BGH: Zum Feststellungsinteresse gem. § 256 ZPO
Der für die Bejahung des nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderlichen Feststellungsinteresses ausreichenden Erwartung, der Beklagte werde bereits auf ein Feststellungsurteil hin leisten, steht es nicht entgegen, dass eine erneute gerichtliche Inanspruchnahme des Beklagten zur Durchsetzung der aus dem Feststellungsurteil resultierenden Forderungen nicht ausgeschlossen werden kann.
BGH, Urteil vom 22. Mai 2024 – IV ZR 124/23
- Problemstellung
Bei der Feststellungsklage kann für die Bejahung des nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderlichen Feststellungsinteresses die Erwartung ausreichen, der Beklagte werde bereits auf ein Feststellungsurteil hin leisten. Der IV. Zivilsenat hatte zu entscheiden, ob dem entgegensteht, dass eine erneute gerichtliche Inanspruchnahme des Beklagten zur Durchsetzung der aus dem Feststellungsurteil resultierenden Forderungen nicht ausgeschlossen werden kann.
- Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger als Rechtsnachfolger seiner verstorbenen Mutter auf von ihm per E-Mail und Telefax eingereichte Anträge Behandlungskosten zu erstatten hat. Die Beklagte ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die aufgrund ihrer Satzung Fürsorgepflichten in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen erfüllt. Ab Anfang 2020 reichte der Kläger im Namen seiner Mutter Erstattungsanträge unter Verwendung des Antragsvordrucks der Beklagten jeweils per E-Mail mit einem Anhang im PDF-Format und per Telefax ein. Die Beklagte teilte dem Kläger mit, dass eine Einreichung der Erstattungsunterlagen per E-Mail oder Telefax nicht zulässig sei und erbat eine Einreichung der Unterlagen mit einem mit Originalunterschrift versehenen Vordruck auf dem Postweg an ihre zentrale Posteingangsstelle oder elektronisch über die App "KVB Erstattung". Der Kläger ist der Auffassung, die Einreichung der Erstattungsanträge per E-Mail oder Telefax sei zulässig. Das Landgericht hat seine Klage auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm im Hinblick auf die für seine Mutter eingereichten Erstattungsanträge Erstattungsbeträge zu gewähren und die festgesetzten Erstattungsbeträge an ihn auszuzahlen, abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung ist erfolglos geblieben. Die Klage sei unzulässig. Dem Kläger fehle es jedenfalls an dem nach § 256 ZPO erforderlichen Feststellungsinteresse, weil ihm eine bessere Rechtsschutzmöglichkeit zustehe. Ihm sei die Klage auf Leistung möglich und zumutbar. Den eingereichten Erstattungsanträgen lägen konkrete Arzt- und Gebührenrechnungen zugrunde, aufgrund derer der geltend gemachte Zahlungsanspruch durch einfache Rechenoperation bestimmt werden könne. Ein Feststellungsinteresse bestehe auch nicht ausnahmsweise, weil von der Beklagten als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erwarten sei, dass eine Erstattung auch ohne Leistungstitel erfolgen würde. Zwar sei grundsätzlich bei einer Körperschaft des öffentlichen Rechts von einer Erfüllungsbereitschaft nach einem rechtskräftigen Feststellungsurteil auszugehen. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass der Rechtsstreit wegen der Höhe der etwaigen Forderungen fortgesetzt werde.
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Die Feststellungsklage ist zulässig. Gemäß § 256 Abs. 1 ZPO kann Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses erhoben werden, wenn der Kläger ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt wird. Diese Voraussetzungen, die in jeder Lage des Verfahrens, auch in der Revisionsinstanz, von Amts wegen zu prüfen sind, sind gegeben. Die vom Kläger begehrte Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm im Hinblick auf die im Klageantrag näher bezeichneten Erstattungsanträge die tarifgemäßen Leistungen zu gewähren, stellt ein nach § 256 Abs. 1 ZPO feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dar. Gegenstand des Antrags ist nicht die abstrakte Vorfrage, ob die Einreichung der Erstattungsanträge per E-Mail oder Telefax nach den Satzungsbestimmungen der Beklagten zulässig war, bei der es sich für sich genommen um kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis handelt, sondern die Feststellung von Inhalt und Umfang der Leistungspflicht der Beklagten. Diese kann Gegenstand der Feststellung sein.
