BGH: Zum Beginn der Rechtsmittelfrist

13.12.2023
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1. Die Wirksamkeit einer Zustellung wird nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte.  

2. Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden.

BGH, Urteil vom 17. Oktober 2023 – X ZR 96/21

Problemstellung

Der X. Zivilsenat hatte sich mit der Frage zu befassen, wann die Rechtsmittelfrist beginnt, wenn die dem Rechtsmittelführer zugestellte Ausfertigung des Urteils einen Mangel aufweist und das Gericht auf entsprechenden Hinweis des Rechtsmittelführers diesem – nach Rückgabe der mangelbehafteten Ausfertigung – eine mit dem Original des Urteils übereinstimmende Ausfertigung zustellt.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beklagte ist Inhaberin eines angemeldeten Patents. Die Klägerin hat geltend gemacht, das Streitpatent sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in neun geänderten Fassungen verteidigt. Das Patentgericht hat das Patent insoweit für nichtig erklärt, als der Gegenstand der angegriffenen Ansprüche über die mit dem Hilfsantrag 2 verteidigte Fassung hinausgeht. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist am 2. September 2021 eine beglaubigte Abschrift des Urteils zugestellt worden, in der im Tatbestand die beiden letzten Absätze des Hilfsantrags 1 nach der (aus drei Zeilen bestehenden) Bezugnahme auf weitere Hilfsanträge stehen. Mit Schriftsatz vom Tag darauf teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Patentgericht mit, die Ausführungen auf der betreffenden Seite erweckten den Anschein, dass etwas fehle. Zugleich bat er um einen Hinweis, wie die Begründung hier zu lesen sei. Das Patentgericht hat die ursprünglich zugestellten Abschriften zurückgefordert und die Zustellung von mit dem Original übereinstimmenden Abschriften verfügt. Die berichtigte Fassung ist der Klägerin am 27. September 2021 zugestellt worden. Die Berufungsschrift der Klägerin ist am 27. Oktober 2021 beim BGH eingegangen, der gem. § 110 PatG Berufungsgericht ist.  

Die Berufung ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist von einem Monat eingelegt worden ist. Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist hat im Streitfall mit der Zustellung vom 2. September 2021 begonnen. Dem steht nicht entgegen, dass die damals zugestellte Abschrift des Urteils auf Seite 9 von der Urschrift abweicht. Die Wirksamkeit einer Zustellung wird nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als Beeinträchtigung oder Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf. Im Interesse einer klaren und praktikablen Handhabung ist hierbei auf eine typisierende Betrachtungsweise abzustellen. Als typischerweise wesentlicher Mangel ist vor allem das Fehlen ganzer Seiten anzusehen. Grundsätzlich führt danach schon das Fehlen einer einzigen Seite zur Unwirksamkeit der Zustellung. Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden. Dies ist etwa der Fall, wenn erst die berichtigte Entscheidung die Beschwer erkennen lässt oder ergibt, dass die Entscheidung überhaupt einem Rechtsmittel zugänglich ist, oder wenn erst aus dieser Fassung hervorgeht, gegen wen das Rechtsmittel zu richten ist.    Im Streitfall hat bereits die Zustellung der fehlerhaften Fassung die Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt. Der in der zugestellten Abschrift enthaltene Fehler ist nicht als typischerweise wesentlich anzusehen. Die zugestellte Abschrift enthielt alle Seiten des angefochtenen Urteils. Weder der in der Wiedergabe des Tatbestands enthaltene Fehler noch sonstige Umstände deuteten auf eine mögliche Unvollständigkeit hin. Wie die Klägerin in ihrer Eingabe an das Patentgericht zu Recht geltend gemacht hat, lässt die am 2. September 2021 zugestellte Abschrift auf Seite 9 erkennen, dass der wiedergegebene Text von dem tatsächlich gewollten abweicht. Der im Tatbestand vollständig wiedergegebene Wortlaut der Patentansprüche 1 und 5 in der Fassung von Hilfsantrag 1 wird unterbrochen durch die Bezugnahme auf den Wortlaut der weiteren Ansprüche. Dies deutet auf ein offensichtliches Schreibversehen hin, nicht aber auf eine Unvollständigkeit. Aus diesem Fehler ergaben sich auch keine Hinweise darauf, dass die zugestellte Abschrift des Urteils in weiteren Punkten von der Urschrift abweicht. Die Entscheidungsgründe lassen zweifelsfrei erkennen, dass das Patentgericht das Patent nur insoweit für nichtig erklärt hat, als es über den mit Hilfsantrag 2 verteidigten Gegenstand hinausgeht, und die Klage im Übrigen abgewiesen hat, wie dies auch im Tenor formuliert ist. Der offensichtliche Schreibfehler bei der Wiedergabe der Hilfsanträge war für diese Beurteilung nicht relevant. Die am 2. September 2021 in Gang gesetzte Berufungsfrist ist durch die Einlegung der Berufung am 27. Oktober 2021 nicht eingehalten worden.

