BGH: Statthaftigkeit des Einspruch gegen VU
Ist im Rahmen des schriftlichen Vorverfahrens auf der Grundlage von §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO ein Versäumnisurteil ergangen, ist für die durch dieses Urteil beschwerte säumige Partei der Einspruch jedenfalls dann statthaft, sobald die erste der gemäß § 310 Abs. 3 ZPO erforderlichen Zustellungen wirksam geworden ist.
BGH, Urteil vom 11. Juni 2025 – IV ZR 83/24
A. Problemstellung
Bei einem Versäumnisurteil, das nach § 331 Abs. 3 nach schriftlichen Vorverfahren ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, wird die Verkündung durch die Zustellung des Urteils ersetzt (§ 310 Abs. 3 ZPO). Der IV. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob gegen ein im schriftlichen Vorverfahren erlassenes Versäumnisurteil Einspruch eingelegt werden kann, bevor dieses beiden Prozessparteien zugestellt worden ist.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger macht als Insolvenzverwalter gegen die Beklagte einen Deckungsanspruch aus einer Vermögensschadenhaftpflichtversicherung für Geschäftsführer in Höhe von 2.000.000 € geltend. Das Landgericht München I hat das schriftliche Vorverfahren angeordnet. Nach Ablauf der Frist zur Anzeige der Verteidigungsbereitschaft hat es die Beklagte mit Versäumnisurteil vom 12. Februar 2021 antragsgemäß verurteilt. Das Versäumnisurteil ist dem Kläger am 17. Februar 2021 und der Beklagten am 19. Februar 2021 zugestellt worden. Bereits mit einem bei Gericht am selben Tag eingegangenen Schriftsatz vom 18. Februar 2021 hat die Beklagte "gegen ein möglicherweise bereits ergangenes Versäumnisurteil" Einspruch eingelegt sowie Klagabweisung und die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil beantragt. Mit Schriftsatz vom 4. Mai 2021 hat die Beklagte vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der Einspruchsfrist beantragt und erneut Einspruch eingelegt. Das Landgericht München I hat sich mit Beschluss vom 20. Mai 2021 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit auf Antrag des Klägers an das Landgericht Wiesbaden verwiesen. Dieses hat den Einspruch der Beklagten als zulässig behandelt und unter Aufhebung des Versäumnisurteils die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht das Urteil geändert und der Klage stattgegeben. Die Einspruchsfrist des § 339 Abs. 1 ZPO habe erst mit der Zustellung des Versäumnisurteils an die Beklagte am 19. Februar 2021 begonnen. Davon ausgehend sei die Frist des § 339 Abs. 1 ZPO am 5. März 2021 abgelaufen. Innerhalb dieser Frist habe die Beklagte nicht wirksam Einspruch eingelegt.
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war der von der Beklagten am 18. Februar 2021 eingelegte Einspruch statthaft und auch im Übrigen zulässig. Zwar erfolgte die Zustellung des Versäumnisurteils an die Beklagte erst am 19. Februar 2021. Das Versäumnisurteil war aber jedenfalls deshalb am 18. Februar 2021 bereits einspruchsfähig, weil dessen Zustellung an den Kläger am 17. Februar 2021 bewirkt worden war. Allerdings ist es umstritten, ob gegen ein nach §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO im schriftlichen Vorverfahren erlassenes Versäumnisurteil Einspruch eingelegt werden kann, bevor die letzte der anstelle der Verkündung zu bewirkenden Zustellungshandlungen wirksam geworden ist. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage bislang offengelassen und eine Statthaftigkeit des Einspruchs in vergleichbaren Verfahrenskonstellationen stattdessen auf das Vorliegen des Rechtsscheins eines wirksamen Versäumnisurteils gestützt (Nachweise Rn. 8). In der Literatur wird überwiegend angenommen, der Einspruch könne wirksam erst ab dem Zeitpunkt der letzten Amtszustellung eingelegt werden, die im Rahmen von § 310 Abs. 3 ZPO die Verkündung ersetze. Ein Einspruch vor Bewirkung der letzten Zustellungshandlung sei allenfalls zur Beseitigung eines zuvor gesetzten Rechtsscheins zulässig (Nachweise Rn. 9). Die Gegenauffassung nimmt demgegenüber an, der Einspruch könne bereits vor Bewirkung der letzten Zustellungshandlung eingelegt werden, wobei innerhalb dieser Meinung danach unterschieden wird, ob das unterschriebene Urteil im Sinne von § 331 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO auf die Geschäftsstelle gelangt sei, die Geschäftsstelle das Urteil zur Zustellung herausgegeben habe oder die erste der nach § 310 Abs. 3 ZPO zu bewirkenden Zustellungen wirksam geworden sei (Nachweise Rn. 10).