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse sei nicht gegeben. Die Zulässigkeit der Feststellungsklage scheitert entgegen seiner Auffassung nicht am Vorrang der Leistungsklage. Ist dem Kläger eine Klage auf Leistung möglich und zumutbar und erschöpft sie das Rechtsschutzziel, fehlt ihm zwar regelmäßig das Feststellungsinteresse, weil er im Sinne einer besseren Rechtsschutzmöglichkeit den Streitstoff in einem Prozess klären kann. Die auf Feststellung des Anspruchsgrundes gerichtete Feststellungsklage ist dann unzulässig. Eine allgemeine Subsidiarität einer Feststellungsklage gegenüber einer Leistungsklage besteht aber nicht. Vielmehr bleibt die Feststellungsklage dann zulässig, wenn ihre Durchführung unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit eine sinnvolle und sachgemäße Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte erwarten lässt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die beklagte Partei die Erwartung rechtfertigt, sie werde auf ein rechtskräftiges Feststellungsurteil hin ihren rechtlichen Verpflichtungen nachkommen, ohne dass es eines weiteren, auf Zahlung gerichteten Vollstreckungstitels bedarf; der Bundesgerichtshof hat das bereits mehrfach angenommen, wenn es sich bei der beklagten Partei um eine Bank, eine Behörde oder ein großes Versicherungsunternehmen handelt (Nachweise in Rn. 15). Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte diese Erwartung nicht ebenfalls rechtfertigt. Anders als das Berufungsgericht meint, steht es der genannten Erwartung insbesondere nicht entgegen, dass eine erneute gerichtliche Inanspruchnahme der Beklagten zur Durchsetzung der aus dem Feststellungsurteil resultierenden Forderungen nicht ausgeschlossen werden kann, weil sich die Parteien bislang zur Frage der Erstattungsfähigkeit der Aufwendungen nicht erklärt haben. Es ist nicht festgestellt und auch nicht vorgetragen, dass sich in der Vergangenheit Streitigkeiten hinsichtlich der Höhe der tariflichen Erstattungen ergeben hätten. Den Parteien geht es vielmehr allein darum, die Frage geklärt zu wissen, ob die Beklagte die Erstattungsanträge zu bearbeiten und Leistungen zu erbringen hat, obwohl sie vom Kläger nebst den zugehörigen Belegen weder auf dem Postweg noch in einem von der Beklagten freigegebenen elektronischen Antragsverfahren eingereicht worden sind. Abweichendes ergibt sich nicht aus dem Senatsurteil vom 13. April 2022 (BGH, Urteil vom 13. April 2022 – IV ZR 60/20 –, Rn. 16). Der Senat hat dort ausgeführt, dass die Zulässigkeit der gegen einen Versicherer erhobenen Feststellungsklage nicht mit der Erwartung bejaht werden kann, dieser werde auf ein entsprechendes Feststellungsurteil seinen rechtlichen Verpflichtungen nachkommen, wenn er ausdrücklich die Zulässigkeit der Klage in Abrede stellt und die Ansprüche der Höhe nach bestreitet. Diese Erwägungen lassen sich nicht auf Fälle übertragen, in denen - wie hier - ein künftiger Streit der Parteien über die Anspruchshöhe lediglich nicht ausgeschlossen werden kann. Entscheidend ist nicht, ob eine erneute Inanspruchnahme der Gerichte zur Durchsetzung des Anspruchs nur möglich erscheint, sondern ob bereits ersichtlich ist, dass der Streit der Parteien zu einem weiteren Prozess - einer Leistungsklage des Klägers - führen muss. Es kommt demnach nicht darauf an, ob die Anspruchshöhe offensichtlich und ohne konkrete Anknüpfungspunkte für eine abweichende Beurteilung feststeht. Entscheidend ist vielmehr, ob die beklagte Partei die Erwartung rechtfertigt, die gerichtliche Entscheidung auch ohne den Zwang der Rechtskraft anzuerkennen und zum Anlass von Maßnahmen zu nehmen, die im Interesse des Feststellungsklägers liegen. Der vom Berufungsgericht angeführte Umstand, dass angesichts der Komplexität der Berechnung der Forderungshöhe mit zahlreichen nach dem Tarif der Beklagten zu berücksichtigenden Faktoren, ein Streit der Parteien über die Höhe der Forderung nicht ausgeschlossen werden könne, spricht daher nicht gegen, sondern für die Anerkennung eines Feststellungsinteresses. Denn bei der Beurteilung der Frage, ob die Erhebung einer Feststellungsklage gegen eine Körperschaft des öffentlichen Rechts - wie hier - ein sachgerechter Weg ist, ist auch zu berücksichtigen, dass die Formulierung eines Leistungsantrags mit dem Ziel, ein vollstreckungsfähiges Urteil zu erwirken - gerade auch in der hier zu beurteilenden Konstellation -, gewisse Schwierigkeiten bereitet.