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht erfüllt. Bei mehrfacher Zustellung einer Entscheidung kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein, wenn die erneute Zustellung durch den Gegner oder das Gericht veranlasst worden ist und das Gericht mitgeteilt hat, die erste Zustellung sei unwirksam oder gegenstandslos. Ein Prozessbevollmächtigter, der die erneute Zustellung selbst veranlasst hat, darf allerdings nicht ohne weiteres davon ausgehen, das Gericht habe die erste Zustellung als unwirksam angesehen. Im Streitfall hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die erneute Zustellung veranlasst. Die Geschäftsstelle des Patentgerichts hat bei der zweiten Zustellung zwar um Rückgabe der zuerst zugestellten Fassung gebeten. Sie hat sich aber nicht zur Wirksamkeit der ersten Zustellung verhalten. Bei dieser Ausgangslage fehlte es an einer hinreichenden Vertrauensgrundlage für die Annahme, die Berufungsfrist habe erst mit der zweiten Zustellung zu laufen begonnen.

Kontext der Entscheidung

Für die Zustellung als Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist kommt es entscheidend auf äußere Form und Inhalt der zur Zustellung verwendeten Ausfertigung an; bei Abweichungen ist die Ausfertigung maßgeblich, weil allein sie nach außen in Erscheinung tritt und die beschwerte Partei ihre Rechte nur anhand der Ausfertigung wahrnehmen kann und muss. Ist in der Ausfertigung ein Mangel enthalten, kann er sich aber auf die Urteilszustellung nicht schwerwiegender auswirken, als wenn er bereits in der Urschrift des Urteils enthalten gewesen wäre. Die Wirksamkeit der Zustellung wird nicht berührt, wenn es sich um einen Fehler handelt, der - wäre er bei der Urteilsabfassung unterlaufen - gemäß § 319 ZPO hätte korrigiert werden können. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als eine Beeinträchtigung oder gar Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf. Der Zustellungsempfänger muss aus der Ausfertigung wenigstens den Inhalt der Urschrift und vor allem den Umfang seiner Beschwer und die tragenden Entscheidungsgründe erkennen können. Das erstinstanzliche Urteil muss in der Fassung, in der es zugestellt wird, die Grundlage für das weitere prozessordnungsgemäße Handeln der Partei bilden können (BGH, Beschluss vom 24. Mai 2006 – IV ZB 47/05 –, Rn. 11). ) Ist das Urteil in seiner der Partei zugestellten Ausfertigung nicht klar genug, um die Grundlage für das weitere Handeln der Parteien zu bilden, beginnt mit der Bekanntmachung des Berichtigungsbeschlusses eine neue Rechtsmittelfrist zu laufen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Verfahrensregeln nicht um ihrer selbst Willen, sondern wesentlich auch im Interesse der Beteiligten geschaffen werden. Der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in einer Weise gehindert werden, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist. Der Irrtum eines Gerichts darf sich nicht dahin auswirken, dass Rechtsmittelmöglichkeiten erschwert oder ausgeschlossen werden (BGH, Beschluss vom 17. Januar 1991 – VII ZB 13/90 –, Rn. 12).

Auswirkungen für die Praxis

Die Berichtigung eines Urteils gemäß § 319 ZPO wegen offenbarer Unrichtigkeit hat grundsätzlich keinen Einfluss auf Beginn und Lauf der Rechtsmittelfrist. Gegen das berichtigte Urteil findet nur das gegen das ursprüngliche Urteil zulässige Rechtsmittel statt, und die Frist zu seiner Einlegung läuft (schon) von der Zustellung der unberichtigten Urteilsfassung an. Den Parteien wird zugemutet, im Rahmen ihrer Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels eine offenbare Unrichtigkeit des Urteils zu berücksichtigen, schon bevor dieses gemäß § 319 ZPO berichtigt wird (BGH, Beschluss vom 9. November 2016 – XII ZB 275/15 –, Rn. 6).

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