BGH: Zur Wiedereinsetzung

23.10.2025
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1. Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn die Ursächlichkeit des Organisationsmangels für das Versäumen der Frist nicht ausgeräumt ist. Hat ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Berufungsbegründungsfrist ergriffen, zu denen auch die Eintragung einer grundsätzlich etwa einwöchigen Vorfrist gehört, geht es zu seinen Lasten, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre.
2. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Ein dem Rechtsanwalt insoweit anzulastender Fehler wird nicht dadurch rechtlich unerheblich, dass er bei ordnungsgemäßer Durchführung der Ausgangskontrolle am Tag des Fristablaufs noch hätte behoben werden können.
BGH, Beschluss vom 16. September 2025 – VI ZB 2/25

A. Problemstellung
Mit dem für einen Wiedereinsetzungsantrag gegen den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist notwendigen Vortrag hatte sich der VI. Zivilsenat auseinanderzusetzen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegen das ihm am 18. Oktober 2024 zugestellte Urteil des Amtsgerichts hat der Kläger fristgerecht Berufung eingelegt. Nach Hinweis des Landgerichts auf die abgelaufene Frist zur Begründung der Berufung hat der Kläger mit Schriftsatz vom 3. Januar 2025 die Berufung begründet und zugleich die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt. Die Frist zur Berufungsbegründung sei ordnungsgemäß sowohl im elektronischen als auch im Papierkalender seines Instanzbevollmächtigten für den 18. Dezember 2024 eingetragen gewesen. In der Kanzlei seines Bevollmächtigten bestehe die Anweisung, dass die sachbearbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte selbständig Fristen bearbeite und diese nach Erledigung auch streiche. Im Papierkalender erfolge diese Erledigung dadurch, dass die Frist nach Erstellung des jeweiligen Schriftsatzes inklusive Versendung und Überprüfung der erfolgreichen Versendung abgehakt werde. Am späten Nachmittag eines jeden Arbeitstages werde die Erledigung von fristgebundenen Vorgängen durch die jeweils anwesende Mitarbeiterin anhand des elektronischen Fristenkalenders und des Papierkalenders nochmals selbständig überprüft. Dabei sei anhand der betreffenden Akte zu kontrollieren, ob der fristwahrende Schriftsatz tatsächlich erstellt und erfolgreich versandt worden sei. Bei der Fristenkontrolle am 18. Dezember 2024 habe die erfahrene und zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte Frau B. festgestellt, dass die Frist zur Berufungsbegründung bereits gestrichen worden sei. Sie habe es dann versäumt, anhand der Akte zu überprüfen, ob der fristwahrende Schriftsatz tatsächlich erstellt und erfolgreich versendet worden sei. Zur Glaubhaftmachung hat der Kläger eine eidesstattliche Versicherung von Frau B. sowie eine Kopie aus dem Papierkalender vom 18. Dezember 2024 vorgelegt.
Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Der Wiedereinsetzungsantrag sei unbegründet, weil der Kläger schon nicht vorgetragen habe, dass in der Kanzlei seines Instanzbevollmächtigten die grundsätzliche Weisung bestanden habe, Vorfristen zu notieren. Dieses Organisationsverschulden sei kausal für das Versäumen der Berufungsbegründungsfrist gewesen, weil es zumindest möglich sei, dass die zusätzliche Fristensicherung der Vorfrist gegriffen, die Kanzleiangestellte die Akte dem Rechtsanwalt rechtzeitig vorgelegt und dieser die Begründungsschrift fristgerecht angefertigt und seinen Angestellten mit der Weisung übergeben hätte, sie bei Gericht einzureichen.
Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Hat eine Partei die Berufungsbegründungsfrist versäumt, ist ihr nach § 233 Satz 1 ZPO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt; verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers beruht. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass sein Prozessbevollmächtigter die Notierung von Vorfristen angeordnet hatte. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung.    
Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass sein Prozessbevollmächtigter diese Vorgaben bei der Organisation seiner Kanzlei eingehalten oder eine entsprechende konkrete Einzelanweisung für den vorliegenden Fall erteilt hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Notierung einer Vorfrist die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden wäre. Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn die Ursächlichkeit des Organisationsmangels für das Versäumen der Frist nicht ausgeräumt ist. Hat ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Berufungsbegründungsfrist ergriffen, geht es zu seinen Lasten, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre. Bei auf die Vorfrist bezogen unterstellt ordnungsgemäßem Vorgehen wären die Akten dem Prozessbevollmächtigten des Klägers rechtzeitig vorgelegt worden. In diesem Fall hätte der Prozessbevollmächtigte des Klägers rechtzeitig bemerkt, dass eine Berufungsbegründung noch nicht erstellt war. Ein Rechtsanwalt hat eine ihm aufgrund einer Vorfrist vorgelegte und damit in seinen persönlichen Verantwortungsbereich (zurück-)gelangte Fristsache rechtzeitig zu bearbeiten und für die Weiterleitung der bearbeiteten Sache in der Weise Sorge zu tragen, dass der entsprechende Schriftsatz fristgerecht bei Gericht eingeht. Dieser Pflicht wird er nicht durch eine weitere, auf den Tag des Fristablaufs notierte Frist enthoben. Hätte mithin der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach Vorlage der Akten zur Vorfrist die Berufungsbegründung fristgerecht fertiggestellt und einer Büroangestellten mit der Weisung übergeben, sie bei Gericht einzureichen, wäre die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden. Das wäre im Übrigen auch dann denkbar, wenn der Rechtsanwalt bei Vorlage der Akte zur Vorfrist aus besonderen Gründen die Wiedervorlage der Akte am letzten Tag der laufenden Frist verfügt hätte. Denn in diesem Falle wäre im Büro des Prozessbevollmächtigten möglicherweise aufgedeckt worden, dass die unter Umständen bereits zu diesem Zeitpunkt erfolgte Streichung der für den 18. Dezember 2024 im Kalender eingetragenen Berufungsbegründungsfrist auf einem Versehen beruhte.