Die letztgenannte Auffassung trifft zu. Ist im Rahmen des schriftlichen Vorverfahrens auf der Grundlage von §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO ein Versäumnisurteil ergangen, ist für die durch dieses Urteil beschwerte säumige Partei der Einspruch jedenfalls dann statthaft, sobald die erste der gemäß § 310 Abs. 3 ZPO erforderlichen Zustellungen wirksam geworden ist. Das ergibt sich aus den Besonderheiten der im Verfahren nach §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO anstelle der Verkündung vorgesehenen Verlautbarung des Urteils durch Zustellung und einer am Anspruch der säumigen Partei auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes orientierten Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Bestimmungen des Verfahrensrechts. Allerdings wird ein nach §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO im schriftlichen Vorverfahren erlassenes Versäumnisurteil erst wirksam, wenn die Zustellung an sämtliche beteiligten Parteien bewirkt worden ist. Dementsprechend wird auch die Einspruchsfrist des § 339 Abs. 1 ZPO erst mit der letzten von Amts wegen zu bewirkenden Zustellung in Lauf gesetzt. Diese Gesichtspunkte stehen der Statthaftigkeit des Einspruchs der säumigen Partei aber spätestens dann nicht mehr entgegen, sobald die erste der nach § 310 Abs. 3 ZPO erforderlichen Zustellungen bewirkt worden ist. Bei der Anwendung und Auslegung des Verfahrensrechts ist zu beachten, dass Verfahrensvorschriften kein Selbstzweck sind, sondern letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozessbeteiligten dienen und die einwandfreie Durchführung des Rechtsstreits unter Wahrung der Rechte aller Beteiligten sicherstellen und nicht behindern sollen. Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch der Parteien auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Beteiligten den Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Diese Grundsätze gelten nicht nur für den erstinstanzlichen Zugang zu den Gerichten und für den Rechtsmittelzug im Zivilprozess, sondern auch für den Zugang fristwahrender Schriftsätze innerhalb der Instanz, wenn ihnen die gleiche Wirkung wie einem Rechtsmittelschriftsatz zukommt. Deshalb finden sie auch für das innerhalb der Instanz nach §§ 330 ff. ZPO stattfindende Säumnisverfahren Anwendung. Sachgründe, die es im Lichte dieser an die zivilprozessuale Rechtsanwendung zu stellenden Anforderungen gebieten würden, die Einspruchsfähigkeit eines Versäumnisurteils von dem formellen Gesichtspunkt der vollständigen Erfüllung des gestreckten Verlautbarungstatbestandes des § 310 Abs. 3 ZPO abhängig zu machen, liegen nicht vor.
