BGH: Zum Ausschluss von der Ausübung des Richteramts

10.6.2025
1
 min Lesezeit
Auf LinkedIn teilen

1. Ein Richter, der in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hat, das im die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist, ist nicht nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen.
2. In einem solchen Fall kommt eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit nur im Einzelfall in Betracht, wenn besondere Umstände darauf hindeuten, dass der Richter nicht bereit ist, seine frühere Beurteilung ergebnisoffen zu überprüfen.
BGH, Beschluss vom 27. März 2025 – I ZB 40/24

A. Problemstellung
Der I. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob der Vorsitzende eines Berufungssenats gemäß § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen ist, wenn er in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hatte, das in dem die Instanz abschließenden streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In einem Wettbewerbsprozess war Vorsitzender Richter am OLG K. (im Folgenden: K.), damals noch als Vorsitzender einer Zivilkammer des Landgerichts, in erster Instanz am Erlass eines (ersten) Versäumnisurteils gegen die Beklagte beteiligt. Durch Endurteil, erlassen ohne die Beteiligung von K., erhielt die Kammer das Versäumnisurteil im Wesentlichen aufrecht. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. K. sitzt dem zuständigen Berufungssenat des OLG vor. Die Beklagte meint, er sei wegen Mitwirkung an der angefochtenen Entscheidung nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen. Der Berufungssenat hat das Ablehnungsgesuch der Beklagten für unbegründet erklärt. Die Mitwirkung an einem die Instanz nicht abschließenden Versäumnisurteil führe nicht zu einem Ausschluss nach § 41 Nr. 6 ZPO. Es sei auch nicht nach § 42 Abs. 2 ZPO die Besorgnis der Befangenheit begründet. Aus Sicht eines objektiven Betrachters sei die Neutralität des Richters durch seine frühere Befassung nicht in Frage gestellt. Es liege keine atypische prozessuale Situation vor, die - auch ohne Hinzutreten weiterer, in der Person des abgelehnten Richters begründeter Umstände - bei einer besonnen denkenden Partei bei vernünftiger Betrachtung die begründete Besorgnis der Befangenheit entstehen lassen könne (OLG Frankfurt, Beschluss vom 8. Mai 2024 – 6 U 212/23).
Die Rechtsbeschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Oberlandesgericht auf Veranlassung des betroffenen Richters (§ 48 Fall 2 ZPO) und auf das Ablehnungsgesuch der Beklagten (§ 42 Abs. 1 ZPO) entschieden, dass dieser zur Mitwirkung in zweiter Instanz berufen ist. K. ist im vorliegenden Berufungsverfahren nicht nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen. Danach ist ein Richter in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt, von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen. Dieser Ausschlussgrund greift nicht ein, wenn der Richter - wie im Streitfall - in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hat, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist.
Es liegt zwar eine Mitwirkung in einem früheren Rechtszug vor, die sich nicht lediglich auf die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters erstreckt. Die Mitwirkung betrifft jedoch nicht den Erlass der angefochtenen Entscheidung. Nach § 511 Abs. 1 ZPO findet die Berufung gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile statt. Vorliegend ist das die erste Instanz beendende Urteil nicht das Versäumnisurteil vom 8. März 2023, an dem K. mitgewirkt hat, sondern das Urteil vom 23. November 2023 aufgrund streitiger mündlicher Verhandlung, an dem K. nicht mitgewirkt hat. Dass mit dem angefochtenen Urteil ein unter Mitwirkung des Richters erlassenes Versäumnisurteil aufrechterhalten worden ist (§ 343 Satz 1 ZPO), stellt keine Mitwirkung