BGH: Fristwahrung bei Eingang beim unzuständigen Gericht
Ein elektronisch beim unzuständigen Gericht eingegangener Schriftsatz wahrt die Rechtsmittelfrist auch dann, wenn dieser bei einer postalischen Übersendung an das zuständige Rechtsmittelgericht dort innerhalb der noch offenen Rechtsmittelfrist eingeht.
BGH, Beschluss vom 9. April 2025 – XII ZB 163/24
A. Problemstellung
Der XII. Zivilsenat hatte sich (erneut) mit der Fragen zu befassen, unter welchen Voraussetzungen die postalische Weiterleitung eines als elektronisches Dokument beim (unzuständigen) Ausgangsgericht eingegangenen Schriftsatzes (hier: Berufung) zur Fristwahrung beim Rechtsmittelgericht führen kann.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger hat gegen das ihm am 30. Juni 2023 zugestellte Urteil des Landgerichts mit einem am 26. Juli 2023 beim Landgericht eingegangenen und an dieses adressierten Schriftsatz per beA Berufung eingelegt. Auf der ausgedruckten Berufungsschrift hat der zuständige Richter unter dem Datum des 28. Juli 2023, einem Freitag, handschriftlich die Weiterleitung „im Original“ an das zuständige OLG verfügt. Diese Verfügung wurde durch die Geschäftsstelle am 1. August 2023 ausgefertigt und zur Post gegeben. Am 3. August 2023 ist die Berufungsschrift beim OLG eingegangen. Nachdem der Kläger auf die Unzulässigkeit seiner Berufung hingewiesen worden ist, hat er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen, die Frist zur Einlegung der Berufung sei nebst Vorfrist im Fristenkalender eingetragen worden. Am 26. Juli 2023 habe sein Prozessbevollmächtigter die Berufungsschrift diktiert und diese einer Kanzleimitarbeiterin zur Erstellung des Schriftsatzes und zur Vorbereitung der Versendung per beA übergeben. Da entgegen den üblichen Kanzleiabläufen für das Berufungsverfahren keine neue Akte, sondern lediglich eine Unterakte angelegt worden sei, sei bei der Erstellung der Berufungsschrift das bereits aus der Vorinstanz hinterlegte Landgericht als Adressat übernommen worden. Als seinem Prozessbevollmächtigten der Schriftsatz zur Prüfung und Unterfertigung vorgelegt worden sei, habe dieser seine Mitarbeiterin aufgefordert, die fehlerhafte Adressierung zu ändern. Bei der Versendung des Schriftsatzes sei eine erneute Überprüfung dann nicht mehr erfolgt. Dies sei allerdings für eine etwaige Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung nicht ursächlich geworden. Die am 26. Juli 2023 beim Landgericht eingegangene Berufungsschrift hätte, insbesondere durch eine elektronische Übermittlung, im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs so rechtzeitig weitergeleitet werden können, dass die Frist habe gewahrt werden können.
Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung verworfen. Dem Kläger könne keine Wiedereinsetzung gewährt werden, da sein Prozessbevollmächtigter im Zusammenhang mit der Berufungseinlegung nicht die von einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernde übliche Sorgfalt habe walten lassen, weil er die richtige Adressierung der Berufungsschrift nach erneuter Vorlage durch seine Mitarbeiterin zur Signierung nicht mehr geprüft habe. Dieses Verschulden seines Prozessbevollmächtigten müsse sich der Kläger zurechnen lassen. Die Falschadressierung sei für die Fristversäumung kausal geworden, weil sie nicht so rechtzeitig beim unzuständigen Gericht eingegangen sei, dass eine fristwahrende Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang zu erwarten gewesen sei. Da die Berufungsschrift erst am Nachmittag des 26. Juli 2023 um 15:06:43 Uhr auf dem Gerichtsserver eingegangen sei, entspreche es einem ordentlichen Geschäftsgang, dass sie am 27. Juli 2023 auf der Geschäftsstelle der Akte zugeordnet und dem zuständigen Richter am nächsten Tag, also dem 28. Juli 2023, zur Bearbeitung vorgelegt worden sei. Ein ordentlicher Geschäftsgang erfordere darüber hinaus nicht, dass das unzuständige Gericht die Weiterleitung einer fristgebundenen Rechtsmittelschrift an das zuständige Rechtsmittelgericht beschleunigt veranlasse. Der Kläger habe ferner nicht davon ausgehen können, dass im Rahmen eines ordnungsgemäßen Geschäftsganges eine die Berufungsfrist möglicherweise wahrende elektronische Weiterleitung des Berufungsschriftsatzes erfolgen würde. Eine elektronische Übermittlung von zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt noch in Papierform zu führenden Akten oder Schriftsätzen vom Instanz- an das Rechtsmittelgericht habe nicht als ordnungsgemäßer Geschäftsgang angesehen werden können. Der Kläger habe auch nicht darauf vertrauen dürfen, dass das Landgericht seinen Prozessbevollmächtigten zeitnah auf die fehlerhafte Bezeichnung des Berufungsgerichts hinweisen werde.
Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung abgelehnt. Hat eine Partei die Berufungsfrist versäumt, ist ihr nach § 233 Satz 1 ZPO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt. Verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. Von diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht ausgegangen. Es hat rechtsbedenkenfrei ein dem Kläger zurechenbares Verschulden seines Prozessbevollmächtigten darin gesehen, dass dieser die Berufungsschrift an das Landgericht übermittelt hat, ohne die Angabe des als Adressat bezeichneten Gerichts erneut zu prüfen und zu korrigieren, als ihm die Berufungsschrift ein zweites Mal vorgelegt wurde. Ein Verfahrensbevollmächtigter hat dafür zu sorgen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingeht. Dabei gehört die Erstellung einer fristwahrenden Rechtsmittelschrift zu den Aufgaben, die ein Rechtsanwalt seinem angestellten Büropersonal nicht übertragen darf, ohne das Arbeitsergebnis auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit selbst sorgfältig zu überprüfen. Insbesondere hat er die Rechtsmittelschrift vor Anbringung der qualifizierten elektronischen Signatur oder der Übermittlung per beA auch auf die richtige Bezeichnung des für die Entgegennahme zuständigen Gerichts zu kontrollieren und eine fehlerhafte Angabe zu berichtigen. Diesen Sorgfaltsanforderungen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht genügt, als ihm der Berufungsschriftsatz zum zweiten Mal vorgelegt worden ist. Dass er bei der ersten Vorlage des fehlerhaften Schriftsatzes seiner Kontrollpflicht nachgekommen und die richtigen Anweisungen zur Korrektur gegeben hat, ist nicht entscheidend. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Schriftsatz ein weiteres Mal in seinen eigenen Kontroll- und damit auch Verantwortungsbereich gelangt ist und er ihn diesmal ungeprüft per beA versandt hat.
Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Kläger nicht darauf vertrauen durfte, das Landgericht werde seine Berufungsschrift bis zum Ablauf der Berufungsfrist an das Berufungsgericht weiterleiten. Geht ein fristgebundener Schriftsatz statt beim Rechtsmittelgericht bei dem erstinstanzlichen Gericht ein, ist dieses grundsätzlich verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch des Rechtsuchenden auf ein faires Verfahren. Geht der Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf die Partei darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig beim Rechtsmittelgericht eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Nach diesen Grundsätzen konnte der Kläger nicht erwarten, dass die am 26. Juli 2023 beim Landgericht eingegangene Berufungsschrift bei einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang das Berufungsgericht fristgerecht bis zum 31. Juli 2023 erreichen werde. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Befassung des zuständigen Richters mit der Berufungsschrift nicht vor dem 28. Juli 2023 zu erwarten war. Im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs ist üblicherweise damit zu rechnen, dass ein an eine zentrale gerichtliche Annahmestelle gesandter Schriftsatz am nächsten Werktag auf der zuständigen Geschäftsstelle eingeht und dem zuständigen Richter an dem darauffolgenden Werktag vorgelegt wird. Ein fristwahrender Eingang der Berufungsschrift beim zuständigen Oberlandesgericht am Montag, dem 31. Juli 2023, wäre daher nur erfolgt, wenn die Weiterleitungsverfügung des zuständigen Richters vom 28. Juli 2023, einem Freitag, noch an diesem Tag zur Geschäftsstelle gelangt und dort ausgeführt worden wäre. Das unzuständige Gericht ist jedoch nicht verpflichtet, dem zuständigen Gericht den fristgebundenen Schriftsatz unter höchster Beschleunigung zukommen zu lassen. Der Kläger konnte deshalb nicht erwarten, dass die richterliche Verfügung einer Weiterleitung noch am selben Tag zur Geschäftsstelle gelangt, dort bearbeitet und der Schriftsatz zur Post gegeben wird. Vielmehr entspricht es dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterlich verfügte Weiterleitung am darauffolgenden Werktag - im vorliegenden Fall am Montag, dem 31. Juli 2023 - umsetzt.