Aus dem Umstand, dass die Wirksamkeit des gemäß § 310 Abs. 3 ZPO verlautbarten Urteils bis zur Bewirkung der Zustellungen an sämtliche beteiligten Parteien aufgeschoben ist, lässt sich ein solcher Sachgrund nicht ableiten. Die Bestimmung des § 310 Abs. 3 ZPO regelt einen mehraktigen Verlautbarungstatbestand, der gegenüber den Parteien - im Gegensatz zu der als Regelfall vorgesehenen Verkündung des Urteils in öffentlicher Sitzung gemäß §§ 310 Abs. 1, 311 Abs. 2 ZPO, die zeitgleich für alle beteiligten Parteien erfolgt - notwendigerweise zeitlich gestaffelt zu unterschiedlichen Zeitpunkten über einen gestreckten Zeitraum hinweg verwirklicht werden kann. Die das Gericht aufgrund seines Urteils gemäß § 318 ZPO treffende Bindungswirkung tritt auch in den Fällen des § 310 Abs. 3 ZPO ein, sobald das Urteil an (nur) eine der Parteien zugestellt ist. Sobald im Rahmen des § 310 Abs. 3 ZPO die Zustellung an eine der beteiligten Parteien bewirkt ist, kann das Gericht seine Entscheidung nicht mehr abändern und es ist verpflichtet, auch die noch ausstehenden Zustellungen durchzuführen, um dem Urteil Wirksamkeit zu verleihen. Dass und mit welchem Inhalt das Urteil später Wirksamkeit erlangen wird, steht ab diesem Zeitpunkt fest; die Wirksamkeit ist bis zur vollständigen Bewirkung der erforderlichen Zustellungen lediglich aufgeschoben. Für den Fall eines Versäumnisurteils im schriftlichen Vorverfahren nach §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO steht dann zugleich fest, dass die beschwerte Partei nur noch mit dem Einspruch gegen das sich in der Entstehung befindliche Versäumnisurteil wird vorgehen können. Ein Sachgrund, die Einspruchsfähigkeit des Versäumnisurteils bis zur vollständigen Verwirklichung des Verlautbarungstatbestandes hinauszuschieben, besteht hingegen nicht.
Die Einlegung eines Rechtsmittels setzt zwar grundsätzlich das Vorliegen einer anzufechtenden Entscheidung voraus. Das gilt auch für den Einspruch und soll letztlich sicherstellen, dass der Rechtsbehelf nicht ohne bestimmbaren Prüfungsgegenstand eingelegt werden kann. Ohne diese Voraussetzung der Statthaftigkeit wäre es sonst insbesondere im Säumnisverfahren möglich, einen Einspruch "auf Vorrat" einzulegen, der trotz Säumnis und Untätigkeit der beschwerten Partei zur Anberaumung eines Einspruchstermins nach § 341a ZPO führen müsste. Das Erfordernis eines bestimmbaren Anfechtungsgegenstandes steht der Statthaftigkeit eines Einspruchs gegen ein im schriftlichen Vorverfahren erlassenes Versäumnisurteil aber jedenfalls dann nicht mehr entgegen, wenn - wie hier - die erste der nach § 310 Abs. 3 ZPO erforderlichen Zustellungen bewirkt ist und das Urteil deshalb nach Gegenstand und Inhalt bestimmbar ist. Ist der Eintritt der Wirksamkeit eines nach Gegenstand und Inhalt bestimmbaren Urteils bereits vorgezeichnet, kann es zugleich Gegenstand eines Rechtsbehelfs sein. Ein Sachgrund, diese Fallkonstellation, in der die Wirksamkeit lediglich bis zur Bewirkung der weiteren erforderlichen Zustellungen aufgeschoben ist, abweichend von dem Fall eines (völlig) wirkungslosen - aber als Anfechtungsgegenstand bestimmbaren - Scheinurteils zu behandeln, hinsichtlich dessen die Rechtsmittelfähigkeit allgemein anerkannt ist, besteht nicht.