Dass zwischen den Parteien ein grundsätzliches Zerwürfnis bestünde, welches Zweifel an einer Beilegung des Streits der Parteien auch ohne einen auf Zahlung gerichteten Vollstreckungstitel begründen könnte, ist nicht festgestellt, von der Beklagten nicht eingewandt und im Übrigen auch nicht ersichtlich. Die Annahme des Berufungsgerichts, dem Kläger gehe es nicht lediglich um eine schnelle und effektive Durchsetzung der Forderungen, beruht auf Spekulationen, welche die erforderlichen Feststellungen nicht ersetzen können. Soweit das Berufungsgericht seine Annahme damit begründet hat, dass der Kläger an der von der Beklagten beanstandeten Form einer Einreichung der Erstattungsanträge in Kenntnis deren Rechtsauffassung festgehalten hat, obwohl ein anderes, auf schnelle und effektive Durchsetzung der Forderung gerichtetes Vorgehen für ihn ohne nennenswerte Aufwendungen möglich gewesen wäre, hat es zudem aus dem Blick verloren, dass der Kläger gerade die Möglichkeit einer eigenen Berechnung der Forderungshöhe mangels Kenntnis des seiner Mutter nach Satzung und Tarif der Beklagten anzuwendenden Erstattungsbetrages in Abrede gestellt hat. Da mithin bereits der vom Berufungsgericht angenommene Vorrang der Leistungsklage vor der Feststellungsklage nicht besteht, kann das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse auch nicht mit der Begründung verneint werden, der Kläger habe die Möglichkeit gehabt, im Wege einer Stufenklage sogleich auf Leistung zu klagen.
- Kontext der Entscheidung
Der Senat grenzt sich ausdrücklich – und bereits im Leitsatz - von seiner bisherigen Rechtsprechung ab. Bisher galt: Ist dem Kläger eine Klage auf Leistung möglich und zumutbar und erschöpft sie das Rechtsschutzziel, fehlt ihm zwar regelmäßig das Feststellungsinteresse, weil er im Sinne einer besseren Rechtsschutzmöglichkeit den Streitstoff in einem Prozess klären kann. Die auf Feststellung des Anspruchsgrundes gerichtete Feststellungsklage ist dann unzulässig. Eine allgemeine Subsidiarität einer Feststellungsklage gegenüber einer Leistungsklage besteht aber nicht. Trotz möglicher Leistungsklage kann das Feststellungsinteresse bejaht werden, wenn schon ein Feststellungsurteil zu einer endgültigen Streitbeilegung führt, weil der Beklagte erwarten lässt, dass er bereits auf ein Feststellungsurteil hin leisten wird. So kann von einem beklagten Versicherer erwartet werden, dass er auf ein entsprechendes rechtskräftiges Feststellungsurteil hin seinen rechtlichen Schadensersatzverpflichtungen nachkommt, ohne dass es eines weiteren, auf Zahlung gerichteten Vollstreckungstitels bedarf. Die genannte Erwartung ist aber nicht gerechtfertigt, wenn der Beklagte ausdrücklich die Zulässigkeit der Feststellungsklage in Abrede stellt und die Ansprüche der Höhe nach bestreitet (BGH, Urteil vom 13. April 2022 – IV ZR 60/20 –, Rn. 16, mwN.). Dies soll nicht mehr generell gelten. Das Berufungsgericht hatte die Zulässigkeit der Feststellungsklage daran scheitern lassen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Rechtsstreit wegen der Höhe der etwaigen Forderungen fortgesetzt werde (Rn. 9). Dem tritt der IV. Zivilsenat entgegen: „Anders als das Berufungsgericht meint, steht es der genannten Erwartung insbesondere nicht entgegen, dass eine erneute gerichtliche Inanspruchnahme der Beklagten zur Durchsetzung der aus dem Feststellungsurteil resultierenden Forderungen nicht ausgeschlossen werden kann, weil sich die Parteien bislang zur Frage der Erstattungsfähigkeit der Aufwendungen nicht erklärt haben.