Der Kläger konnte auch nicht erwarten, dass die Geschäftsstelle des Landgerichts die Berufungsschrift auf elektronischem Weg an das Berufungsgericht weiterleiten und auf diese Weise den fristgerechten Eingang des Schriftsatzes sicherstellen werde. Dem steht bereits entgegen, dass eine elektronische Weiterleitung von Schriftsätzen zwischen dem Landgericht und dem zuständigen OLG jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprach. Die Klage wurde zu einem Zeitpunkt beim Landgericht eingereicht, zu dem dort die Akten noch in Papierform geführt wurden. Eine generelle aktive Nutzungspflicht des Elektronischen Gerichts- und Behördenpostfachs - analog zur aktiven Nutzungspflicht für Rechtsanwälte nach § 130 d ZPO - besteht für Gerichte (jedenfalls derzeit noch) nicht. Jedenfalls unter diesen Umständen war das Landgericht nicht gehalten, die Berufungsschrift elektronisch an das OLG weiterzuleiten.
C. Kontext der Entscheidung
Der Senat hat - nach Erlass des angefochtenen Beschlusses - entschieden, dass die Einreichung eines Schriftsatzes, der unter Einhaltung der nach § 130 d Satz 1 ZPO zwingend erforderlichen Kommunikationsform bei einem unzuständigen Gericht eingegangen ist, grundsätzlich die erforderliche Form wahrt. Wird dieser Schriftsatz dann dort ausgedruckt und in Papierform an das zuständige Gericht weitergeleitet, etwa weil bei dem unzuständigen Gericht noch eine Papierakte geführt wird oder eine elektronische Übermittlung aus anderen Gründen nicht möglich ist, ändert dies nichts daran, dass der Rechtsanwalt seiner Verpflichtung zur elektronischen Einreichung des Schriftsatzes nach § 130 d Satz 1 ZPO nachgekommen ist (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 411/23). Deshalb wahrt ein elektronisch beim unzuständigen Gericht eingegangener Schriftsatz die Rechtsmittelfrist, sofern dieser bei einer postalischen Übersendung an das zuständige Rechtsmittelgericht dort innerhalb der noch offenen Rechtsmittelfrist eingeht. Denn weder aus dem Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen in den §§ 130a, 130d ZPO noch aus ihrem Zweck ergibt sich, dass ein mit einer einfachen Signatur versehener Schriftsatz, der per beA und damit auf einem dafür gesetzlich vorgesehenen Weg elektronisch an ein unzuständiges Gericht übermittelt wurde, nur dann der Form der §§ 130d Satz 1, 130a Abs. 3 und 4 ZPO genügt, wenn er auch beim zuständigen Gericht in elektronischer Form eingeht (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 411/23 -, Rn. 24).
D. Auswirkungen für die Praxis
Ein beim unzuständigen Gericht eingegangener Schriftsatz hat keine fristwahrende Wirkung, weil hierfür der Eingang beim zuständigen Gericht erforderlich ist und es selbst bei Nutzung eines identischen Intermediärs durch die Gerichte eines Bundeslandes für den fristgerechten Eingang beim zuständigen Gericht darauf ankommt, wann das Dokument gerade auf dem für dieses Gericht eingerichteten Empfänger-Intermediär im Netzwerk für das EGVP gespeichert worden ist (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 411/23 -, Rn. 25). Eine Partei darf zwar darauf vertrauen, dass der beim unzuständigen Gericht eingereichte Schriftsatz noch rechtzeitig an das zuständige Gericht weitergeleitet wird, wenn dieser Schriftsatz so frühzeitig eingegangen ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann. Kommt das angerufene Gericht dem nicht nach, wirkt sich das Verschulden der Partei oder ihrer Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 – XII ZB 61/12 –, Rn. 9). Voraussetzung ist aber, dass die Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht nicht mehr im ordentlichen Geschäftsgang erfolgt ist (BGH, Beschluss vom 15. Juni 2011 – XII ZB 468/10 –, Rn. 13). Das gilt auch deswegen, weil die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht der Gerichte keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit erfordert (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. Januar 2006 – 1 BvR 2558/05). Im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs ist üblicherweise damit zu rechnen, dass ein an eine zentrale gerichtliche Annahmestelle gesandter Schriftsatz am nächsten Werktag auf der zuständigen Geschäftsstelle eingeht und dem zuständigen Richter an dem darauf folgenden Werktag vorgelegt wird (BGH, Beschluss vom 20. April 2023 – I ZB 83/22 –, Rn. 18). Reicht eine Partei eine Rechtsmittelschrift beim unzuständigen Ausgangsgericht ein, so entspricht es regelmäßig dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterliche Verfügung der Weiterleitung des Schriftsatzes an das Rechtsmittelgericht am darauf folgenden Werktag ausführt (BGH, Beschluss vom 20. April 2023 - I ZB 83/22 -, Rn. 22).
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