Auch den Zwecken, die das Zivilprozessrecht mit der Anordnung der Verkündung von Urteilen und der Zustellung an Verkündungs statt verfolgt, lässt sich kein Sachgrund entnehmen, der gegen die Einspruchsfähigkeit des nur an eine Partei zugestellten Versäumnisurteils spricht. Die im Regelfall vorgesehene Verkündung eines Urteils in öffentlicher Sitzung als formale Bekanntgabe des Ergebnisses eines Rechtsstreits unterstreicht die zentrale Bedeutung des Urteils als hoheitlichem Staatsakt. Der Verlautbarungsakt, der die vorherige schriftliche Fixierung des Tenors erfordert, soll die Richtigkeitsgewähr erhöhen. Zudem soll er dem Gericht den mit der Verkündung verbundenen Abschluss des Rechtsstreits sowie die nach § 318 ZPO eintretende Bindung bewusst machen und eine letzte gerichtliche Selbstkontrolle ermöglichen. Diese Zwecke werden für die durch §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO eröffnete Möglichkeit, ein Versäumnisurteil im schriftlichen Vorverfahren ohne Durchführung eines Verkündungstermins durch Zustellung zu erlassen, durch das Ziel ergänzt, die nicht echt streitigen Sachen mit möglichst geringem Arbeitsaufwand ausscheiden zu können. Keiner dieser Zwecke gebietet es indessen, die Einspruchsfähigkeit eines Versäumnisurteils an die vollständige Erfüllung des in § 310 Abs. 3 ZPO geregelten Verlautbarungstatbestandes zu knüpfen. Ihnen ist vielmehr jedenfalls dann Genüge getan, wenn die erste im Rahmen des § 310 Abs. 3 ZPO erforderliche Zustellung wirksam geworden ist. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist der bezweckte Verlautbarungserfolg (zumindest teilweise) dadurch eingetreten, dass das Urteil mit dem Willen des Gerichts als dessen für den zu beurteilenden Einzelfall geltende Entscheidung aus seiner internen Sphäre herausgetreten ist. Da eine Rücknahme oder Abänderung der Entscheidung ab diesem Zeitpunkt wegen der gemäß § 318 ZPO eingetretenen Bindung des Gerichts nicht mehr in Betracht kommt, ist auch ein Schutz der richterlichen Entscheidungsbefugnis vor einer übereilten oder unrichtigen Entscheidung nicht mehr geboten. Die zudem durch §§ 331 Abs. 3, 310 Abs. 3 ZPO bezweckte Verfahrensbeschleunigung wird durch eine vorgezogene Einspruchsfähigkeit nicht beeinträchtigt, sondern - im Gegenteil - gefördert, da für das Gericht zu einem früheren Zeitpunkt Klarheit darüber besteht, ob ein Einspruchstermin (§ 341a ZPO) durchzuführen ist, ohne dass die säumige Partei zuvor vor der Einspruchserhebung die Wirksamkeit sämtlicher Zustellungen abwarten und überwachen müsste.