“ (BGH, Urteil vom 22. Mai 2024 – IV ZR 124/23 –, Rn. 16). Es komme demnach - anders als das Berufungsgericht meint - nicht darauf an, ob die Anspruchshöhe offensichtlich und ohne konkrete Anknüpfungspunkte für eine abweichende Beurteilung feststehe. Entscheidend sei vielmehr, ob die beklagte Partei die Erwartung rechtfertigt, die gerichtliche Entscheidung auch ohne den Zwang der Rechtskraft anzuerkennen und zum Anlass von Maßnahmen zu nehmen, die im Interesse des Feststellungsklägers liegen (BGH, Urteil vom 22. Mai 2024 – IV ZR 124/23 –, Rn. 18). Das Reichsgericht, dessen Urteil vom 13. Mai 1930 diese Gedanken teilweise wörtlich entnommen sind, hat hinzugefügt: „In besonderem Maße sind diese Grundsätze wohlwollender Auslegung des § 256 ZPO dann zur Anwendung gelangt, wenn dem Beamten als Feststellungskläger das Reich, der Staat oder eine sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts als Prozesspartei gegenüber stand.“ (RG, Urteil vom 13. Mai 1930 – III 291/29 –, RGZ 129, 31ff., 34). Daraus wird deutlich, dass ein Sonderrechtsverhältnis der Prozessparteien Voraussetzung für die „wohlwollende Auslegung“ des § 256 ZPO ist. Nur wenn ein solches Sonderrechtsverhältnis der Parteien vorliegt, kann es entscheidend darauf ankommen, „ob eine erneute Inanspruchnahme der Gerichte zur Durchsetzung des Anspruchs nur möglich erscheint, sondern ob bereits ersichtlich ist, dass der Streit der Parteien zu einem weiteren Prozess - einer Leistungsklage des Klägers - führen muss.“ (BGH, Urteil vom 22. Mai 2024 – IV ZR 124/23 –, Rn. 17). Ist ein Versicherer Prozessgegner, kann ein zur Zulässigkeit der Feststellungsklage führendes Sonderrechtsverhältnis nur angenommen werden, wenn der Versicherungsnehmer seinen Versicherer in Anspruch nimmt. Machen dagegen Dritte Schadensersatzansprüche gegen dem Versicherungsnehmer, dem der Versicherer Deckung zu gewähren hat, geltend oder besteht ein Direktanspruch des Dritten gegen den Versicherer, ist die Feststellungsklage weiterhin nicht zulässig, wenn Grund und Höhe der klägerischen Forderung streitig sind.
- Auswirkungen für die Praxis
Grundsätzlich fehlt zwar das Feststellungsinteresse, wenn dasselbe Ziel mit einer Leistungsklage erreicht werden kann. Ein Kläger muss aber die Klage nicht in eine Leistungs- und Feststellungsklage aufspalten, wenn ein Schaden schon bei Klageerhebung entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten ist. Denn es besteht keine allgemeine Subsidiarität der Feststellungs- gegenüber der Leistungsklage. Deshalb ist auch dann, wenn die Möglichkeit einer Leistungsklage besteht, eine Feststellungsklage zulässig, wenn die Durchführung des Feststellungsverfahrens unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte führt. Dementsprechend ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine Feststellungsklage in vollem Umfang erhoben werden kann, wenn eine Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Daher ist der Kläger nicht gehalten, seine Klage in eine Leistungs- und in eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn bei Klageerhebung ein Teil des Schadens schon entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten ist. Einzelne bei Klageerhebung bereits entstandene Schadenspositionen stellen lediglich einen Schadensteil in diesem Sinne dar (BGH, Urteil vom 19. April 2016 – VI ZR 506/14 –, mwN.).
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