C. Kontext der Entscheidung
Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (BGH Beschl. v. 24.10.2023 – VI ZB 53/22). In dem Unterlassen der Weisung, eine Vorfrist im Fristenkalender zu notieren, liegt ein einer Prozesspartei nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden ihres Verfahrensbevollmächtigten. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Verfahrenshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies bei Rechtsmittelbegründungen regelmäßig der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient der Sicherstellung, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (BGH, Beschl. v. 21.6.2023 – XII ZB 418/22). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zu wahrenden Frist kommt nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt bei pflichtgemäßer Notierung einer Vorfrist die Fehlerhaftigkeit der notierten Frist hätte erkennen und die Frist wahren können (BGH, Beschl. v. 13.9.2018 – V ZB 227/17). Die Anforderungen an eine wirksame Organisation des Fristenwesens und deren Darlegung im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags sind bekannt und müssen einem Rechtsanwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein. Insoweit fehlender Vortrag erlaubt den Schluss darauf, dass entsprechende Sicherungsvorkehrungen gefehlt haben (BGH, Beschluss vom 15.02.2022 – VI ZB 37/20 –, Rn. 10).

D. Auswirkungen für die Praxis
Nach den Grundsätzen der überholenden Kausalität schließt ein früheres Verschulden einer Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten die Wiedereinsetzung dann nicht aus, wenn dessen rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, der Partei oder ihrem Vertreter nicht zuzurechnendes Ereignis entfällt. Der BGH hat dies etwa für die zweite Stufe der Fristenkontrolle - die allabendliche Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze durch einen Abgleich mit dem Fristenkalender - im Verhältnis zur ersten Stufe der Fristenkontrolle, welche die Streichung von Fristen im Kalender selbst betrifft, angenommen. Denn die im Rahmen der Fristenkontrolle auf der zweiten Stufe gebotenen Maßnahmen sollen gerade individuelle Fehler auf der ersten Stufe beheben (BGH, Beschluss vom 22.11.2022 - XI ZB 13/22, Rn. 15 ff.). Diese Rechtsprechung lässt sich jedoch nicht auf die Fallgestaltung der fehlenden Arbeitsanweisung zur Notierung einer Vorfrist übertragen. So hat der XII. Zivilsenat für den vergleichbaren Fall einer unterlassenen Eintragung der Beschwerdebegründungsfrist im Fristenkalender, die auf einem Fehler einer Kanzleimitarbeiterin beruhte, bereits entschieden, dass diese die (Mit-)Ursächlichkeit der unzureichenden Kanzleiorganisation im Zusammenhang mit der versäumten Arbeitsanweisung zur Notierung einer Vorfrist nicht entfallen lässt. Denn die ordnungsgemäße Bearbeitung der Sache nach Vorlage der Akte zur Vorfrist hätte eine fristgerechte Einreichung der Beschwerdebegründung sicherstellen können, ohne dass es auf die versäumte Eintragung der Beschwerdebegründungsfrist im Fristenkalender angekommen wäre (BGH, Beschluss vom 21.06.2023 – XII ZB 418/22 –, Rn. 17). Auch im besprochenen Fall hätte die ordnungsgemäße Bearbeitung der Sache nach Vorlage der Akte zur Vorfrist eine fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung sicherstellen können, ohne dass es auf die Ausgestaltung der Ausgangskontrolle beim Prozessbevollmächtigten angekommen wäre (BGH, Beschluss vom 16.09.2025 – VI ZB 2/25 –, Rn. 15).

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