des Richters an der angefochtenen Entscheidung dar. Bei einem zulässigen Einspruch gegen ein Versäumnisurteil ist das Gericht zu einer vollständigen Prüfung der Sache verpflichtet, und zwar auch dann, wenn der durch § 342 ZPO bewirkte Wegfall der Geständnisfiktion des § 331 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht zu einer Veränderung der Tatsachengrundlage führt. Insbesondere kann und muss es die Schlüssigkeit der Klage ohne Bindung an das Versäumnisurteil neu beurteilen. Die in § 343 Satz 1 ZPO vorgesehene Aufrechterhaltung des Versäumnisurteils hat den vollstreckungsrechtlichen Grund, dass bereits getroffene Vollstreckungsmaßnahmen fortgelten sollen. Soweit das Berufungsgericht zu einer anderen Beurteilung gelangt und das durch die erstinstanzliche Endentscheidung aufrechterhaltene Versäumnisurteil aufhebt, dient dies der Beseitigung der darin liegenden Vollstreckungsgrundlage. Das Versäumnisurteil wird dadurch nicht zur im Berufungsrechtszug angefochtenen Entscheidung.    
Es ist nicht geboten, die Regelung des § 41 Nr. 6 ZPO über ihren Wortlaut hinaus auf die Mitwirkung an einem ersten Versäumnisurteil anzuwenden, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist. Die Zivilprozessordnung wird von dem Gedanken geprägt, dass Richterinnen und Richter grundsätzlich auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn sie sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet haben. Das Verfahrensrecht sieht sie dazu in der Lage, ihre rechtliche Beurteilung fortlaufend zu überprüfen, sei es innerhalb desselben Verfahrens, sei es in einem nachfolgenden Verfahren. Die Regelung des § 41 Nr. 6 ZPO stellt eine begrenzte Ausnahme von diesem Grundsatz dar. Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Rechtsmittelverfahrens sollen Richterinnen und Richter eine Entscheidung, an der sie selbst mitgewirkt haben, nicht in einem späteren Rechtszug überprüfen. Darüber hinaus eröffnet § 42 Abs. 1 Fall 2, Abs. 2 und 3 ZPO jeder Partei das Recht, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Für eine analoge Anwendung des § 41 Nr. 6 ZPO fehlt es daher bereits an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet keine verfassungskonforme Auslegung dahin, dass Richterinnen und Richter auch in Fällen, in denen sie ohne Beteiligung an der angefochtenen Entscheidung mit der Sache bereits befasst waren, von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen sind. Bei der näheren Ausgestaltung denkbarer Konfliktfälle steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Er kann dem verfassungsrechtlichen Gebot, Neutralität und Distanz des Gerichts abzusichern, dadurch Rechnung tragen, dass er entweder den gesetzlichen Ausschluss anordnet oder das Ablehnungsverfahren eröffnet. Der Ausschluss kraft Gesetzes nach § 41 Nr. 6 ZPO ist geeignet, für bestimmte Fallgruppen aus sich heraus Klarheit zu schaffen. Daneben ermöglicht das Ablehnungsverfahren die Berücksichtigung von besonderen Umständen des Einzelfalls. Auf dieser Grundlage kann bei gegebenem Anlass den Belangen der Prozessparteien auch dann Rechnung getragen werden, wenn § 41 Nr. 6 ZPO nicht eingreift.      
Auch ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 42 Abs. 1 Fall 2, Abs. 2 ZPO) wäre unbegründet. Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Eine richterliche Vorbefassung, die nicht zu einem Ausschluss gemäß § 41 Nr. 4 bis Nr. 8 ZPO führt, ist in der Regel nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. In diesen Fällen kommt eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit nur im Einzelfall in Betracht, wenn besondere Umstände darauf hindeuten, dass der Richter nicht bereit ist, seine frühere Beurteilung ergebnisoffen zu überprüfen. Solche besonderen Umstände sind weder von den Parteien vorgetragen noch sonst ersichtlich.