Ein Sachgrund dafür, die Einspruchsfähigkeit bis zur vollständigen Erfüllung des in § 310 Abs. 3 ZPO geregelten Verlautbarungstatbestandes aufzuschieben, ergibt sich auch nicht aus der Verknüpfung des Beginns der Einspruchsfrist mit dem Wirksamwerden der letzten Zustellung. Ein Rechtsmittel gegen eine bereits verlautbarte Entscheidung kann schon vor dem gesetzlich festgelegten Fristbeginn eingelegt und begründet werden. Voraussetzung für die Zulässigkeit des Rechtsmittels ist insoweit nur, dass die Entscheidung bereits erlassen ist. Dass der Einspruch gegen ein Versäumnisurteil vor diesem Hintergrund bereits statthaft sein kann, bevor die Einspruchsfrist durch Zustellung in Lauf gesetzt worden ist, ist für das gemäß § 311 Abs. 2 ZPO in öffentlicher Sitzung verkündete Versäumnisurteil allgemein anerkannt. Die Bedeutung des Beginns der Einspruchsfrist beschränkt sich demgemäß darauf, dass sie als Ausgangspunkt für die Berechnung des zum Ausschluss des Rechtsbehelfs führenden Fristendes dient. Daraus ergibt sich aber keine Rechtfertigung dafür, einen vor Beginn der Einspruchsfrist eingelegten Einspruch als unstatthaft anzusehen. Auch aus den prozessualen Interessen der beteiligten Parteien lässt sich kein Sachgrund dafür ableiten, den Einspruch erst nach vollständiger Erfüllung des in § 310 Abs. 3 ZPO geregelten Tatbestandes zuzulassen. Vielmehr erfordern die Belange der durch das Versäumnisurteil beschwerten Partei in der Regel das Gegenteil. Ließe man in dem Fall, in dem die zeitlich erste der gemäß § 310 Abs. 3 ZPO erforderlichen Zustellungen an die säumige Partei erfolgte, den Einspruch der säumigen Partei erst zu, nachdem der Verlautbarungstatbestand des § 310 Abs. 3 ZPO vollständig erfüllt ist, käme es - abgesehen von Rechtsscheinerwägungen - für die Statthaftigkeit des Einspruchs darauf an, dass die Zustellung auch an die - nicht beschwerte - Gegenpartei bewirkt worden ist. Dem Einspruchsführer würde damit, ohne dass hierfür ein dies rechtfertigendes prozessuales Interesse der Gegenpartei bestünde, das Zustellungsrisiko betreffend die ausstehenden Zustellungen aufgebürdet. Schützenswerte Belange der durch das Versäumnisurteil begünstigten Partei, die eine abweichende Behandlung des - hier gegebenen - umgekehrten Falles erforderten, sind nicht ersichtlich.
C. Kontext der Entscheidung
Der Einspruch der Beklagten war auch nicht deshalb unzulässig, weil er nur bedingt eingelegt worden wäre. Zwar darf die Einlegung eines Rechtsmittels in der Regel nicht von einer inner- oder außerprozessualen Bedingung abhängig gemacht werden. Ob ein Rechtsmittel als unbedingt oder als bedingt eingelegt anzusehen ist, kann aber im Einzelfall eine Frage der Auslegung sein. Für die Auslegung von Prozesserklärungen ist - ebenso wie bei materiell-rechtlichen Willenserklärungen - nicht allein der Wortlaut der Erklärung maßgebend. Entscheidend ist vielmehr der erklärte Wille, wie er auch aus den Begleitumständen und nicht zuletzt der Interessenlage hervorgehen kann. Im Zweifel gilt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht. Sind die gesetzlichen Anforderungen an eine Rechtsmittelschrift erfüllt, kommt eine Deutung, dass das Rechtsmittel nicht unbedingt eingelegt ist, nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt. Diese Grundsätze gelten auch für den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil, bei dem es sich zwar nicht um ein Rechtsmittel im engeren Sinne handelt, wohl aber um einen mit Suspensiveffekt versehenen Rechtsbehelf. Der Einspruch hat als prozessuale Bewirkungshandlung gestaltende Wirkung auf das Prozessrechtsverhältnis und ist als Verfahrenshandlung der Auslegung zugänglich. An diesen Grundsätzen gemessen hat die Beklagte ihren Einspruch nicht von einer Bedingung abhängig gemacht. Sie hat in ihrem Schriftsatz vom 18. Februar 2021 beantragt, "die Klage kostenpflichtig abzuweisen" und "gleichzeitig … gegen ein möglicherweise