und welche sich die Beklagte überdies auch zumindest konkludent zu Eigen gemacht hat - keine Bedeutung zugemessen und sie damit bei der Entscheidung nicht erwogen hat.
Im Ausgangspunkt zutreffend ist das OLG allerdings davon ausgegangen, dass es nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des Gerichts des ersten Rechtszuges gebunden ist, zu denen auch die sogenannten tatbestandlichen Feststellungen gehören. Für die Frage, welche Tatsachen in erster Instanz vorgetragen, welche bestritten worden und welche unbestritten geblieben sind, erbringt der Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 314 ZPO Beweis. Die Beweiskraft des Tatbestands entfällt jedoch, soweit die Feststellungen Widersprüche oder Unklarheiten aufweisen. Einen solchen Widerspruch muss das Berufungsgericht von Amts wegen berücksichtigen. Der landgerichtliche Tatbestand enthält vorliegend - was das Berufungsgericht übersehen hat - einen solchen Widerspruch: Einerseits wird als unstreitig dargestellt, dass der Kläger dem Zeugen V. gesagt habe, er vermute, dass das Fahrzeug bei Karmann produziert worden sei; Nachweise habe er aber nicht. Andererseits schildert das Landgericht als streitigen Vortrag der Beklagten, der Kläger habe dem Zeugen V. erklärt, dass das Fahrzeug nach dem Werksbrand bei Karmann gefertigt worden sei. Diese Feststellungen sind miteinander nicht zu vereinbaren - entweder der Kläger hat die Produktion des zu verkaufenden Fahrzeugs im Karmann-Werk (ohne Einschränkungen) behauptet oder er hat sie lediglich vermutet und auf fehlende diesbezügliche Nachweise verwiesen. In Ermangelung eines nach § 314 ZPO bindenden Tatbestands scheidet auch eine Bindung des Berufungsgerichts an die tatbestandlichen Feststellungen des Landgerichts gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO aus und hätte das Berufungsgericht daher dem behaupteten Beklagtenvortrag und der diesen bestätigenden Aussage des Zeugen V. nachgehen müssen. Dies hätte - da eine Würdigung der Aussage des Zeugen V. im Vergleich zu den inhaltlich abweichenden Angaben des Klägers im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht und insbesondere Ausführungen zur Glaubwürdigkeit der beiden Personen im Vernehmungsprotokoll und im erstinstanzlichen Urteil fehlen - eine Wiederholung der Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht erfordert. Dass die Beschwerde nicht ausdrücklich die Verletzung der § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 314 ZPO rügt, ist dabei unschädlich; es genügt, dass sie auf ein im Ergebnis unberücksichtigt gebliebenes Beweismittel verweist und hierin eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG sieht.
C. Kontext der Entscheidung
Das tatsächliche Vorbringen der Parteien ist in erster Linie dem Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils zu entnehmen (§ 314 Satz 1 ZPO). Hierzu zählen auch die tatsächlichen Feststellungen, die in den Entscheidungsgründen enthalten sind. Neben dem formellen Tatbestand iSd. § 313 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 ZPO werden somit die tatbestandlichen Feststellungen des Urteils erfasst Enthält der Tatbestand eine Bezugnahme auf Schriftsätze und ihre Anlagen (§ 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO), ist davon auszugehen, dass auch deren Inhalt zum Bestandteil der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist. Die Beweiskraft des Tatbestands und damit auch die Bindung für das Berufungs- oder Revisionsgericht entfallen, soweit die Feststellungen Widersprüche oder Unklarheiten aufweisen. Derartige Widersprüche muss das Rechtsmittelgericht von Amts wegen berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 19. März 2015 – I ZR 139/14 –, Rn. 10, mwN.). Enthält der Tatbestand verschiedene miteinander nicht zu vereinbarende Feststellungen, ist er insoweit nicht geeignet, für das mündliche Parteivorbringen Beweis zu liefern. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn sich die Widersprüche aus tatsächlichen Angaben in den Entscheidungsgründen ergeben. Einen Vorrang des formellen Tatbestandes gegenüber den Entscheidungsgründen gibt es nicht, da § 314 Satz 1 ZPO nicht der formelle Tatbestandsbegriff zu Grunde liegt (MüKoZPO/Musielak/Hüntemann, 7. Aufl. 2025, ZPO § 314 Rn. 6).
D. Auswirkungen für die Praxis
Vom Geltungsbereich des § 314 ZPO werden auch diejenigen tatsächlichen Feststellungen erfasst, die in den Entscheidungsgründen enthalten sind (BGH, Urteil vom 14. Januar 2010 – I ZR 4/08 –, Rn. 9, mwN.). Die Beweiswirkung der Vorschrift erstreckt sich auch darauf, ob eine bestimmte Behauptung bestritten ist oder nicht (BGH, Urteil vom 17. Mai 2000 – VIII ZR 216/99 –, Rn. 24). Der Beweis kann nur durch das Sitzungsprotokoll, nicht jedoch durch den Inhalt der Schriftsätze entkräftet werden. Selbst bei einem Widerspruch zwischen ausdrücklichen "tatbestandlichen" Feststellungen und in Bezug genommenem Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze geht der "Tatbestand" vor. Eine etwaige Unrichtigkeit derartiger tatbestandlicher Darstellungen im Berufungsurteil kann nur im - fristgebundenen - Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO behoben werden (BGH, Urteil vom 8. Januar 2007 – II ZR 334/04 –, Rn. 11, mwN.). Daher muss auch die in erster oder zweiter Instanz obsiegende Partei das Urteil sowohl im Tatbestand als auch in den in den Entscheidungsgründen enthaltenen tatsächlichen Feststellungen darauf überprüfen, ob das Urteil „Unrichtigkeiten, die nicht unter die Vorschriften des vorstehenden Paragraphen (= Schreibfehler, Rechnungsfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten iSd. § 319 ZPO) fallen, Auslassungen, Dunkelheiten oder Widersprüche“ enthält. Die für einen Berichtigungsantrag geltende zweiwöchige Frist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, wie § 320 Abs. 2 Satz 1 ZPO bestimmt. Für den Streithelfer beginnt die Frist mit der Zustellung des vollständigen Urteils an die Hauptpartei, nicht erst mit einer Zustellung an ihn (BGH, Urteil vom 27. Februar 1963 – V ZR 86/61). Wiedereinsetzung nach §§ 233 ff. ZPO in die Antragsfrist ist nicht möglich (BeckOK ZPO/Elzer, 56. Ed. 1.3.2025, § 320 Rn. 35).
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