C. Kontext der Entscheidung
Der Entscheidung des I. Zivilsenats des BGH stand zunächst entgegen, dass der 5. Senat des BAG für die vorliegende Konstellation aufgrund des von ihm angenommenen „inneren Grundes der Vorschrift des § 41 Ziff. 6 ZPO“ diese Bestimmung sinngemäß angewendet hat (BAG, Beschl. v. 07.02.1968 - 5 AR 43/68 Rn. 7). Sie solle nach Auffassung des 5. Senates des BAG verhüten, dass ein Richter, der in der unteren Instanz an der Urteilsfindung teilgenommen hat, in der höheren Instanz wiederum als erkennender Richter tätig wird, weil dann die erforderliche Gewähr für die völlige Unbefangenheit bei der Beurteilung der angefochtenen Entscheidung fehlt. Dieser Zweck des Ausschließungsgrundes gebiete es, die Anwendung des § 41 Ziff. 6 ZPO nicht auf die Fälle zu beschränken, in denen der Richter auch formell an der angefochtenen Entscheidung selbst mitgewirkt hat, sondern sie auch auf diejenigen zu erstrecken, in denen sich die sachliche Beurteilung der angefochtenen Entscheidung notwendigerweise ganz oder teilweise auf solche Rechtsfragen beziehen muss, die der Richter in der Vorinstanz schon bei der Findung eines Urteils entschieden hat. Das treffe auch dann zu, wenn er in der Vorinstanz ein Versäumnisurteil gegen den säumigen Beklagten erlassen hat. Die für die Nachprüfung des bestätigenden Urteils erheblichen rechtlichen Gesichtspunkte deckten sich teilweise mit denen, zu denen der Richter bereits in der ersten Instanz Stellung genommen hat, und zwar durch Erlass eines Urteils (BAG, Beschl. v. 07.02.1968 - 5 AR 43/68 Rn. 7). Da der I. Zivilsenat des BGH mit seiner beabsichtigten Entscheidung somit von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen wollte, hätte nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Streitfrage entscheiden müssen. Eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat ist dabei nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf die zu begründende Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält (§ 11 Abs. 3 RsprEinhG). Auf Anfrage des I. Zivilsenates des BGH (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2025 – I ZB 40/24) hat der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts jedoch geantwortet, dass er an seiner entgegenstehenden Rechtsauffassung zu § 41 Nr. 6 ZPO nicht festhält (BGH, Beschluss vom 27. März 2025 – I ZB 40/24 –, Rn. 7).

D. Auswirkungen für die Praxis
§ 41 ZPO führt die Ausschließungsgründe von der Ausübung des Richteramts abschließend auf. Schon wegen der verfassungsmäßigen Forderung, den gesetzlichen Richter im Voraus möglichst eindeutig zu bestimmen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), ist die Vorschrift einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich sind (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2012 – II ZR 280/11 –, Rn. 3, juris). Dies schließt auch den in der Praxis relativ häufig vorkommenden Fall aus, dass ein Gericht nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Rechtsmittelgericht erneut über die Sache zu befinden hat. Wie sich aus § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO ergibt, entscheidet nach Zurückverweisung der Sache ein anderer Spruchkörper nur, wenn das Rechtsmittelgericht eine diesbezügliche besondere Anordnung trifft. Fehlt eine solche, ist bei den Mitgliedern des vorbefassten Spruchkörpers, die an dem aufgehobenen Urteil mitgewirkt haben, kein Fall der unmittelbaren oder entsprechenden Anwendung des § 41 Nr. 6 ZPO gegeben. Denn nach der Vorstellung des Gesetzgebers ist die Unvoreingenommenheit des Richters grundsätzlich nicht schon dadurch gefährdet, dass er sich schon früher zu demselben Sachverhalt ein Urteil gebildet hat (BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2014 – IX ZB 65/13 –, Rn. 8, mwN.).

Kontakt
aufnehmen

Vereinbaren Sie gerne ein persönliches Beratungsgespräch mit uns,
Telefon: 0511 9999 4747 oder E-Mail: kanzlei@addlegal.de.

Telefonisch erreichen Sie uns von Montag bis Freitag
in der Zeit zwischen 8:00 Uhr und 18:00 Uhr.