bereits ergangenes Versäumnisurteil Einspruch" eingelegt. Dem Wortlaut ihrer Erklärung, die ausdrücklich von einem Nebeneinander ("gleichzeitig") von Klagabweisungsantrag und Einspruch ausgeht, lässt sich die Einlegung des Einspruchs unter einer Bedingung jedenfalls nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen. Ergänzend tritt hinzu, dass auch der in demselben Schriftsatz gestellte Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung "aus dem Versäumnisurteil", der nur im Zusammenspiel mit der Einlegung des Einspruchs Sinn ergibt, seinem Wortlaut nach nicht unter eine Bedingung gestellt ist. Dies legt den Willen der Beklagten nahe, den Einspruch mit dem Risiko - unbedingt - einzulegen, dass dieser mangels eines einspruchsfähigen Versäumnisurteils ins Leere geht. Ein solches Vorgehen - die vorsorgliche (unbedingte) Einlegung eines möglicherweise ins Leere gehenden Rechtsbehelfs - wird dem Rechtsanwalt, der im Interesse seines Mandanten den sichersten Weg zu gehen hat, in unsicheren Verfahrenssituationen zur Einhaltung der ihn treffenden Sorgfaltspflichten abverlangt. Gerade hierauf ist es dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten in der damaligen Verfahrenssituation, in der die Beklagte aufgrund des Ablaufs der Frist zur Anzeige der Verteidigungsbereitschaft ein Versäumnisurteil erwarten musste, über dessen Erlass sie in tatsächlicher Hinsicht aber im Unklaren war, angekommen. Die unbedingte Einlegung des Einspruchs entspricht auch dem wohlverstandenen Interesse der Beklagten, denn aus den gestellten Anträgen wird deutlich, dass sie sich unter allen Umständen - auch für den Fall, dass ein Versäumnisurteil ergangen ist - gegen die Klage verteidigen wollte (BGH, Urteil vom 11. Juni 2025 – IV ZR 83/24 –, Rn. 29).
D. Auswirkungen für die Praxis
Grundsätzlich beginnt der Lauf einer Rechtsmittelfrist für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der Entscheidung Etwas anderes gilt jedoch für Entscheidungen, bei denen die Verkündung durch die Zustellung ersetzt wird (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 1994 – XII ZB 90/94 –, Rn. 13). Die Frist für den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil, das im schriftlichen Vorverfahren erlassen worden ist, beginnt daher erst mit der letzten der von Amts wegen zu bewirkenden Zustellungen an die Parteien. Der BGH hat ausdrücklich dahinstehen lassen, ob ein Schriftsatz, mit dem sich ein Beklagter in Unkenntnis eines zwischenzeitlich gegen ihn ergangenen Versäumnisurteils gegen die Klage verteidigt, im Wege der Umdeutung entsprechend § 140 BGB als Einspruch zu behandeln werden kann (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 1994 – XII ZB 90/94 –, Rn. 10). § 140 BGB findet auch im Prozessrecht entsprechende Anwendung (Nassall in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 140 BGB (Stand: 18.03.2025), Rn. 59 mwN.). Steht die Umdeutung eines Rechtsmittels in ein anderes in Rede, kommt es darauf an, ob die Voraussetzungen des Rechtsmittels, in das umgedeutet werden soll, erfüllt sind. Eine bei einem unzuständigen Gericht eingereichte Beschwerde kann deshalb nicht in eine Rechtsbeschwerde zum BGH umgedeutet werden (BGH, Beschluss vom 20. März 2002 – XII ZB 27/02 -, Rn. 4). Die Umdeutung einer fehlerhaften prozessualen Erklärung oder Verfahrenshandlung (§ 140 BGB analog) kommt in Betracht, wenn die Erklärung oder Verfahrenshandlung wegen ihrer Eindeutigkeit und Klarheit einer berichtigenden Auslegung nicht zugänglich ist, aber den Voraussetzungen einer anderen, den gleichen Zwecken dienenden entspricht, die verfahrensrechtlich wirksam ist; die Umdeutung darf erfolgen, wenn ein entsprechender Wille des erklärenden Beteiligten genügend deutlich erkennbar ist und kein schutzwürdiges Interesse des Gegners entgegensteht (BGH, Beschluss vom 29. März 2023 – XII ZB 409/22 –, Rn. 19).
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